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Krankenhaus, der sonst als Sitzungssaal dient. Da sitzt sie nun mit einem Häufchen anderer Kinder und übt. Es ist ihr peinlich, dass Tante Fendel, die später erst Tante Leonie heißt, Annas Begriffsstutzigkeit mitbekommt. Doch dann wächst Vertrauen zu der Tante, da diese ihre Meinung über Anna nicht verändert. Tante Leonie Fendel gibt ihr das Gefühl, sie ist ein Kind, das erst anfängt. Das eine Kind hat einen leichten Anfang, das andere einen schweren. Deswegen ist das eine nicht klüger als das andere. Anna ist nachmittags wieder mit den anderen Kindern des Bruderbundes zusammen wie im Kindergarten. Nur sind sie jetzt mit ernsteren Dingen beschäftigt. Dass Anna langsam aufholt, merkt sie selbst nicht.

      Die Flickschneiderin ist bei Anna zu Hause. Sie thront in der Wohnstube inmitten von Kleidern, Stoffresten und zugeschnittenen Teilen, lässt sich durch nichts aus der Ruhe bringen, rattert mit der Nähmaschine, der eine Fuß wippt auf dem Trittbrett auf und nieder, die Hände halten den Stoff, die rechte Hand stoppt das silberne Rad oben, wenn die Naht zu Ende ist. Sie redet mit einer weichen, dunklen Stimme. Die Worte rollen und gurgeln, als hätte sie eine Kuller im Mund. Und einen schönen Leberfleck hat die Flickschneiderin. Er sitzt dick und fett neben ihrer Nase und erweckt Annas unbedingtes Zutrauen zu der fülligen, mehr schwarz- als grauhaarigen Schneiderin aus dem Nachbarort. Solange die Flickschneiderin im Hause ist, ist sie es, die regiert. Kein hartes Wort darf fallen. Dann wird sie nunu-oaber-oaber sagen, loassen Se doch das Kind, gutte Frau. Anna holt sich den Kasten mit dem Leuchtschmuck aus dem Schlafzimmer, setzt sich auf den Boden, zieht sich eine Decke über den Kopf, und die Anstecknadeln beginnen zu glühen in der Dunkelheit. Anna zeigt den Schmuck der Flickschneiderin. Die lächelt und sagt: Noch vonnem Kriege, nunu. Anna wundert sich, dass nach so vielen Jahren das Glas immer noch die Kraft hat, Licht zu sprühen. Niemand erklärt ihr die Bedeutung des Leuchtschmucks in der Zeit der Verdunkelung während der Bombennächte. Dann hätte sie vermutlich später bei dem Märchen von Aladins Wunderlampe nicht an den Kriegsschmuck denken mögen. Nie wieder Krieg steht auf vielen Häuser- und Ruinenwänden. Und darin stimmen die Eltern mit dem Staat überein, in dem sie ihre Kinder großziehen.

      Es gibt einen reichen und einen armen Bäcker in Gottshut. Beide wohnen auf derselben Straße und sind eigentlich Nachbarn, obwohl es zum armen Bäcker viel weiter ist als zum reichen. Der Reiche wohnt in einem neuen Haus vor der Treppe, die in den Himmel führt. Der Arme lange nach der Treppe. Zum Reichen geht man die Stufen hinauf, zum armen die Stufen hinunter. Einmal in der Woche wird Anna zum Bäcker geschickt, um Semmeln für den Sonntag zu holen. Sonst kaufen sie nur Kastenbrot im Konsum. Sie geht immer zu dem armen Bäcker ganz am Ende des Kirchplatzes. Das will die Mutter so, Anna will es auch so. Nur Schwesternküsse aus Eischaum und Zucker kaufen sie beim reichen Bäcker. Der junge arme Bäcker hat eine Kriegskrankheit. Splitter wandern in seinem Körper herum. Manchmal piken sie sich bis zur Haut durch. Dann kann man sie rausziehen. Aber einer kann auch mal zum Herzen wandern. Dann ist es aus mit dem Bäcker. Er muss sterben. Anna denkt viel an ihn. Jede Nacht quälen ihn die Schmerzen, erzählt man sich. Während Anna ruhig einschläft, kann ein Splitter auf das Herz zuwandern. So ungerecht geht es in der Welt zu. Anna macht sich auch Gedanken um die Treppe, die auf dem mit Sand und Erde zugewehten und mit Grasbüscheln bewucherten Grundstück am Kirchplatz stehen geblieben ist. Einmal war dort ein großes Gebäude, der Pilgerhof. Wahrscheinlich ist es über den Menschen zusammengestürzt, und man hat die Trümmer abgetragen. Nur die Treppe blieb übrig. Nun spazieren die Seelen der toten Bewohner von dieser Treppe hinauf in den Himmel und wieder herunter wie die Engel auf der Himmelsleiter, von der Jakob träumte.

      Einmal hat Anna die Mutter ganz für sich allein: als ihr die Wucherungen in einem Dresdener Krankenhaus entfernt werden. Es wuchert in Annas Hals. Sie darf mit der Mutter eine lange Fahrt machen. Erst als sie den Krankenhausgeruch riecht, wird ihr bange. Sie kennt den Geruch, weiß aber nicht woher. Äther, sagt die Mutter. Sie grübelt und wird Tage oder Jahre danach eine Erinnerung haben, die in ihr drittes Lebensjahr zurückreicht: Sie sitzt in einem großen Saal mit vielen Kindern. Alle sind in Eisenbetten. Neben ihrem Bett ist das von Mechthild. Sie bewacht ihre Schwester. Die Eltern werden ihr die Umstände ihres ersten Krankenhausaufenthaltes erklären. Dann ist sie beruhigt über die Kenntnis des Krankenhausgeruchs. Auf einem schwarzen Wachstuchsofa liegt ein Kind und wimmert. Ihm sind schon die Wucherungen rausgenommen worden. Die Mutter redet leise mit Anna. Sie redet schön. Anna nimmt sich fest vor, dass sie es der Mutter nicht schwer machen wird. Im Behandlungsraum ist sie furchtsam und neugierig. Der Arzt mit dem kleinen Spiegel am Kopf gibt ihr eine gebogene rote Schale. Die soll sie unter ihrem Kinn festhalten. Der Arzt greift mit einem Gummihandschuh in ihren Hals. Anna wundert sich, dass sie mit dieser großen Hand im Hals nicht erstickt. Er holt Fleischklumpen aus ihrem Hals und legt sie in die Schale, sodass Anna das Fleisch genau anschauen muss. Die Igelitschürze vom Arzt ist blutbespritzt wie eine Fleischerschürze. Dann liegt Anna auf dem schwarzen Wachstuchsofa wie der Junge, der jetzt nicht mehr da ist. Sie wollte nicht weinen. Aber der Hals brennt, als hätte man Salz auf das rohe Fleisch gestreut. Nach einer Stunde gehen die Mutter und Anna. Anna ist jetzt ihr ganz kleines Kind. Sie fahren bis in die Kreisstadt. Dort gehen sie in einen dunklen Laden. Anna darf sich ein Spielzeug aussuchen. Sie möchte ein Äffchen. Die nächsten Tage muss sie fasten. Erst trinkt sie nur Saft, nachher kriegt sie Pudding.

      Adventszeit. Der Vater ist da. Er übt mit Anna einen Liedvers für die Christvesper ein.

      Ich steh an deiner Krippe hier, o Jesus du mein Leben, ich komme ...

      Ich komme, bring und schenke dir ... sagt der Vater.

      Ich komme bring und schenke dir ... was du mir hast gegeben.

      Nimm hin

      Nimm hin es ist mein Geist und ...

      Mein Geist und Sinn

      Mein Geist und Sinn

      Herz, Seel und

      Herz Seel und Mut nimm alles hin

      Und?

      Und lass dirs wohl gefallen.

      Anna schnurrt den Rest herunter. So ganz versteht sie nicht, was sie da lernt. Herz-Seel-Geist-und-Mut, war nicht alles dasselbe? Sicher nicht ganz. Anna gefallen die schönen, schwierigen Worte. Sie hat eine Vorliebe für schöne, schwierige Worte und schöne, schwierige Töne und freut sich, dass der Vater ihr den Liedvers zutraut. Für ihn ist Anna der kleine drollige Kamerad, den er in seiner späteren Amtszeit so nötig brauchen wird. Zeitig pflanzt er in Anna seine Liebe zu dem Dichter Paul Gerhardt und dem über alles geschätzten Johann Sebastian Bach ein.

      Im Religionsunterricht wird eine kleine Bescherung aus Spenden der Gemeinde ausgerichtet. Die strenge alte Religionslehrerin ruft jedes Kind einzeln auf. Die Kinder dürfen ihre Tüten gleich auspacken. Anna findet in ihrer ein großes Lebkuchenherz vom reichen Bäcker und einen Apfel. Dann fühlt sie etwas Langes, Gestricktes. Sie vermutet einen Schal und wickelt es auseinander. Da könnte sie fast heulen. Es sind lange Wollstrümpfe. Schon jetzt fangen ihr die Beine an zu jucken. Den ganzen Winter wird sie sich halb totkratzen. Lieber hätten sich die Schwestern mit dem Stricken und der guten Wolle nicht so anstrengen und ihr ein Paar billige Baumwollstrümpfe kaufen sollen, die herumschlabbern, wenn sie nur einen halben Tag am Strumpfgummi des Leibchens angeknöpft sind. Viel Gutes konnte aus einer Religionsunterricht-Bescherung sowieso nicht herauskommen. Aber eine richtige Strafe hat Anna nicht erwartet. Anna mag den Religionsunterricht noch weniger als die Schule. Nur aus einem Grund kann sie die Religionslehrerin leiden: weil sie ein Mädchen angenommen hat, das vielleicht von Zigeunern abstammt, so fein und dunkelhäutig sieht sie aus und sagt kaum mal etwas. Leider ist sie nicht in Annas Klasse gekommen. Sonst hätte Anna das Mädchen jeden Tag ansehen können. Später hört Anna, das Mädchen sei ein Russenkind. Davon hätte es viele in Gottshut gegeben. Flüchtlingsfrauen hätten sie den Gottshuterinnen überlassen, sie wurden in ihren Familien aufgenommen und großgezogen.

      In der Kinderchristvesper wandern Saaldiener in dunklen Anzügen und Saaldienerinnen mit weißen Hauben und gehäkelten Umhängen durch die Reihen, während leise die Orgel spielt, fragen die Kinder Liedverse ab, geben ihnen aus einem Kerzenbündel lange, mit grünen Papierröckchen geschmückte Kerzen und zünden sie an. Erst sagt Mechthild ihr Sprüchlein, dann Anna ihr Ich-steh-an-deiner-Krippe-hier. Sie bleibt stecken. Doch der Bruder und der Vater lächeln, und der Vater

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