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Anna musste sich geradezu zwingen, dieses Wort auszusprechen und redete dann schnell weiter. Einer könnte ja mal krank werden. Und dann schreibt ihr mir nicht, weil ihr's vergesst und die anderen in der Nähe sind oder weil ihr denkt, es ist nichts. Und dann kann ja doch mal was sein.

      Natürlich benachrichtigen wir dich, sagte die Mutter zerstreut. Hör mal, wie schön der Vogel singt. Sie deutete ins Geäst.

      Eine Amsel. Haben wir auch in der Stadt viel. Anna war unzufrieden mit sich, weil sie nicht gesagt hatte, was sie sagen wollte.

      Wie schön die Amsel singt, wiederholte die Mutter andächtig. Hast du schon mal eine Nachtigall gehört?

      Eine Nachtigall? Ja. Sogar mitten in der Stadt. Ich habe mal in der Nacht auf eine S-Bahn gewartet. Da hörte ich Nachtigallen oder Sprosser.

      Was ist der Unterschied? erkundigte sich die Mutter.

      Im Lied der Sprosser soll was fehlen. Man sagt, die Sprosser sind die Nachtigallen des Nordens.

      Dann sind es womöglich Sprosser gewesen, die wir in der Eilenriede gehört haben. Die Mutter war enttäuscht.

      Eilenriede. Dieses Wort hatte für Anna und ihre Geschwister einen besonderen Klang bekommen. Von dem hannoverschen Stadtpark hatte die Mutter oft erzählt. Die Spaziergänge mit ihrem Vater durch die Eilenriede gehörten zu den Lieblingserinnerungen der Mutter, und indem sich Anna in ihrer Vorstellung einen eigenen Stadtpark geschaffen hatte, glaubte sie, die Erinnerung der Mutter zu teilen.

      Gemeinsam mit den Gottshutern hatte Anna die Vorliebe für den Gottesacker. Die Gottshuter gingen in jeder Stimmung hinauf, in feierlicher nach dem Gottesdienst, in der heiter gehobenen eines Sonntagnachmittags, wenn sie jung und verliebt waren, oder sie bogen in einfacher Spaziergehlaune von der Wiese oder vom Feld ab und schlüpften durch die Hecken.

      Anna hatte sich aus der Kindheit den Sinn für das Feierliche erhalten, machte gern aus gewöhnlichen Abläufen Zeremonien. So gestaltete sie auch ihre erste Begegnung mit dem Gottesacker, indem sie langsam die Allee hinaufging, die sie den Prozessionsweg nannte. Früher, so hatte der Vater Anna erklärt, säumten Buchenhecken den Weg vom Kirchsaal bis hinauf zum Gottesacker. Die Hecken fingen die Blicke der Gläubigen ein und lenkten sie zurück auf sich selbst, wenn sie nach einer Versammlung im Gotteshaus ihre ins obere Reich berufenen Geschwister in weißen Särgen der Freude hinauf zum Hutberg geleiteten. Die Buche als Baum des Lebens sollte sinnfällig die untere mit der oberen Gemeinde verbinden. Doch auch jetzt war die Verbindung noch eng genug, selbst wenn die Blicke durch die Lindenallee hindurch in die Landschaft schweiften.

      Am Ende der Allee leuchtete Anna auf einem Torbogen in goldener Schrift auf schwarzem Grund der alte Ostergruß entgegen:

      CHRISTUS IST AUFERSTANDEN VON DEN TOTEN.

      Sogleich fielen Anna die Worte ein, mit denen der Prediger die im Morgengrauen versammelte schweigende Ostergemeinde begrüßte: Der Herr ist auferstanden.

      Als eine befreiende Botschaft wurde von der Gemeinde die alte und doch alljährlich neue Nachricht aufgenommen. Erlöst von den langen Wochen Leiden der Passionszeit und der seit Karfreitag eingetretenen Stille, antwortete sie: Er ist wahrhaftig auferstanden. Den ganzen Tag galt dieses Grußwort in den Familien der Gemeinde, die Nachricht, die der eine sagte, der andere bestätigte, sodass es schließlich jedem zur Gewissheit werden musste: Der Herr ist auferstanden. Er ist wahrhaftig auferstanden. Er ist vom Tod zum Leben hindurchgedrungen. Der Tod ist verschlungen in den Sieg. Tod, wo ist dein Stachel? Hölle, wo ist dein Sieg? sagte Anna leise vor sich hin und erinnerte sich, wie sie als Kind an der Hand des Vaters am Ostermorgen hinaufgegangen war zum Gottesacker, im Zug der Gemeinde. Denn den Aufgang der Sonne feierte der Bruderbund an diesem Tag auf dem Gottesacker. Dies ist der Tag, den der Herr macht. Der Jubel der Bläser überzeugte die Gläubigen vollends von dem Sieg, an dem sie teilhatten. Um diesen Sieg zu verkünden, wurden die Bläser nicht müde. Sie zogen nach der Osterliturgie vom Gottesacker hinunter in den Ort und weckten die noch Schlafenden mit ihren Chorälen.

      Anna ging durch den Torbogen hindurch. Mit seinen Lindenalleen und Rasenfeldern, in die Reihen gleich großer flacher Sandsteinplatten eingelassen waren, glich der Gottesacker einem Park, durch den man in fröhlicher Ruhe hindurchwandern konnte. Nichts erregte besondere Aufmerksamkeit. Man brauchte auch nicht die Wege einzuhalten, sondern konnte über die Rasenfelder laufen auf der Suche nach einem bestimmten Grab oder aus Neugier. Dann las man immer die gleichen Vor- und Nachnamen. Selbst die über die fünf Erdteile verstreuten Geburtsorte kehrten häufig wieder, sodass sie ihre Besonderheit verloren. Bald wurde auch einem Fremden die Ordnung innerhalb des Gottesackers klar. Ehe- und Familienbande waren wieder aufgehoben. Nur noch eine Liebe zählte, die zu Gott. In der Reihenfolge, in der der HERR die SEINEN zu sich berufen hatte, lagen sie nebeneinander, die Brüder auf der einen, die Schwestern auf der anderen Seite. Sie waren nun Saatkörner auf dem Acker Gottes, in der Zeit in die Erde gelegt, um in der Ewigkeit aufzugehen.

      Buchenhecken zwischen dem unteren neuen und dem oberen alten Gottesacker. Sonst das gleiche Bild. Alleen, Rasenfelder. Auf dem oberen Teil markierten Holzstäbchen mit einer Nummer besondere Gräber für fremde Besucher. Da war das des Zimmermanns und Führers der ersten mährischen Auswanderergruppe, der auch die ersten Hütten gebaut hatte, da das erste Korn auf dem Acker Gottes, das Grab einer unverheirateten Frau. Dort kennzeichnete ein Schild das Grab des Kaufmanns und Fabrikanten, der den Gottshutern eine Existenz sicherte. Die Schilder waren spärlich verteilt. Eines befand sich am Grab des ersten Missionars, zwei weitere an Gräbern von Tibetmissionaren. Einer von ihnen war erst nach fünfzigjähriger Abwesenheit nach Gottshut zurückgekehrt, der andere hatte sich als Sprachforscher und Bibelübersetzer hervorgetan. Fremde Schriftzeichen waren in den Grabstein eingemeißelt. Die ersten Getauften folgten ihren neuen Führern in die alte Welt. Es lagen ein achtjähriger Negersklave aus der Karibik und ein siebzehnjähriger Indianer hier begraben und das erste getaufte Eskimo-Ehepaar.

      Gehet hin in alle Welt und verkündet allen Völkern und taufet sie im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. So lautete der Auftrag des Herrn der Christen. Die einfachen Gottshuter - Leineweber, Töpfer, Zimmerleute, Schneider - nahmen ihn sehr ernst, zogen in die Welt, um die frohe Botschaft vom Lamm Gottes zu verkünden. Ihren Lebensunterhalt verdienten sie auf Schiffen, als Arbeiter auf Plantagen. Wurde ihr Leben gefordert, gaben sie es freudig dahin. Sie starben in den Fluten des Meeres oder am Fieber.

      Annas Vater missionierte, von einem der beiden Brüder Annas sagte man, er sei ein Evangelist. Anna hatte in ihrer Familie Unduldsamkeit kennengelernt, die Folge fanatischen Eifers. Sie hatte eine Erklärung für das Verhalten der Familie finden müssen, an die sie so viel band. Deshalb hatte sich Anna lange mit dem Missionsgedanken auseinandergesetzt. So fremd er ihr war, so schien ihr der Eifer, die Welt zu erretten, zu missionieren, die Heilslehre in alle Erdteile zu tragen, zum christlichen Erlösungsglauben zugehörig.

      Die Gottshuter waren sanfte Missionare gewesen. Sie wollten durch vorgelebtes Leben Zeugnis geben, Erstlinge herausrufen. Das andere war des Heilands Sache. Sie tauften oft über Jahre nicht und nur zögernd, eine allgemeine Christianisierung hatten sie nicht im Sinn und standen damit oft genug den Kolonialkirchen im Weg. Ihre Brüder suchten sie sich unter den Verachteten, den Sklaven. Dennoch, der angeblichen Toleranz der großen wie kleinen Kirchen glaubte Anna nicht oder nur deshalb, weil sie sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt auf dem Rückzug befanden, lediglich auf Bewahrung aus waren. Zu schnell konnten wieder Kreuze errichtet werden. Und dann nicht nur für Märtyrer, sondern auch für Ketzer. Im Namen Gottes. Stellvertretend für einen zu handeln, im Namen eines anderen, konnte zu Anmaßung und Missbrauch von Macht führen, gerade wenn sich die angerufene höchste Instanz außerhalb menschlicher Vernunft und Kontrolle befand und den Dienern dieser Macht allein der Glaube als Rechtfertigung dienen musste. Die frohe Botschaft verhieß Liebe zu den geringsten Brüdern. Doch auch weniger milde Worte standen in der Schrift und damit denen zu Gebote, die sie von Amts wegen oder aus freier Berufung heraus auslegten und sich eine Führungsrolle zuwiesen.

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