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Vetter an. Er verspricht Anna, sie zu heiraten, wenn sie groß ist. Anna ist froh. Wenn sie immer im Westen bleiben müsste, hätte sie einen lieben, guten Jungen als Mann. Falls er sie nicht heiratet, hat er auch noch vier Brüder.

      Die Schwester von Tante Ines kommt. Den kleinen dicken Vetter hat sie leider nicht mitgebracht, aber ihren Mann, der schon ziemlich alt ist und ein schweres Motorrad fährt. Der Onkel fragt Anna: Na, willst du mal ein Stück mitfahren? Er fragt so, als ob er schon gewusst hätte, dass Anna wegen des Motorrads ganz verrückt ist. Anna klettert auf den Sitz und kann ihre Füße auf feste Pedale stützen, anders als beim Fahrrad. Immer schneller fahren sie. Die Ähren vom Kornfeld verwischen vor ihren Augen. Anna hat die Beine gespreizt. Sie reitet auf einem Pferd, das schnell ist wie der Wind. Die Geschwindigkeit macht ihr eine kleine Herzangst. Aber die ist grad besonders schön.

      Nur noch eins ist besser als das schwere Motorrad: der Lanz Bulldog. Hochrädrig und rot steht er vor einem Bauerngehöft. An seiner tiefen Stimme kann man seine riesige Kraft erkennen. Redet er langsam und gleichmäßig, kann man ruhig dabeistehen und ihm zuhören. Wird er aber aufgeregt und strengt seine Stimme an, muss man schnell beiseite gehen. Eine gewaltige Maschine wie der Lanz Bulldog sieht nicht so genau, ob es ein Huhn ist, das vor ihm herflattert. Oder das Kleid von einem Kind.

      Französische Verwandte kommen. Frankreich ist nicht weit weg. Die Verwandten reden schnell und in einer wunderschönen Sprache und sagen auch dies und das zu Anna. Als sie wieder weg sind, muss Tante Ines dauernd die Unterschriften eines Buches in dieser Sprache vorlesen, das die Verwandten Anna geschenkt haben. Es heißt: Barbar, l'elephant, Barbar, der Elefant. Er ist von seiner Familie in die Stadt ausgerissen. Am besten gefällt Anna. wie der große Barbar mit seinem Anzug aus dem Kaufhaus mit der bleistiftdünnen französischen Wuschelkopfdame im rot ausgemalten Auto die Kurven hinuntersaust. Schließlich kriegt Barbar Heimweh nach seinen Brüdern und Schwestern und Eltern. Was die kleine Dame auch tut, nichts hilft. Da endlich findet die Elefantenfamilie ihren Barbar wieder. Sie hat inzwischen überall nach ihm gesucht. So ist eine Elefantenfamilie: Sie gibt keine Ruhe, bis nicht alle wieder zusammen sind. Im Urwald kennt man das nicht anders. Auf dem letzten Bild steht die dünne Wuschelkopfdame auf ihrem Gitterbalkon kerzengerade wie immer und sieht auf der sauberen französischen Allee die Elefantenfamilie mit ihrem Barbar davontraben in den Urwald. Sie bezwingt ihre Traurigkeit und winkt mit dem Taschentuch. Anna bekommt eine genaue Vorstellung von Tapferkeit: Wenn das Glück der anderen das eigene Unglück ist, aber man nicht losheult und den anderen die Freude verdirbt, sondern winkt und seine Traurigkeit aufhebt, bis man ganz für sich allein ist.

      Jemand bringt Anna für vier Wochen Sommerferien nach Rechtesheim zu Onkel Armin. Onkel Armin ist der Bruder von Annas Mutter. Dass Onkel Armin als Junge lange Zeit bei seinen Cousinen in der Villa von Rosenstetten lebte und von ihnen so halb als Bruder betrachtet wird, sagt Anna niemand. Überhaupt sagt ihr niemand, dass die Tante Ines auch schon als Kind mit ihrer Schwester und einer Halbschwester in der Villa war. Da könnte sich Anna ein bisschen mehr ausdenken, als die Wörter Villa und Kinderheim hergeben. Dann käme ihr die Villa nicht' so leer vor, und sie könnte vielleicht in Rosenstetten heimisch werden.

      Rechtesheim ist ein sehr heißes, sehr staubiges Dorf. Am Tag sind Anna und ihre kleine Base Ille in einem Kindergarten. Oder ist es eine Schule? Mittags werden die Fensterläden zugeklappt. Anna und Ille sitzen nebeneinander auf einer Schulbank und sollen den Kopf auf das Kissen tun, das auf einem Tisch liegt, und eine Stunde Mittagsschlaf halten. Wie soll Anna im Sitzen einschlafen? Sie muss schon im Liegen hin und her schaukeln, damit sie einschlafen kann. Ein paar Mal flüstert sie mit ihrem Bäsle und erkundigt sich, wie lange die Stunde noch dauert. Da kommt eine, von der Anna das Gesicht nicht weiß, und zieht erst Ille, dann Anna eins mit der Rute über den Nacken. Anna versteht, hier wird man geschlagen. Also muss man still sein. Sie ist jeden Mittag still, aber schlafen kann sie nicht.

      Wenn endlich auch der Nachmittag vorbei ist, kommen alle vom Feld. Opa-Nägele-Oma-Nägele-Tante-Traudl-Onkel-Siggi-Onkel-Armin. Man trinkt Limonade. Anna mag das süße Zeug nicht. Es steht den ganzen Tag herum, von niemandem gekocht, aus der Fabrik. Sie hätte lieber Tee oder was anderes, was eine Frau kocht. Aber alle trinken Limonade. Manchmal meint Anna, in Wahrheit hätte das Haus keine Türen und Fenster, sondern nur in die Wände eingelassene Löcher, durch die in der Nacht der Wind zieht. Jeder kommt und geht, wie er will, und trinkt Limonade aus der Fabrik und schneidet sich Brot ab.

      Onkel Siggi hat ein Luftgewehr. Damit knallt er in der Luft herum. Einmal fällt ein Spatz herunter. Anna läuft zu dem heruntergefallenen Vogel. Er bewegt sich nicht mehr. Sie sieht zu Onkel Siggi. Er lacht. Onkel Siggi ist ein netter junger Onkel und hat Kinder gern. Aber jetzt gruselt es Anna vor ihm. Spatzen muss man totschießen, sagt Onkel Siggi, sie fressen die ganzen Kirschen von den Bäumen. Wenn Onkel Siggi sich wenigstens nicht noch am Spatzen-Totschießen freuen würde.

      Oma Nägele ist ein hutzliges Omachen und fromm. Man lacht Oma Nägele aus wegen ihrer Frömmigkeit. Niemand will was von der Kirche wissen, Onkel Armin sowieso nicht, aber auch nicht Tante Traudl und Onkel Siggi.

      Dann wird Anna wieder aus Rechtesheim abgeholt.

      Tante Ines und Onkel Leo machen mit Anna einen Ausflug in den Schwarzwald. Anna versteht, dass er nicht anders als Schwarzwald heißen kann. Jede Tanne steht für sich, schlank und hoch, höher als ein Kirchturm, und die Wipfel sind blau, fast schwarz. Fährt ein Wind in die Tannen, beginnt der Wald mächtig zu rauschen. Er bläst alles hinaus, sodass im Schwarzwald nur reine Luft ist und nichts Böses sich drinnen festhalten kann. In den Tannen kann man Gott reden hören. Er redet anders als in der Kirche und mit allen Menschen.

      Auf einer Bergwiese weiden Kühe. Schwere Glocken hängen an ihren Hälsen. Bewegen sich die Kühe, schlagen die Klöppel gegen das Metall. Jede Kuh hat eine andere Glockenstimme. Sie können niemals verloren gehen.

      Die Schwarzwaldhäuser sind ordentlich groß, mit tief nach unten gezogenen Dächern und hölzernen, mit Blumenkästen geschmückten Balustraden. In eines gehen sie hinein, um etwas zu essen. Viel Platz ist darin und alles sehr sauber. Natürlich hängt da auch eine Kuckucksuhr. Zu jeder halben Stunde springt der Kuckuck aus seinem kleinen Schwarzwaldhäuschen und kuckuckt. Bei diesen Uhren ist es wie bei den richtigen Schwarzwaldhäusern: von draußen sehen sie sehr prächtig aus. Aber drinnen ist es beinahe noch schöner.

      An einem Holzhäuschen kaufen die Verlobten Anna ein buntes Käpple und zwei erste Anhänger. Einer ist so ein Schwarzwaldhaus, wie Anna sie nun kennt, mit einem Glöckchen. Anna setzt sich das Käpple auf. Pass auf, kriegscht so viele Anhänger, dass das Käpple voll wird, sagt Tante Ines. Anna will fleißig sammeln, damit nachher kein Platz oben mehr frei ist, wenn sie wieder nach Hause kommt. Da werden alle staunen, wenn es bimmelt und klirrt.

      Was Anna inzwischen außer der Kappe, den leeren Geleegläsern und ihrem rosa Püppchen besitzt: eine längliche Stofftasche, auf der mit blauem Stoff und Garn ein Bild aufgesetzt ist: ein chinesisches Häuschen und Bäume. Eine grüne, kleine Duftflasche, mit einem Goldkrönchen als Verschluss, halb voll Wasser. Sie duftet immer noch nach Uralt-Lavendel, das Tante Ines benutzt. Einen Stapel großer, blasser Sanella-Bilder, die Tante Ines vom Margarineeinkauf mitgebracht hat. Auf der Rückseite steht viel in kleiner Schrift, die alles erklärt. Aber Anna sieht auch ohne Erklärung: Afrika. Ein von der Sonne ausgetrocknetes Land. Selbst die Löwen haben nur eine bleiche Farbe von dem vielen Sand, der herumfliegt. Lieber als die Sanella-Bilder mag sie die kleinen glänzenden von Knorr. Die sieht sie sich stundenlang an. Solche Farben kann es nur im grünen Urwald geben. Beinahe giftig leuchten die Bilder. Selbstverständlich hat sie auch Salamander-lebe-hoch-Bilder. Den lustigen, gelb-schwarz gesprenkelten Burschen mit seinen großen Stiefeln und der frechen Mütze, der durch die ganze Welt wandert, hat jeder gern. Und ein jeder ruft es noch, Salamander, lebe hoch, sagt Anna, schaut sie sich diese Bilder an.

      Annaha. Annaha, hört Anna eine quäkende Stimme in der Ferne. Anna weiß Bescheid, stürzt aus der Villa, läuft über die Wiese bis zum Zaun. Dort steht die Nachbarin, eine dicke, freundliche Frau, die Anna schon die ganzen Wochen über ruft, seitdem es Äpfel in ihrem Garten gibt.

      Niemals in ihrem Leben hat Anna ihren Namen so rufen hören, dass es zum Lachen ist. Aber es gefällt ihr sehr, dass nach

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