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glänzenden Symbols wegen auf der Uniformbluse: auffliegender Adler, in seinen Krallen den mit einem Hakenkreuz gezeichneten Erdball.

      Vier, fünf Jahre später die Eltern kurz vor oder nach ihrer Trauung 1943: Der Vater, blass, kindlich staunend, neigte den Kopf seiner jungen Frau zu. Die Mutter blond wie der Vater, die langen, gekrausten Haare gaben die schöne Stirn frei, offene helle Augen, eine lange, gerade Nase, der breite Mund leicht geöffnet, ausgeformte Jochbögen, schmales Kinn. Der mädchenhaft schlanke Körper, im selbst gestrickten eng anliegenden Rollkragenpullover gut sichtbar, schmiegte sich an die feste Matrosenjacke an. Unglaubwürdig, dass sie fünfeinhalb Jahre älter als Annas Vater war.

      Anna kam kaum von diesem Foto los. Zum ersten Mal entdeckte sie sich nicht nur in der Mutter, sondern auch in diesem jugendlichen Vater.

      Chronologisch geordnet Fotos vom weiteren Verlauf der Ehe. Fasching. Aufnahmen am Strand. Elegant, an einen schönen alten Kachelofen gelehnt, die Mutter. Der Vater pfeiferauchend auf einem Sofa. Der kindliche Ausdruck war einem männlich-ironischen gewichen. Wieder ein Strandfoto: 14. Juli 1946 stand darunter. Zwei Ehepaare, eines davon die Eltern, mit ihren Kindern. Die Mutter hatte nur einen Blick für ihren Säugling, das winzige Etwas, das sie im Arm hielt: Anna.

      In Gottshut angekommen, ging die Mutter Ende November 1946 sogleich mit ihrer halbjährigen Tochter zum Gottshuter Fotografen Holan, der sämtliche wichtigen Ereignisse nicht nur im Leben der Eltern, sondern aller Gottshuter festhielt.

      Drei Varianten vom dicken Baby Anna mit und ohne Mützchen. Die Mutter trug ein zum Turban gebundenes Kopftuch.

      Ab 1947 kam Annas Schwester Mechthild mit ins Bild. 1950 erschien Erdmuthe als Täufling auf einem Foto mit den Eltern. Der Vater ernst, müde. Die Mutter dagegen völlig ihrem erneuten Mutterglück hingegeben.

      Ein Foto vom Sommer 1950: Auf einem Wäscheplan hinter dem Haus. Ein dickes, halbjähriges Baby ruhte auf Annas Schultern. Die Vierjährige stand wie Christophorus unter der Last gebeugt, tapfer lächelnd, den Blick vor Anstrengung auf den Rasen zu ihren Füßen gerichtet. Über ihrem Kleid baumelte ein runder, gehäkelter Taschentuchbehälter. Die Mutter hinter Anna hatte das Baby unter den Achseln fest im Griff, prüfte Annas Belastbarkeit, hielt ihr Gesicht an das des Babys. Neben der Mutter der Vater, die Haare glatt zurückgekämmt, müde das Gesicht, abgehärmt. Mit der einen Hand berührte er die Schulter der mittleren der drei Schwestern. Mechthild stand X-beinig, pummlig vor ihm, griff dem Vater ans Hosenbein, die andere Hand reichte sie vertrauensvoll zu ihm herauf und sah zu dem Baby auf Annas Schultern.

      Im Januar 1951 wanderte die Familie noch einmal zum Fotografen Holan. Es war das vorläufig letzte Foto, das Anna mit ihren Eltern und Schwestern zeigte. Ihre Abreise nach Rosenstetten im Schwarzwald, wo eine Cousine der Mutter ein Kinderheim führte, wahrscheinlich schon beschlossene Sache.

      Links im Bild der Vater mit Mechthild, erholter und jünger aussehend als auf dem Sommerfoto. Mechthild eine große Schleife im Haar, ein Porzellanpüppchengesicht, rund, kleines Näschen, kleiner Mund. Man hatte ihr einen Stoffmatrosen in die Hand gedrückt. Sie überließ sich der Hand des Vaters, die unter ihrem Arm im Stoff des bestickten Feiertagskleidchens verschwand. In der Mitte des Bildes zwischen den Eltern die soeben ein Jahr alt gewordene Jüngste. Der hellblonde Flaum zum Scheitel gebürstet, weit aufgerissen die Augen, im Kussmäulchen blinkte die untere Zahnreihe. Die Mutter wandte sich ihr mit ganzer Hingabe zu. Im rechten Bildrand Anna, die eine Hand der Mutter hing kraftlos neben Annas Arm. Doch Anna erkämpfte sich Zuneigung, schmiegte sich an die Schulter der Mutter, stützte einen Arm besitzergreifend auf deren Schenkel, renommierte lächelnd mit ihrem kostbar wirkenden geriehenem Kleidchen aus stark glänzendem, weichem Stoff.

      Das rosa Kleid. Anna schloss das Album. Niemals war sie in ein anderes so verliebt gewesen. Es begleitete sie auf ihre Reise in den Westen und war im Kinderheim der Traum von Schönheit, wie sie nur unter den Händen ihrer schönen Mutter entstehen konnte.

      Sie hatte in ihrer Kindheit nie danach gefragt, warum die Eltern sie, knapp fünfjährig, für 16 Monate in ein Heim gegeben hatten. Es war damals wie eine Naturkatastrophe über sie hereingebrochen, für die niemanden eine Schuld traf. Nun, da Anna die Zusammenhänge kannte, lagen die Gründe auf der Hand: Der Vater befand sich in einer Ausbildung und war kaum in Gottshut. Die Mutter ging arbeiten, und die Großmutter wurde mit der Erziehung und Versorgung der drei Enkeltöchter nur schwer fertig. Es war nicht ungewöhnlich, sowohl nicht in der Beamtenschicht, aus der die Mutter stammte, als auch erst recht in Gottshut nicht, Kinder in Heimen, in Internaten unterzubringen. Wir hielten dich für so gut aufgehoben bei Tante Ines, hatte die Mutter Anna erklärt. Die herrliche Schwarzwaldluft. Und Tante Ines eine pädagogisch geschulte Kraft! Das Vertrauen der Mutter in geschulte Kräfte war bis heute grenzenlos. Obwohl sich die Mutter zu keiner Zeit den Anforderungen gewachsen fühlte, die eine große Familie stellte, hatte sie immer viele Kinder haben wollen. Sechs Kinder, hatte sie Anna gesagt. War sie mit dem Wunsch nach Kinderreichtum unbewusst vielleicht doch dem faschistischen Ideal von der Frau als Mutter und Versorgerin der Familie gefolgt? Die Mutter wies die Vermutung weit von sich. Sie war dagegen gewesen, gegen die Nazipropaganda, gegen den Bund Deutscher Mädchen. Sie wusste von der Judenvernichtung. Tante Wolff, die Freundin der Familie, war eines der Opfer. Wieweit konnte sich eine begeisterte Pfadfinderin und Sportsmaid, ein Mädchen, das sich nur zu wohl in der Gemeinschaft gleichaltriger Mädchen fühlte, den Einflüssen entziehen, die von der verkündeten Volksgemeinschaft ausgingen?

      Als Anna vom Schwarzwald heimkehrte, war nichts mehr so wie vorher. Ihre Gottshuter Kindheitserinnerungen teilten sich streng in die vor Rosenstetten im Schwarzwald und danach. Da musste sie in die Schule gehen statt in den Kindergarten, und die Mutter hatte keine Zeit mehr.

      Immer ist es dunkel, wenn Anna aufstehen muss. Dunkel und kalt. Ein nasser Lappen streicht über ihr Gesicht, hält sich bei der Nase auf und klemmt sie ein. Anna biegt den Kopf zur Seite. Der Lappen kommt unerbittlich nach. Dann hat sie das Gesicht wieder frei, der Lappen geht über Arme und Hände und erschreckt ihren Bauch.

      Die Schuhe will Anna nicht anziehen. Es sind Schnürschuhe. Schwarze hohe Schnürschuhe. Das Leder so fest, so hart, wie keine Haut von einem Tier sein kann. Die Zehen stoßen sich wund. Aber dem Leder tut es nichts. Die Fersen reiben sich. Dem Leder tut es nichts. Solche Schuhe haben schon sehr viele Kinder getragen. Die Kinder haben kaputte Füße davon gekriegt. Aber die Schuhe gehen nie, nie kaputt. Deshalb werden die Schuhe uralt und quälen nun auch Anna.

      Jeden Morgen brüllt Anna, läuft der Großmutter weg, die die Füße in diese schwarzen Schnürschuhe hineinstoßen will. Es ist entsetzlich mit dir, Kind, sagt die Großmutter. Oder nur ihre Augen sagen es. Anna weiß schon, dass es entsetzlich mit ihr ist. Aber schuld sind die geerbten Schuhe.

      Einmal kommt der Vater aus dem Schlafzimmer. Anna ist widersetzlich, aber der Vater schimpft nicht. Er spricht ganz freundlich mit Anna. Er sagt, dass die Schuhe sich grämen, weil Anna sie nicht anziehen will. Anna kennt es zwar schon, dass alle Welt ein Recht hat, mit ihr böse zu sein. Aber dass sich auch noch die Schuhe grämen, gefällt ihr nicht. Der Vater erklärt weiter, die Schuhe können nichts dafür, dass der Schuster ihnen so hartes Leder gegeben hat. Sie sind eben arme Schuhe. Und nun will Anna diese armen Schuhe nicht anziehen. Wie traurig müssen da diese armen Schuhe sein. Anna ist beeindruckt. Sie hat nicht gewusst, dass Schuhe traurig sein können. Sie sind wohl etwas Ähnliches wie Tiere. Weil sie stumm sind, können sie sich nicht beklagen.

      Und nun will der Vater die Schuhe taufen. Welchen Namen sollen sie bekommen? Der Vater weiß zwei gute Namen, die zu den alten Schuhen passen: Max soll der rechte heißen, Erich der linke.

      Anna muss Max und Erich gleich beweisen, dass sie nun ihre Freunde sind und schlüpft in sie hinein. Ganz unerwartet hat sie zwei Freunde bekommen, die viel älter als Anna sind und noch in ihrem hohen Alter die aller niedrigsten Dienste auf dem Boden im Staub verrichten müssen. Anna wird sie achten und mit ihnen sprechen, damit sie sich in ihrem Großvateralter nicht grämen.

      Zu dritt trampeln sie durch den dunklen, kalten Morgen. Max, der rechte Schuh, Erich, der linke Schuh, und in der Mitte von beiden Anna. Max und Erich werden Annas Freundschaft nicht vergelten können und Annas Füße deformieren.

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