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an diesem Tag Eisregen auf Monstedt niedergehen ließ. Er hatte sich geschworen, nie wieder einen Fuß über die Schwelle von Redanshaim zu setzen. Dennoch saß er hier neben Munia im Salon. Der rote Überzug des Sofas war immer noch derselbe wie vor vier Jahren. Schweigend widmete Wiralin dem Weinglas in seiner Hand unnötig große Aufmerksamkeit. Er täuschte die Müdigkeit eines Reisenden vor, um Munias Lächeln nicht sehen zu müssen. Dieses Lächeln versuchte, Fürsorglichkeit vorzutäuschen, und sprach doch nur von Selbstzufriedenheit. Niemand anderer hatte die Narbe in seinem Gesicht so unverhohlen gemustert wie Munia. Und niemand anderer würde sich so an diesem Anblick weiden wie sie.

      „Sag mir, wie kommst du damit zurecht?“ fragte Munia zuletzt. Wieder legte sie ihre Hand sanft auf seine rechte Wange.

      Wiralin parierte den Reflex, der Berührung auszuweichen. Erst nach einigen Augenblicken nahm er einen Schluck Wein, um Munias Hand zu entkommen.

      „Ich bin ein Soldat. Wunden und Narben gehören zum Soldatenleben dazu.“ Seine raue Stimme klang selbst in seinen Ohren nicht überzeugend.

      Munia wurde sarkastisch: „Ja, ja. Der Ruhm des Soldatenlebens! Ein Auge zu verlieren ist natürlich viel besser als ein sorgloses, sicheres Leben zu führen.” Nach einer kurzen Pause rückte sie noch ein Stück näher. Diesmal legte sie ihre Hand auf sein Knie. „Ich werde nicht sagen, dass es dir recht geschieht – es schmerzt mich zutiefst, dich derart zerstört zu sehen! Aber es würde mir viel bedeuten, wenn du inzwischen eingesehen hättest, dass du äußerst undankbar warst, als du plötzlich beschlossen hast, zum Heer zu gehen.“

      Wiralin stand auf, um die Rücken einiger Bücher im Regal näher zu betrachten. Kein einziger Buchtitel drang bis in sein Gehirn vor. „Ich habe damals meine Pflicht gegenüber Linland erfüllt und tue es immer noch. Als die Ronn an der Nordostgrenze auftauchten, musste ich mein Land gegen diese neue Gefahr schützen. Ist die Sicherheit Linlands nicht wichtiger als ein sorgloses, sicheres Leben?“

      Munia breitete ihre Arme über die Lehne des Sofas aus, als ob sie nur darauf gewartet hätte, allen Platz für sich zu haben. Doch ihr Ton troff vor verletztem Stolz: „In deinem Taumel von Heldenhaftigkeit hast du allerdings etwas Wichtiges vergessen: Wem du es zu verdanken hast, dass du solche hehren Pflichten für Linland auf dich nehmen kannst. Wenn ich nicht mit fast übermenschlicher Großzügigkeit über deinen... jugendlichen Leichtsinn hinweggesehen hätte, wäre dir eine ganz andere Karriere bevorgestanden – nämlich die eines Sträflings im Kerker. Oder bestenfalls in einem Steinbruch.“

      Die mühsam aufrecht erhaltenen Bollwerke brachen. Lange verbannte Erinnerungen stürmten auf Wiralin ein.

      Sein Vater war ein Tagelöhner in einem Dorf nahe Monstedt gewesen. Nach dem frühen Tod seiner Frau hatte er seinen Sohn die meiste Zeit sich selbst überlassen. Der einzige ständige Begleiter des Heranwachsenden war der Hunger gewesen. Bald hatte Wiralin sich tagsüber aus der winzigen, dunklen Hütte in den Wald um das Gut Redanshaim geflüchtet. Der Wald bot im Sommer Beeren, Pilze und Nüsse. Und das ganze Jahr über huschte Kleinwild über den Boden und über die Baumstämme. Wiralin begann mit einer Steinschleuder, dann baute er sich immer bessere Bögen und Pfeile. Damit brachte er Hasen, Eichhörnchen und Hühnervögel zur Strecke, später auch Rotwild. Mit fünfzehn wurde er von Munias Jäger ertappt. Der Jäger führte den Wilderer seiner Herrin vor. Munia ging lange Zeit um ihn herum, betrachtete ihn von allen Seiten und schwieg mit hoheitsvoller Miene. Wiralin erwiderte abwechselnd trotzig ihren Blick oder starrte wie betäubt zu Boden. Diese Frau, die sein Leben in ihren Händen hielt, erschien ihm ebenso unwirklich wie ihr prächtiges Herrenhaus. Eine Gefahr stand ihm jedoch klar vor Augen: In Monstedt eingekerkert zu werden. Danach dürfte er sich nicht einmal mehr Hoffnungen darauf machen, sich wie sein Vater als ehrlicher Tagelöhner durchzuschlagen. Doch dann blieb die faszinierende Herrin von Redanshaim vor ihm stehen.

      „Wie kann ein so schöner Junge nur so böse sein?“ lauteten ihre ersten Worte. „Beweise mir, dass du ebenso gut sein kannst wie du schön bist, und ich werde über diesen einen Fehler hinwegsehen.“

      Redanshaim wurde von einer Traumvision zur Wirklichkeit und riss Wiralin mit sich fort. Munia nahm den ertappten Wilderer als ihren Pagen auf und sorgte dafür, dass er auch den Unterricht eines Pagen erhielt. Wenig später holte sie ihn in ihr Bett. Wiralin fand sich in einem Strudel aus Angst, Aufregung, Schuldgefühl, Stolz, Selbstverachtung, Liebe und Hass wieder. Je älter er wurde, desto mehr drohte ihn der Strudel zu zerreißen. Sein Widerwille dagegen, seiner Herrin völlig ausgeliefert zu sein, wuchs bis an die Grenze des Erträglichen. Dennoch schreckte er vor dem Leben eines Tagelöhners – oder gar eines Sträflings – zurück. Der Ruf nach neuen Soldaten für den Kampf gegen die plötzlich aufgetauchten Ronn kam wie eine Erlösung. Wiralin war ein besserer Bogenschütze als je zuvor. Während seines Lebens im Herrenhaus hatte er die Jagd nie aufgegeben, und natürlich schoss er schon lange nicht mehr mit selbstgefertigten Waffen. Er wusste, dass er nur als einfacher Bogenschütze in das Heer aufgenommen werden würde. Aber er hatte in Redanshaim viel gelernt. Er würde aufsteigen. Niemand würde einen fähigen, gebildeten Soldaten fragen, ob er einmal gewildert hatte. Mit eiserner Entschlossenheit trat er vor Munia hin, um ihr mitzuteilen, dass er sich als Soldat gemeldet hatte. Noch am selben Tag verließ er Redanshaim – mit nichts als den Kleidern, die er am Leib trug. Begleitet wurde er nur von dem kalten Hohn seiner bisherigen Herrin. Munia hatte ihn einen undankbaren, dummen Jungen genannt und ihm prophezeit, dass er noch auf Händen und Knien darum betteln würde, wieder in ihr Haus aufgenommen zu werden.

      Wiralin schloss sein Auge. Das erste Jahr beim Heer war tatsächlich hart gewesen. Er hatte die bittere Erfahrung machen müssen, dass selbst der hervorragendste und gebildetste Bogenschütze ein Niemand war, wenn er weder über einen Namen noch über Geld verfügte. Erst Ulante hatte mehr in ihm gesehen, und ihn zu ihrem Obersten Bogen gemacht, nachdem sie Generalin geworden war. Munia hatte verloren. Sie würde ihn niemals vor ihr kriechen sehen – niemals wieder.

      Wiralin wandte sich um, damit er Munia ins Gesicht blicken konnte. „Ich habe nicht vergessen, dass du mich damals vor dem Kerker bewahrt hast. Aber ich bin davon überzeugt, dass mein Heeresdienst eine viel sinnvollere Buße für meinen jugendlichen Leichtsinn ist als mein Dienst im Haus einer Gutsherrin es war. Als echte Linländerin müsstest du es mit Stolz sehen, wie der Mann, dem du eine zweite Chance gegeben hast, sein Leben für sein Land einsetzt.“

      Munia ließ ein spöttisches Lachen erklingen. „Du setzt dein Leben für Linland ein, weil du einmal ein Reh gewildert hast? Wie edel! Es war allerdings nicht Linlands Reh, sondern meines! Und ich habe dich nicht vor dem Kerker bewahrt, damit du ein Auge verlierst und für den Rest deines Lebens völlig entstellt herumläufst! Ich wollte das bewahren, was dich eigentlich ausmacht: Du bist – nein du warst! – einer der schönsten Männer Linlands. Vielleicht sogar der Schönste. Nur das hat dich dorthin gebracht, wo du jetzt bist. Du täuscht dich selbst, wenn du etwa anderes glaubst. Der Verlust deiner Schönheit wird deiner Laufbahn beim Heer rasch ein Ende bereiten. Wenn du es bis jetzt noch nicht bemerkt hast, wird es sehr bald offensichtlich werden.“

      Mächtige Hassgefühle wallten in Wiralin auf. „Ich bin der beste Bogenschütze von Linland!“ zischte er zwischen den Zähnen hervor.

      Munia lächelte wie eine langmütige Mutter einen trotzigen Dreijährigen angelächelt hätte. „Auch wenn das wirklich eine Rolle für deine Karriere gespielt haben sollte, ist es damit jetzt vorbei. Du hast nur noch ein Auge!“

      „Ich brauche nicht mehr als ein Auge, um Bogenschützen zu kommandieren!“

      Mitten in Wiralins scharfe Erwiderung tönte der Gong, der zum Abendessen rief. Elegant wie immer erhob die Herrin von Redanshaim sich vom Sofa.

      „Mein lieber Wiralin,“ flötete sie mit geheuchelter Teilnahme. „Das glaubst du doch selbst nicht!“

      Eine Hand packte Erdree an der Schulter und rüttelte sie. Mit jagendem Puls fuhr die Glasbrecherin auf und drückte sich gegen die Wand, um der unsanften Berührung zu entkommen. Durch das kleine Fenster fielen erst die frühesten Anzeichen der Morgendämmerung.

      „Aufstehen!“ tönte Wiralins kalte Stimme. „Wir müssen die Zeit aufholen, die wir gestern verloren haben.“

      Verzweifelt

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