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überlegt, was die Mutter gesagt hat. Also wäre sie doch um ein Haar im Westen geblieben. Fast tut es ihr leid, dass sie nun in den Osten soll und ein ganz gewöhnliches Leben beginnt. Im Westen wäre es spannender gewesen. Sie hätte ein interessantes Leben bei den verschiedenen Verwandten geführt und wäre vielleicht sonst wo gelandet. In Amerika oder an der Nordsee.

      An einem frühen Morgen gehen die Mutter und Anna aus der Villa. Tante Ines hat Anna einiges versprochen. Anna ist komisch zumute. Sie weiß genau, nie mehr wird sie die Villa wiedersehen. Sie dreht sich um, weil sie hinter der Hecke die Augen vom gemeinen Fritzchen vermutet und die Villa am Berghang in der kalten Morgensonne mit ihren vielen großen Fenstern funkelt. Das arme gemeine Fritzchen bleibt ganz allein da oben in der Villa und kann an niemandem seine Gemeinheit auslassen. Er hat sich noch nicht einmal von Anna verabschiedet. Die Mutter lenkt Anna ab und erzählt von zu Hause.

      Dann fahren die Mutter und Anna in den Osten.

      Anna schien, die Mittagsstille in Gottshut sei stiller als anderswo. Niemand zeigte sich, als bewohnten diese Stadt nur die Seelen der zu Gott Heimgerufenen. Für die Mittagshexe, die in der Zeit der Glut ihren Stab schwang, gab es kein Herunterkommen von den Dächern. Die auf den Straßen wandelnden Seligen hielten sie zurück und die Gebete und Lieder, die seit vielen Generationen von den Frommen dieses Ortes zum Himmel aufgestiegen waren.

      Aus dem Witwenhof trat eine eulenäugige Frau. Die Füße in den hohen Schnürschuhen gaben den schwachen Gelenken Halt. Sie trug einen Blechbehälter.

      Tante Magda. Tante Magda, sagte Anna und lief hinter der Frau her.

      Die wandte sich um und erkannte Anna. Ein schwaches Lächeln glitt über ihr Gesicht. Du hier? sagte Tante Magda mit ihrer tiefen melodischen Stimme, der Zwillingsstimme von Tante Leonie. Machst Urlaub in Gottshut?

      Eine Woche, sagte Anna und wartete ungeduldig darauf, wieder die Stimme ihrer toten Tante Leonie zu hören.

      Wie geht es dir? hörte Anna Tante Leonie fragen. Gut, danke. Und dir?

      O gut, gut, sang Tante Magda.

      Tatsächlich schien die Tante gesünder, kräftiger. Der Rücken hatte sich gestrafft, die Füße setzte sie behutsam, doch fest auf. Ihr Gang hatte etwas Zielbewusstes bekommen. Die ältere der beiden Schwestern, die Anna nie anders als gebrechlich erlebt hatte, untauglich für eine andere Arbeit als zur Pflege der jahrelang siechen Mutter, ging sicher wie nie, als hätte man eine Last, die sie ein Leben lang niederdrückte, von ihr genommen und sie wäre nun endlich frei. Die einstmals Schwache richtete sich im Alter auf.

      Erstaunlich ihre Zähigkeit. Niemand hätte vermutet, dass sie Tante Leonie überlebt, dachte Anna und sagte: Ich hab denselben Weg wie du.

      Geh Kind, geh, sagte Tante Magda und wehrte mit einer weiten Geste des Arms das Anerbieten Annas, sie zu begleiten, von sich.

      Anna glaubte, dass die Tante weniger fürchtete, Anna durch ihren langsamen Gang zu behindern als selbst behindert zu werden. So winkte ihr Anna noch einmal zu und ging rasch über den Platz zwischen Kirchsaal und Witwenhof, die Herthelsdorfer Allee entlang bis zu jenem Haus, das bis zum Kriegsende die Mädchenanstalt gewesen war. Als Kind hatte sie sich über dieses Gebäude gewundert. In der Woche war das Gatter weit geöffnet, und sie ging über den Hof in das Klassenzimmer. Am Sonntag betrat sie dasselbe Gebäude, um den Kindergottesdienst zu besuchen. Dann benutzte sie den Eingang auf der Straße, ging eine Treppe hinauf in einen großen Saal. So hatte das Gebäude zwei Gesichter gehabt. Eines für den Alltag, eines für den Sonntag. Mehrmals versuchte sie in den Unterrichtspausen von innen her zur Sonntagsseite vorzudringen. Es gelang ihr nicht, als hätte man Glaswände ins Haus eingebaut.

      Anna konnte der Lust, ihren alten Schulhof wiederzusehen, nicht widerstehen. Sie ging hinein, und ihre Erinnerung bestätigte sich. Seitlich eine Gruppe hoher Tannen. An den Hof schloss sich ein Garten im Gottshuter Stil an. Seitenwege, ein Mittelweg zu einem Blumenrondell und an der Mauer eine weiße Gartenlaube. Froh vor allem war Anna über den Blick weit hinunter ins Tal gewesen, über Acker- und Weideland. Sie nahm ihn mit, wenn sie in das Klassenzimmer zurück musste, in dem sie sich eingesperrt fühlte, dumm und verschüchtert von den vielen Gesichtern und besseren Leistungen anderer Schüler.

      Das ist kein öffentliches Gelände, hörte sie laut jemanden neben sich sagen. Schon die Rufe zuvor hatten wahrscheinlich Anna gegolten.

      Anna sah eine kleine ältere Frau an, die sich drohend neben ihr postierte. Ihr Gesicht kam Anna bekannt vor. Sie hätte sogar einen Namen nennen können.

      Was suchen Sie hier, fragte die Frau.

      Nichts, sagte Anna, zuckte mit den Schultern und verließ unter den wachsamen Augen der Frau den Hof, der seit Jahren kein Schulhof mehr war. Das Gebäude wurde wieder von den Brüdern genutzt, war nun der Schwesternhof.

      Über den Eingang von der Straße her gelangte sie in das Haus. Rechts lag ein kleiner Saal, weiß gestrichen wie alle brüderischen Innenräume. An einer langen Tafel hatten sich offensichtlich Direktionsangestellte vom Davidshof zusammengefunden. Alleinstehende Männer und Frauen, die nicht zu Hause kochen wollten. Sie schwatzten und lachten halblaut, während sie auf die bedienende Schwester warteten. Anna grüßte kaum merklich und setzte sich an einen der kleinen Tische. Sie sah hinüber zu einer Familie. Die beiden Kinder saßen im vorgeschriebenen Abstand von der Tischkante, hielten sich sehr gerade, aßen schweigend, mit Appetit, aber nicht hastig. Wahrscheinlich auswärtige Geschwister, dachte Anna. Auch Annas Familie war bei ihrem ersten Gottshut-Ferienaufenthalt jeden Mittag in den Schwesternhof essen gegangen.

      Anna mochte das stille Einvernehmen zwischen den Gästen, die Geschäftigkeit der bedienenden Schwester, die gerade das Schiebefenster hochschob und in den Saal schaute. Sie stellte die Teller auf die Durchreiche, erschien wenig später selbst und lief, eine weiße Schürze über ihrem Sommerkleid, zwischen Durchreiche und Tafel hin und her, bedeutete Anna, sie möge sich noch gedulden, räumte Geschirr beiseite, deckte neu ein. Weitere Gäste kamen. Aus der Küche hörte man das Herumschieben von Töpfen, Klappern von Deckeln und Geschirr und das Zischen, als das Hackfleisch in die Pfanne gegeben wurde. So hatten die Gäste noch teil an den letzten Vorbereitungen für die Mahlzeit.

      Eine Woche lang würde sich Anna in derselben Tischgesellschaft befinden, die sie ohne sichtbare Neugier aufnahm, und auch ihr späteres Verschwinden würde sie kaum registrieren.

      Anna hatte die Villen nach dem Schwesternhof nie beachtet, die letzten auf der kurzen Straße, ehe die Allee zum Dörfchen Herthelsdorf begann. Aufmerksam wurde sie erst, als die Mutter sie eines Tages erwähnte. Die Missionshäuser, sagte sie und erklärte, dass Missionare sie erbaut hatten, um in Gottshut ihren Lebensabend beschließen zu können. Eine der Villen allerdings hatte immer Annas Interesse erregt. Die der Belgern-Sternebecks. Auch bei ihrem Nachmittagsspaziergang in das unterhalb des Schwesternhofes gelegene Tal blieb sie vor dem kastenförmigen Bau stehen. Die Fassade war recht prachtvoll mit ihren mehrfarbigen Ziegeln, einer Ornamentkante über den Bogenfenstern, Absätzen, Säulchen, dem geschwungenen Gitterwerk am Balkon. Als Kind hatte Anna die Villa nicht leiden mögen, weil sie so anders war als die Gottshuter Häuser sonst. Ihre Bewohner hatten es Anna angetan. Judith von Belgern-Sternebeck, die in Annas Klasse ging und so eine schöne Schrift hatte. Bei dem Ferienaufenthalt in Gottshut hatten die von Belgerns Annas Familie eingeladen, und so lernte Anna auch Judiths jüngere Schwester Susanna kennen. Während Annas Schwestern in dem von Belgernschen Garten mit Judith und Susanna spielten, hatte Anna das Schwesternpaar beobachtet. Sie wunderte sich, wie groß und schwer sie waren, wie langsam sie sich bewegten, zusätzlich behindert durch eine altmodische und zu warme Kleidung und die Last der zu Kronen aufgesteckten, sehr dicken, dunkelblonden Zöpfe. Bleich waren sie, dickhäutig und der Blick ihrer beinahe ausdruckslosen wasserfarbenen schrägstehenden Augen fesselte Anna. Sie, die mit ihrer Familie abgeschlossen innerhalb eines Dorfes auf einem großen Pfarrgrundstück lebte, hatte schnell die Ähnlichkeit ihrer Situation mit der des Schwesternpaares erkannt. Auch diese Mädchen verbrachten die meiste Zeit im Garten, einem urwaldmäßigen, paradiesischen Gefängnis, das mit seinem Strauchwerk undurchdringliche Tiefen bot. Seine Tannen und die Blutbuche gaben dem Garten eine große Höhe. In ihm verbarg sich das Schwesternpaar vor den spöttischen Augen der Gottshuter.

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