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sein. Es muss unbedingt Annaha 'sein, die kommt.

      Nun steht Anna am Zaun. No, Mädle, sagt die Frau. Eine Weile stehen sie so. Dann sagt die dicke Frau: Willscht e Epfele. Ja gern, antwortet Anna. Sie bekommt einen großen Apfel, den die Frau vorher noch gründlich blank geputzt hat. Danke, sagt Anna und darf wieder losrennen.

      Die dicke Frau meint es gut mit Anna. Deswegen ärgert sich Anna nicht besonders darüber, dass die großen Mädchen sie wegen des Annaha-Gerufes aufziehen. Vielleicht wird die dicke Frau Anna behalten, wenn man Annas schöne Mutter überhaupt nicht mehr über die Grenze ließe, Anna zurückzuholen. Denn immer kann Anna nicht im Heim bleiben, wo niemand der Tante Geld für Anna gibt. Das weiß sie ganz genau, wenn es ihr auch keiner sagt. Die Frau hat keine Kinder und mag Anna, und als Bäuerin braucht sie sich um ihr Essen nicht zu sorgen.

      Tante Ines ist immer gut und freundlich zu ihr. Sie nimmt sie sogar nach Freudenstadt mit zum Einkaufen. Wie der Schwarzwald Schwarzwald heißen muss, muss Freudenstadt, Freudenstadt heißen, weil sich die helle Freude hier niedergelassen hat und man nur noch fröhlich sein kann, wenn man die vielen schönen Häuser sieht. Anna war schon in größeren Städten. Karlsruhe bei Rechtesheim. Und Stuttgart, was im Kessel liegt und im Sommer so heiß brodelt, als ob Feuer unter dem Kessel wäre. Aber keine kann sich mit Freudenstadt messen, meint Anna. Sonst hätte sie ja wohl auch nicht den Namen bekommen. Doch Anna lässt sich von dem Namen täuschen und der Freude, die sie bei der Begleitung der Tante empfindet. Freudenstadt wurde ausgebombt, erfährt sie bei dem einzigen Besuch dieser Tante viele Jahre danach. Vielleicht waren wir in einem Außenbezirk, wird die Tante sagen.

      Anna geht mit Tante Ines und Onkel Leo zum Jahrmarkt in Rosenstetten. Sie schauen bei den Luftschaukeln zu. Die Leute in den Kähnen holen mit den Knien Schwung. Die Kähne kommen langsam in Fahrt. Immer schneller schwingen sie, immer höher hinauf. Schon liegen die Leute flach in der Luft und müssten eigentlich herausfallen. Aber damit haben sie noch nicht genug. Sie schaukeln immer noch weiter, bis sie ganz oben in der Luft stehen und ihre Köpfe auf die Erde zeigen, als machten sie einen Kopfstand. Gerade noch nimmt die Schaukel sie auf dem Rückschwung mit, sonst müssten die Leute kopfüber abstürzen.

      Onkel Leo mietet eine Luftschaukel. Anna will nicht mit hinein. Onkel Leo redet ihr gut zu. So hoch wollen sie nicht schaukeln. Erst schaukeln sie auch nur wenig. Doch dann geht es immer höher hinauf. Anna hält sich an der Stange mit aller Kraft fest. Unter ihr rasen die Erde und die Menschen. Anna kann nicht mehr atmen. Ihre Hände haben keine Kraft mehr. Gleich werden sie auf dem Kopf stehen, und sie wird die Stange loslassen und hinunterstürzen ... -Vielleicht schreit sie. Bevor sie richtig loslässt, greift Onkel Leo nach ihren Händen und presst sie gegen die Eisenstange. Der Kahn verlangsamt seine Fahrt. Die Hand von Onkel Leo hält sie immer noch fest. Man hebt sie aus dem Kahn, weil sie nicht mehr vernünftig laufen kann. Sie ist Onkel Leo nicht böse, weil er sein Versprechen gebrochen hat. Höchstens Tante Ines. Onkel Leo muss immer locken und verführen und macht dann, was er will. Deswegen liebt sie ihn trotzdem. Eine große, schwarze Wolkenwand hat sich vor die Sonne geschoben. Die Ränder glänzen golden. Der Platz und die Menschen sind in einem violetten Gewitterlicht. Still ist es geworden, als ahnten die Menschen, dass Anna beinahe gestorben wäre. Solche Angst hat Anna noch nie gehabt. Nur in ihren Träumen.

      Sowie die Dämmerung kommt, wird Anna ganz still. Die Dunkelheit legt sich als etwas sehr Schweres auf ihre Brust.

      Bevor Anna einschläft, sagt sie: Ich bin klein, und sie wird sehr klein. Mein Herz mach rein, sagt sie, und ihr Herz wird sauber und hell wie eine Gottshuter Sonntagsstube. Soll niemand drin wohnen als Jesus allein, sagt sie. Und nun kann der Herr Jesus kommen und in ihre Herzenskammer einziehen. Dann denkt sie an das dicke, glatzköpfige Baby und an ihre Mutter, ein bisschen auch an Mechthild, die Großmutter, den Vater und wer da sonst noch am Abend in der Wohnstube sitzt oder herumläuft. Vielleicht heult sie ein wenig und schlägt mit dem Kopf hin und her. Darüber schläft sie ein.

      Einen Traum träumt sie in Rosenstetten immer wieder:

      Anna hat ein hohes Gebirge hinter sich gelassen, in dem kein Baum wächst, und kommt nun in eine Ebene. Da beginnt ganz leise das Stampfen. M-ta-ta. M-ta-ta. Noch ist es sehr weit weg. Schon beim ersten Hören ist Anna außer sich. Sie beginnt zu rennen. Das Geräusch wird lauter, je länger sie rennt, und immer drohender: M-ta-ta. M-ta-ta. Schon ist ES dicht hinter ihr. Sie muss laufen, laufen. Keinesfalls darf sie sich umsehen. Ihren Kopf zieht es nach hinten. Mit Mühe richtet sie ihn geradeaus. Nie darf sie erfahren, was hinter ihr ist. Das wäre das Schlimmste, wenn sie IHM ins Angesicht schaute. ES stände plötzlich still, das Stampfen setzte aus. Anna sähe ES einen Augenblick, vielleicht noch nicht mal so lang. Dann fiele das Gebirge auf sie herunter und würde Anna unter sich begraben. Sie rennt weiter. ES bleibt dicht hinter ihr. Sie wird ES nie zu sehen bekommen. ES wird sie nie überholen. ES wird sie nur jagen, immer dicht hinter ihr bleiben, und immer besteht die entsetzliche Gefahr, dass sie sich doch einmal umschaute oder dass ES sie doch einmal überholte und sie zwänge, ES anzuschauen. ES treibt Anna vor sich her. M-ta-ta. M-ta-ta. Ein Maschinentier mit vielen Füßen. Gleichmäßig stampft es auf. Anna ahnt, ES ist unsichtbar trotz seiner gewaltigen körperlichen Kraft. Aber es wäre ebenso schrecklich, wenn Anna sein Angesicht erblickte, als wenn sie sich von seiner Unsichtbarkeit überzeugte. Sie kann nur ahnen. Manchmal ist ES so dicht hinter ihr, dass ES sie berühren müsste. Nur seine Gestaltlosigkeit erklärt, dass sie manchmal seinen Atem, nie aber seinen Körper spürt. Spürte sie einmal seinen Körper, wäre sie verloren. Nichts darf sie von dem ES wissen, das sie jagt, außer diesem gleichmäßigen Aufstampfen, das immer schneller und lauter wird und Anna in den Ohren dröhnt. Einmal bricht Anna zusammen. Sie wirft den Kopf auf die Erde, gräbt sich mit den Armen in den Boden, um ES nicht zu sehen. Jetzt wird ES über sie kommen und sie zerstampfen. Anna versucht zu schreien. Aber sie bekommt keinen Ton heraus. Sie wacht auf. Es ist dunkel um sie. Nacht.

      Manchmal versucht sie schon zu schreien, wenn ES nur aus der Ferne zu hören ist, und wacht rechtzeitig auf.

      Die Tage sind nun schon viel früher zu Ende, als man ins Bett gehen kann. Anna hockt auf einem Bänkchen im geheizten großen Zimmer bei den Mädchen, die sich mit Handarbeiten beschäftigen oder mit irgendetwas anderem. Anna tut nichts. Sie denkt noch nicht einmal etwas. Sie hockt nur so einfach da. Dann will sie aufstehen. Da hält ihr jemand ein Bein fest. Sie versucht, das Bein wegzuziehen und glaubt an einen Scherz, den sich ihr Bein erlaubt. Doch sie kriegt es nicht von den Dielen, und es sticht mit tausend Nadelspitzen. Mit einem Mal weiß sie: Die Hexe ist gekommen, um Anna zu holen. Sie sitzt unter dem Holzfußboden und zieht an Annas Bein. Anna hält sich an einem Stuhl fest und schreit: die Hexe, die Hexe. Gleich werden die Dielenbretter aufbrechen, und Anna wird mitsamt dem Stuhl von der Hexe hinabgezogen. Die Mädchen gehen auf Anna zu und bilden einen Kreis um sie. Anna greift nach dem Arm von Tante Ines und umklammert ihn. Doch wird das nichts nützen. Wenn die Hexe mitten in das Zimmer zu den Mädchen und der Tante gekommen ist, dann hat sie viel mehr Macht, als Anna wusste. Anna hört nicht auf zu schreien. Sie lässt den Arm von Tante Ines los und springt mit dem gesunden Bein, unter dem die Dielen nicht nachgeben, durch das Zimmer. Die Stiche im kranken Bein lassen nicht nach. Die Hexe hängt unter den Dielen an diesem Bein fest, und Anna schleppt sie durch das ganze Zimmer mit. Anna tobt und schleift die Hexe, bis die Hexe unten gegen einen Balken vom Fußboden schlägt und Annas Bein loslässt. Sofort hören die Nadelstiche auf. Anna kann das Bein anheben. Sie springt auf einen Stuhl, der Vorsicht halber.

      Es ist eine schlimme Erfahrung für sie, dass nicht nur der Teufel, sondern auch die Hexe so frech ist, Anna schon vor dem Einschlafen inmitten aller Mädchen zu überfallen. Wie soll sie da noch sicher sein.

      Tante Ines hat sich ein Weihnachtsgeschenk für Annas Mutter überlegt. Anna wird einen Kalender malen. Die Tante erlaubt ihr, sich in ihre Stube zu setzen, an ihren Sekretär. Da liegen schon kleine gelbe Blätter aus festem Papier bereit. Noch nie hat Anna an diesem Sekretär gesessen. Eine Zeit lang ist sie ganz benommen von dem Gesumm, das aus dem Sekretär kommt. Alle Gedanken, die die Tante beim Briefeschreiben hatte, sind in den kleinen Fächern mit den hellen Knöpfen aufbewahrt. Das Gesumm regt Anna auf. Sie könnte nicht aufgeregter sein, wenn sie wüsste, dass auch die Gedanken der Großtante mitsummen. Genau an diesem Sekretär saß die Schwester ihres Großvaters Kröger und schrieb aus ihrer Einsamkeit des Schwarzwaldes

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