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wieder im Haus verschwand. Gerade noch konnte sie die Tür schließen, an der der Tiger nun schnupperte.

      Er witterte Wasser. Er hatte Durst. Mit seiner Pfote kratzte er an der Tür, die aber geschlossen blieb. Dann drehte er sich plötzlich um und lief weiter der Straße entlang.

      Weiter hinten, am Straßenende, tauchte nun ein

      VW-Golf auf. Der Fahrer hatte das Tier gesehen, als es seinen Weg fortsetzte, und konnte kaum glauben, was er da sah. Er stoppte sein Fahrzeug und sperrte die Türen hastig mit der Zentralverriegelung zu. Dann schüttelte er den Kopf und sprach leise zu sich selbst.

      »Als ob ein Tiger die Autotür öffnen könnte. Ich muss die Polizei anrufen. Anonym! Wenn ich denen erzähle, dass hier ein Tiger auf der Straße rumläuft, veranlassen die eine Blutprobe. Vom Kegelabend gestern habe ich bestimmt noch Restalkohol im Blut. Die nehmen mir dann glatt den Lappen weg!«

      Der Tiger unterdessen setzte seinen Suchgang fort. Er hatte Durst. Er hielt weiter Ausschau nach einer Gelegenheit, etwas Wasser zu schlürfen. Doch es hatte seit Tagen nicht geregnet und so war weit und breit keine Pfütze in Sicht.

      Als er an dem Haus Nr. 15 vorbei trottete, kam eine Deutsche Dogge aus dem Garten um die Hausecke gelaufen, das Maul fletschender Weise geöffnet und die Zähne freigelegt. Jeder Mensch hätte sich bei diesem Anblick zutiefst erschrocken. Sein wildes Gebell jedoch zeigte beim Tiger keine Reaktion. Ein moderner Eisenstabzaun trennte die beiden.

      Obwohl die Dogge, ein Rüde mit 80 Zentimeter Widerristhöhe, fast genauso groß wie der Tiger war, hätte dieser ihn wohl mit einem Biss erledigt. Der Tiger schaute ihn nur kurz mit einem fast mitleidigen Blick an und kehrte ihm den Rücken.

      Beide hätten wohl über den Zaun springen können. Die Dogge gewiss mit Anlauf. Der Tiger sicher aus dem Stand. Aber beide wollten dies anscheinend nicht. Der Hund wohl, weil er wusste, dass ihn der Tiger mit einem Biss in die Kehle hätte töten können. Der Tiger wusste das sicher auch, doch er wollte es nicht. Er hatte keinen Hunger. Er hatte Durst. Und so setzte er seinen Weg auf der Suche nach durststillendem Nass fort.

      Zum Glück waren zu solch früher Stunde keine Menschen auf der Straße unterwegs. So sahen den Tiger allerdings auch nur einige Menschen.

      Die Sonne stand nun schon hoch am Himmel und es wurde noch heißer.

      Der Fahrer des Golfs hatte mittlerweile mit seinem Handy die 110 gewählt.

      »Polizeirevier 11. Schneider. Was kann ich für Sie tun?«

      »Mein Name ist Peter Hubert. Ich fahre gerade die Bahnhofstraße in Richtung Innenstadt. Hören Sie zu. Ich bin vollkommen nüchtern. Hier läuft ein ausgewachsener Tiger frei herum.«

      Er musste es noch zweimal wiederholen, erst dann glaubte ihm der Beamte. Nachdem er noch die genaue Lage durchgegeben hatte und die Personalien notiert waren, wollte man noch wissen, was der Tiger zurzeit mache.

      Leicht ungehalten gab der Zeuge seinen Kommentar.

      »Ich glaube, er ist auf dem Weg zu Ihnen. Kommen Sie ihm doch etwas entgegen.«

      Verärgert klappte er sein Handy zu und ließ seinen Ärger lautstark heraus.

      »Was macht der Tiger jetzt? Was soll er schon machen? Er tigert halt so rum. Die glauben es mir wohl nicht!«

      Der Tiger setzte unterdessen seinen Weg fort. Nach weiteren hundert Metern witterte der Tiger hinter einer Buchsbaumhecke, vor dem Haus Nr. 38, einen kleinen Teich.

      Mit einem Satz sprang er über die halbhohe Hecke und schlich sich an das erfrischende Nass.

      Er schaute sich nach allen Seiten um und berührte mit einer Tatze die Wasseroberfläche, so als wolle er testen, ob sich auch keine Falle im Wasser befindet. Dann trank er genüsslich, indem er seine Zunge immer wieder ins Wasser schnellen ließ.

      Vom Hause aus wurde er dabei beobachtet. Der vierjährige Sohn der Familie Torschack hatte die Szene beobachtet und kam nun aufgeregt zu seiner Mutter gelaufen, die gerade in der Küche einen Obstboden mit frischen Erdbeeren belegte.

      »Mama, Mama, da draußen ist ein Löwe. Der frisst unsere Goldfische!«

      »Kevin! Was hat die Mama gesagt? Du sollst nicht so flunkern! Sonst glaubt man dir nicht, wenn wirklich mal ein Löwe bei uns im Garten steht.«

      »Aber da ist wirklich ein Löwe!«

      »Jetzt aber Schluss mit dem Unsinn, sonst gibt es nachher keine Gutenachtgeschichte! Und außerdem hast du versprochen, den Müllbeutel rauszubringen. Das kannst du jetzt mal gleich erledigen. Ok?«

      »Und der Löwe tut mir nichts?«

      »Kevin! Nein! Der tut dir nichts, weil er gar nicht da ist.«

      Kevin war verunsichert. Hatte er sich getäuscht? Hatte er ein Tier gesehen, was gar nicht da war? Das musste sich ja draußen aufklären. Er wollte nachschauen.

      Kevin schnappte sich den Müllbeutel und ging auf den Flur hinaus. Gerade wollte die Haustür öffnen. In diesem Moment kam die 14-jährige Tochter des Hauses die Treppe heruntergestürmt, packte ihren kleinen Bruder und zog ihn zurück in die Küche.

      »Mama, da ist ein Tiger in unserem Vorgarten und trinkt Wasser aus dem Teich!«

      »Seid ihr noch ganz gesund? Ich backe gerade Kuchen und könnte etwas Hilfe gebrauchen. Ihr habt nichts Besseres zu tun, als mich mit einem Löwen oder T …«

      Sie sah an dem entschossenen Gesichtsausdruck der beiden, dass es sich doch um eine ernste Sache handeln musste. Sie lief ins Wohnzimmer und schaute aus dem Fenster. Jetzt war sie aufgeregt und zitterte etwas. Sofort griff sie nach dem Telefon und rief die Polizei an.

      Nachdem Vorstellungsritual wollte sie den Grund des Anrufens nennen, doch sie wurde unterbrochen.

      »Ja, Frau Torschack. Wir wissen Bescheid. Es sind mittlerweile schon fünf Anrufe eingegangen. Die Kollegen sind unterwegs. Gehen Sie nicht aus dem Haus!«

      In der Tat kamen fünf Minuten später nacheinander Polizei, Technisches Hilfswerk und Feuerwehr am Haus Nr. 38 an. Die Straße wurde weitläufig abgeriegelt. Es fanden sich Scharfschützen des LKA ein, die mit ihren automatischen Gewehren mit Präzisionsfernrohr und Laserpoint in Stellung gingen und den Tiger von den Nachbargrundstücken aus ins Visier nahmen.

      Dass die Beamten so schnell vor Ort waren, war einem Zufall zu verdanken. In einem Nachbarort, nur zehn Kilometer entfernt, wurde gerade ein Seminar in psychische und psychosomatische Opferbetreuung für eine Sondereinsatzgruppe des LKA abgehalten. Da die Truppe immer einsatzbereit sein muss, waren auch sämtliches Equipment und alle Waffen vor Ort.

      Der Tiger betrachtete sich das ganze Treiben um ihn herum und legte sich, alle viere von sich streckend, aufs Gras. Er sah die Menschen um sich herum genau, es erschreckte ihn jedoch nicht. Nun war er nicht mehr durstig. Nun war er müde und wollte sich ausruhen.

      Dann, nach endlos langer Zeit erschien ein Tierarzt. Man hatte mit Dr. Kunze einen Experten, der sich mit exotischen Raubkatzen auskannte, schnell übers Internet ausfindig gemacht und angefordert. Dr. Kunze hatte lange Zeit mit seiner Familie in verschiedenen Ländern Afrikas gelebt und sich auf Großkatzen spezialisiert, über die er auch seine Doktorarbeit verfasste. Vor einigen Jahren, als seine Frau an einer seltenen Hautkrankheit litt und die Sonne Afrikas nicht mehr ertrug, waren sie ins weniger sonnenreiche Deutschland zurückgekehrt. Seit dem war er Leiter der stationären Abteilung für Großtiere der örtlichen Veterinärklinik.

      Nach einem kurzen Gespräch mit dem ebenfalls erschienen Einsatzleiter der Schutzpolizei des Kommissiariats 11 entschied der Arzt, den Tiger nicht mit einem Betäubungsgewehr, sondern mit einem Blasrohrpfeil zu betäuben, da dieses wesentlich schonender für das Tier sei. Voraussetzung war, dass er nahe genug an das Tier herankam.

      Der Einsatzleiter war zwar der Meinung, dass man kein Risiko eingehen sollte, da ihm der Tiger aber recht friedlich erschien, stimmte er dem Arzt schließlich zu.

      »Gut Doc. Aber Sie wissen schon, welches Risiko Sie da eingehen!?«

      »Ich

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