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die Erhörung unserer Gebete um Durchhilfe und als neue Weisung für mich. Also Trennung vom geliebten Gottshut.

      Ich hatte dort den Pass zu beantragen und vier Wochen darauf zu warten, Zeit zum Abschiednehmen und besonders auch vom DFMGB-Kreis, dem ich seit 1937 als Kreismutter dienen durfte.

      Ich kam nach Rechtesheim zu Armin. Er konnte soeben seine Familie selbst ernähren und arbeitete in Karlsruhe als Assistenzarzt. Es dauerte einige Monate, aber die Pension wurde dann vom August 1953 ab gezahlt. Damit kam ich in die Lage, dem Pfarrhaus in Syhlen wesentlich zu helfen. In Armins Haus wuchsen die vier Töchter mit großem Altersunterschied heran, sodass sie getrennte Zimmer brauchten. Als dies deutlich wurde, begab es sich, dass unsere Gemeindeschwester Elise wusste, in Ravensburg sei bei ihren Hensoldshöher Schwestern ein Zimmer mit Ganzversorgung zu vermieten. Das war für mich wieder eine Weisung, bedeutete aber meinen Übergang zum endgültigen Feierabend im Alter von 82 Jahren. Mit einem Wort aus dem 23. Psalm möchte ich schließen:

      Er weidet mich auf einer grünen Aue

      und führet mich zum frischen Wasser.

      Er erquicket meine Seele. Er führet mich auf rechter Straße um seines Namens willen.

      Gutes und Barmherzigkeit werden mir folgen mein Leben lang, und ich werde bleiben im Hause des Herrn immerdar.

      Anna legte das Heft beiseite. Auch der Aufenthalt bei den Hensoldshöher Schwestern war noch nicht die letzte Station der Großmutter gewesen. Die letzten Jahre verbrachte sie wieder bei ihrem Sohn Armin und ihrer Schwiegertochter.

      Anna war sicher, dass ein erster Teil des Lebenslaufes der Großmutter existierte. Dunkel erinnerte sie sich an einige Bilder aus der Kindheit der Großmutter. Der Lebenslauf war lange verschollen, dann nach einigen Umzügen wieder aufgetaucht. Doch bevor die Mutter ihn Anna aushändigte, hatte sie ihn wieder verlegt. Anna durchwühlte den Truheninhalt, fand aber nichts.

      Statt dessen stieß sie auf ein ihr bisher unbekanntes, von Kinderhand umstochenes Heftehen. blätterte in ihm und lächelte. Die Mutter, zuweilen auch der Vater, hatten einige Zeit ein Tagebuch über ihren Erstling Anna geführt. Die genaue Geburtsstunde war vermerkt. Nie kommen die Kinder bei Ebbe, immer bei Flut, hatte die Mutter den Vater einmal belehrt. Gewicht, Größe, Kopfumfang notiert. Schwierigkeiten der ersten vier Wochen, nicht verheilende Geschwüre an den Beinen. Anna schreit Tag und Nacht. Eine Eintragung zum Tauftag:

      16. Juni. Trinitatis-Sonntag. Großvater Krögers 10. Todestag. Unvergesslich schöner Tag, trotz ungewisser Witterung. Tante H. W. der einzige Gast. Bruder Pastor B. tauft über der Geburtstagslosung. Nur Mückelchen (Wurm!) schreit, schreit. Mutter will versinken vor Scham. Während Tante H. singt: Geh aus mein Herz! wird sie plötzlich still.

      Jede Entwicklungsstufe war sorgfältig eingetragen. Die Mahlzeitenfolge. 3 x Brust und 1 x Brei. Um 18 Uhr zuletzt. Das freie Sitzen. Über die Reise von Bremerhaven nach Gottshut schrieb der Vater: Schwer bepackt, unser Kleinchen in einer Art selbst gefertigten großen Einkaufstasche, reisten wir am 17.10.46 ab. Bremerhaven - Friedland - Halle. In Halle, wo wir stundenlang standen, ereilte uns alle ein großer Schreck. Das Stellwerk hatte versehentlich einen Güterwagen in voller Fahrt auf unseren Zug, in dessen letztem Wagen wir saßen, auffahren lassen. Alles Gepäck stürzte herunter. Eine Zentnerkiste war auf die Bank gefallen, auf der ich sonst saß und zeitweilig Mückelchen stand. Ich aber hatte mich gerade aus irgendeinem Grund erhoben, und unser Kleinchen war auf der gegenüberliegenden Bank abgestellt. Nur Anna blieb bester Laune. Sie hat die Reise am besten überstanden und war während der ganzen Fahrt von einer fast rührenden Bravheit, lachte jeden an, krakelte immerzu stillvergnügt vor sich hin und amüsierte sich prächtig.

      Weihnachten in Gottshut. Wann sie zum ersten Mal das Wort Mutter sagte. Ihre beliebteste Schlafhaltung: Mit angezogenen Beinen lag sie auf Brust, Bauch und Unterschenkeln. Freihändiges Stehen. Selbständiges Laufen. Töpfchenerfolge. Im März 1948, kurz vor ihrem zweiten Geburtstag, wurde sie in den Kindergarten gegeben. Überrascht las Anna diese letzte Notiz im Heftchen. Sicher auch für Gottshuter Verhältnisse damals ungewöhnlich, ein zweijähriges Kind der Obhut des Kindergartens zu überlassen. Ein erster Hinweis dafür, dass Anna nach der Geburt ihrer Schwester Mechthild zu anstrengend wurde?

      Anna nahm den Ordner mit den Briefen aus den ersten Ehejahren der Eltern zur Hand. In den Briefen an Verwandte, Paten schrieben die Eltern von Annas Geschicklichkeit und erfreulicher Intelligenz, einem nicht zu sättigenden Zärtlichkeitsbedürfnis. Durch Küsse sei sie rasch zu beschwichtigen. Immer wieder erwähnt wurde ihr Eigensinn (Weder gutes Zureden noch schlimmste Prügel helfen.), ihre Stimmungslabilität.

      Ein Stimmungsmensch, schrieb der Vater, sehr bewusst, versteht fast alles. Im Spielen und Wesen sehr originell und beliebt bei groß und klein. Aber sie bleibt sich gleich. Erziehungserfolge sind leider keine anzumelden.

      Wie der Vater an Anna hing, ging aus einem Brief hervor, den er an die im Westen zur Kur weilende Mutter schrieb. Er nannte sie ein Sonnenscheinchen, mein kleiner, drolliger Kamerad. Die letzten Briefe vom Sommer 1949. Dann begann die Ausbildung des Vaters im Predigerseminar. Das Familienleben rückte in den Hintergrund.

      Wahrscheinlich hat es den Eltern nicht an Liebe gefehlt, dachte Anna. Nur an Kraft und Vermögen, sie umzusetzen. Sie haben viele Reaktionen falsch gedeutet, zu schnell waren sie in ihrem Urteil. Anna bewahrte viele glückliche Augenblicke ihrer Kindheit im Gedächtnis. Doch überwiegend war das Gefühl von Kränkung, dass ihr unrecht getan worden sei.

      Anna suchte unter den Fotoalben das heraus, das sie am liebsten anschaute. Sie hatte darin ein paar Jugendfotos der Eltern eingeklebt, die ihr in die Hand gekommen waren, und alle Fotos aus der Zeit in Bremerhaven und Gottshut. Auf dem ersten Foto mochte der Vater achtzehn, neunzehn Jahre sein. Der Typ eines nordischen Eroberers: helläugig, braun gebrannt, die blonden, leicht gewellten Haare nach hinten gekämmt, die Augenbrauenbögen traten hervor, schmale Hakennase, starke Kinnbacken,

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