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Stube durch den dunklen Tunnel und betraten wieder Jaricks geheime Gemächer.

      Stumm rief Jarick nach seinem Ambahta. Kaum dass der Diener das Gemach betreten hatte, überlegte Nela, wie alt Oswin mit seinen grauen Haaren und den unzähligen Falten im Gesicht war, sich aber wie ein junger Mann bewegte, währenddessen Jarick ihn schneidend fragte: „Oswin, weshalb warst du vorhin in meinem Gemach?“ Augenblicklich schaute der Ambahta seinen Ansu alarmiert an.

      „Ansu, Heimdall wünscht, Euch zu sprechen. Ich versicherte, Ihr wäret in Eurer Auszeit, aber sein Bote beteuerte, sein Ansu wüsste, Ihr wäret im Palast Glitnir. Nirgends fand ich Euch, deshalb vermutete ich Euch in diesem Gemach. Doch Ihr wart nicht hier“, begründete Oswin sein Eindringen.

      „Alles, was deine Augen in diesem Gemach sehen und deine Ohren hören, bleibt in diesem Raum“, verlangte Jarick kühl. In seiner Stimme schwang eine unmissverständliche Drohung mit.

      „Gewiss, Ansu“, verbeugte sich Oswin demütig, beachtete Nela nicht, er tat, als wäre sie gar nicht anwesend. Auch wusste der Ambahta nicht, wer sie war, denn Jarick erwähnte sie mit keinem Wort. Erleichtert atmete Nela durch, als sie erkannte, dass Oswin niemals seinen Herrn verraten oder enttäuschen würde.

      In einer schlichten Kutsche brachte Oswin sie unerkannt zu der Himmelsburg. Dort warteten sie in einem Salon mit Wandteppichen, die die neun Welten darstellten. Fasziniert betrachtete Nela die unterschiedlichen Landkarten, von denen sie zwei erkannte: Asgard und Midgard. Eines Tages wollte sie auch zu den anderen Welten reisen.

      „Gervarus“, betrat Heimdall, ein großer, stämmiger Lysane mit einem grimmigen Gesicht, den Raum, „es freut mich, dass Ihr so schnell meiner Bitte gefolgt seid.“

      „Heimdall, die Nornen zeigten mir den Weg zu meinem verloren geglaubten Tor. Es ist nach wie vor nicht für die Öffentlichkeit zugänglich“, entschied Jarick erhaben.

      „So sei es.“ Sodann wandte Heimdall sich Nela zu. „Und Ihr seid?“

      „Lunela Vanadis, zukünftige Großpriorin des Ordens Elhaz in Midgard“, stellte Jarick sie schnell vor.

      „Ach, die unwissende Walküre, von der ganz Asgard und Midgard spricht. Es ist mir eine Freude, Euch willkommen zu heißen“, begrüßte Heimdall sie.

      „Lunela muss zurück nach Midgard“, nannte Jarick den weiteren Grund ihres Besuches, bevor Heimdall eine Frage an Nela stellen konnte. „Ich begleite sie.“

      Die Villa Vanadis

      Das Unwetter auf Helgoland zog sich zurück. Die Sonne hatte den Kampf gewonnen. Mit Ungeduld wartete Tristan am Fenster in der Ferienwohnung auf seine Walküre, die mit dem Lysanen in der verborgenen Höhle verharrte. Noch war es für Nela und Jarick eine brandgefährliche Rutschpartie, den nassen Fels hinaufzuklettern. Besorgt waren Tristans Augen nach draußen gerichtet.

      „Wir kehren nach Lüneburg zurück“, verkündete Till, während er versuchte, den wendigen Waldkauz einzufangen. Doch Winifred schlüpfte ihm immer wieder amüsiert durch die Finger.

      „Was ist mit Nela und Jarick?“, wollte Tristan wissen, während Till bei dem Versuch, den Kauz zu schnappen, einen Stuhl umriss. Laut schepperte das Holz auf dem Boden der Wohnküche, derweil Till mit den Armen rudernd sein Gleichgewicht hielt.

      „Die Zwei sind in Asgard. In ein paar Tagen treffen wir sie in Lüneburg. Bis dahin können wir die Villa mit dem neuesten Sicherheitssystem aufrüsten.“

      Abermals griff Till nach Winifred, aber der Waldkauz flatterte mit einem entsetzten Laut in die andere Ecke des Zimmers. „Winifred“, sprach Till sie genervt an, „Jarick möchte, dass ich dich mit nach Lüneburg nehme.“

      „Wann hast du das erfahren?“, hakte Tristan aufgewühlt nach.

      „Vertrau mir, Nela kommt nach Lüneburg“, antwortete Till, während er erneut mit der Schnelligkeit eines Draugers nach dem flinken Kauz griff. Es war erstaunlich, dass Winifred den schnellen Bewegungen ausweichen konnte. Sie war eben ein ganz besonderer Waldkauz.

      „Ich fasse dich nicht an, Winifred. Versprochen! Kommst du dann freiwillig mit zu Nelas Villa?“ Verwundert blickten Amala und Tristan zu dem Drauger und dem Kauz.

      „U-huu“, stieß Winifred einverstanden aus, sodann ließ sie sich auf die Lehne des Stuhls nieder, den Amala gerade vom Boden aufgehoben und hingestellt hatte.

      ***

      Nur mit großer Überwindung begab Nela sich auf die überdachte Terrasse. Wilder Wein wucherte über das hölzerne Dachgestell, hing an den Seiten gleich einem Vorhang herunter. Davor erstreckte sich der verwinkelte, parkähnliche Garten, den Nelas Mutter so sehr geliebt hatte. Täglich steckte Insa ihre Liebe und Freizeit in ihren bezaubernden Garten, dessen Charme jeden zum Verweilen einlud.

      In mit Feldsteinen eingefassten Beeten blühten die vielfältigsten Blumen. Unkraut wucherte zwischen den verblühten Margeriten. Daneben herrschten uneingeschränkt die prächtigen Hortensien über ihr Hoheitsgebiet. Die edlen Rittersporne welkten mit Spinnennetzen aneinander gebunden, dazwischen wuchs Gras, bedeckte die Erde allmählich mit einem grünen Teppich.

      Versteckt hinter hohen Stauden gedieh trotz der Vernachlässigung der Kräutergarten. Besonders Lavendel stach mit seinen blauen Blüten in der großen, steinernen Kräuterschnecke hervor. Lavendel, der Duft erinnerte Nela an ihre Großmutter Elna.

      Ein Rosenbogen wies den Weg zu dem märchenhaften Bereich des kleinen Parks. Verwilderte Rosen wuchsen zu hohen Büschen, umrandeten die edlen Rosen, die üppig inmitten ungewollter Pflanzen blühten. Dahinter lag die mit Efeu überrankte Laube: der Mittelpunkt jedes Gartenfestes. Dort standen noch unverändert die Gartenmöbel der letzten, tragischen Feier. Rasch wandte Nela ihren Blick ab, streifte die am Rand stehenden Obstbäume. Jedes Jahr freute Nela sich auf die süßen Kirschen, die saftigen Äpfel und leckeren Zwetschgen. Aber in diesem Jahr war alles anders.

      Bedacht schritt Nela an den Rand der erhöhten Terrasse, die stufenweise zur Rasenfläche mit Immergrün und Vergissmeinnicht bepflanzt war. Mit schwitzigen Handinnenflächen ging sie die steinerne Terrassentreppe hinunter, gelangte zu dem kleinen Gartenhain. Im Schutz der Äste stand eine hölzerne Bank.

      Plötzlich entdeckte Nela die gut getarnte Winifred in ihrem gesprenkelten Federkleid, die Augen zu schmalen Schlitzen geschlossen, auf dem Ast einer Linde im Hain. Erfreut über die Gesellschaft ging sie zu dem kleinen Kauz und strich sanft über das braun gemusterte Gefieder des zahmen Vogels.

      „Dies ist dein Lieblingsplatz, oder?“, flüsterte Nela dem Waldkauz zu. Tatsächlich gab Winifred ihr eine Antwort, indem sie einen zufriedenen Laut ausstieß.

      „Ich bin nicht gerne hier, aber ich muss“, fuhr sie beklommen fort, mitfühlend blickte der Kauz sie starr an. „Dies ist der Ort des Schreckens.“ Bedächtig bewegte sich Winifreds Kopf zur Seite, in ihren Augen lag Zuversicht. „Einst war er auch mein Lieblingsplatz“, verriet Nela ihr. „Vielleicht wird er das eines Tages wieder.“

      Ein kaum wahrnehmbares Kopfschütteln deutete der Kauz an, dabei schnürte sich Nelas Kehle unwillkürlich zu. Natürlich konnte dieser schreiende Garten nie wieder ihr Lieblingsplatz werden, nicht nach diesem furchtbaren Massaker. Doch sie musste sich ihrer Furcht stellen, damit sie an diesem Ort ein angstfreies Leben führen konnte. Vor ihrem Zuhause durfte sie keine Angst haben, sonst würde es nie ein wirkliches Heim sein, das Geborgenheit und Sicherheit ausstrahlte, die diese Zufluchtsstätte brauchte.

      Jaricks mahnende Worte hallten in ihrem Kopf: „Verdamme diesen Garten nicht dazu, ewig ein Ort des Schreckens und des Todes zu sein. Gib diesem Ort die Chance, erneut zu dem zu werden, was er war: ein wunderschöner Garten.“ Nela bezweifelte, je wieder diesen Garten als wunderschön betrachten zu können, denn das Massaker an ihrer Familie und die Flucht vor den Mördern würden an diesem Ort stets gegenwärtig sein.

      Uneingeschränkt wollte Nela in Zukunft leben, doch dazu musste sie die grausamen Geschehnisse der Vergangenheit überlassen.

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