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sie sich über ihn lustig machen durften! Zuerst diese scheinheilige Frage der Magd, ob er Wiralin sei! Als ob Uto ihr nicht den Auftrag gegeben hätte, den Einäugigen zu suchen und ihn zu fragen, wann er abfahren wollte! Es fiel diesem Kerl ja wirklich nicht schwer, seinen Herren eindeutig zu beschreiben! Und dann auch noch die Komödie des Mädchens wegen seiner Waffen! Als ob seine Entstellung nicht deutlich genug kundtäte, warum er keinen Bogen und keinen Köcher bei sich trug! Gerne hätte Wiralin seinem Zorn bei seiner Kontrollrunde um den Wagen Luft gemacht. Aber alles war in Ordnung. Sogar die Maultiere waren sorgfältiger gestriegelt worden als sonst.

      „Guten Morgen, Herr!“ posaunte Uto vom Kutschbock herunter. „Irgendwelche Befehle für heute? Dort vorne, vom Rand des Dorfes an, führt die Straße eine Strecke bergauf – sollen die Maultiere auf dieser Strecke entlastet werden? Sollen wir zu Fuß gehen?“

      Wiralin trat auf die Straße hinaus, um die Steigung zu betrachten. „Das ist nicht so schlimm,“ gab er zurück. „Im Schritt schaffen es die Maultiere mit dir und der Glasbrecherin im Wagen schon. Ich werde nebenher gehen. Mir ist ein kleiner Marsch gerade äußerst willkommen.” Wiralin wollte bereits wieder in Schweigen versinken, als ihm noch etwas einfiel: „Wenn wir irgendwo halten, Uto, hab mir ein Auge auf die Glasbrecherin! Dieses Völkchen, das in Mooresruh wohnt, ist völlig hilflos, und in den Gasthöfen wimmelt es immer von Abschaum.“

      „Hilflos?“ Uto lachte. „Ein Glasbrecher braucht nur zu schreien, und alles rennt davon!“

      Wiralin fixierte seinen Wagenführer mit einem kalten Blick, bis Uto wieder eine ernste Miene aufsetzte.

      „Natürlich kann ein Glasbrecher sich mit einem Schrei verteidigen.” Um nichts in der Welt hätte Wiralin verraten, dass erst Uto ihn auf diesen Gedanken gebracht hatte. „Aber nur dann, wenn er auch genug Mut und Geistesgegenwart hat, um tatsächlich zu schreien. Ich bin nicht sicher, ob einer dieser elenden Glasbrecher so viel Mut und Geistesgegenwart hat. Diese hier“ – er deutete mit dem Kopf auf die Gestalt, die soeben aus dem Verschlag neben dem Stall kam – „hat sie bestimmt nicht. Sie fürchtet sich schon vor völlig harmlosen Leuten und wird starr vor Angst, wenn ihr jemand zu nahe kommt.“

      „Sie wird aber auch ziemlich angestarrt wegen ihrer komischen Kleider.“ Uto malte mit seinen Händen die Kontur eines Kartoffelsacks in die Luft. „Wer trägt schon solche Kutten wie die Glasbrecher?“

      Wiralin winkte ab. „Das kann ich nicht ändern. Außer, du willst mit ihr die Kleider tauschen.“

      Insgeheim war Wiralin zutiefst erleichtert, dass niemand erkannt hatte, was sich hinter dieser jämmerlichen Gestalt verbarg. Mooresruh lag erst eine halbe Tagesreise hinter ihnen. Es hätte ihn keineswegs überrascht, wenn den Dorfbewohnern beim ersten Blick auf die Kutte klar gewesen wäre, wen sie vor sich hatten. Als Oberster Bogen des Linländer Heers musste er zwar keine Fragen beantworten, aber er konnte kein Gerede brauchen. Solange die seltsame Kutte keine Erinnerungen an die Glasbrecher weckte, war es egal, ob sie auffiel oder nicht. Aber er konnte eben nicht sicher sein, dass niemand die Kutte erkennen würde. Genau deshalb sollte die Glasbrecherin sich möglichst von anderen Linländern fernhalten. Und genau deshalb sollte Uto darauf achten, dass sie möglichst wenig mit anderen Linländern in Kontakt kam. Wiralin hatte nicht die geringste Lust dazu, über die Glasbrecherin zu sprechen – oder gar ihre Haut zu retten, wenn es wegen dieser jämmerlichen Gestalt zu Problemen kommen sollte. Freilich könnten seine Sorgen schneller vorbei sein als er geglaubt hatte. Beim Anblick der totenblassen Glasbrecherin zweifelte Wiralin daran, dass sie die Reise nach Glynwerk überstehen würde. Trotzdem konnte er es sich nicht erlauben, sie zu schonen. Welchen Dienst Ulante auch immer für die Glasbrecherin im Sinn hatte – sie konnte ihn nur dann erfüllen, wenn sie das Leben beim Heer durchstand. Diese Reise gehörte bereits zum Leben beim Heer. Und auf alle Fälle galt: Je schneller sie Glynwerk erreichten, desto besser. Ungeduldig signalisierte Wiralin der Glasbrecherin, in den Wagen zu steigen. Kaum war sie drinnen, warf er die Tür zu.

      „Und los!“

      Wiralin klopfte einem der Maultiere auffordernd auf den Rücken. Die Aussicht auf den Fußmarsch tat ihm gut. Lange Wagenfahrten waren ihm zuwider. Zum hundertsten Mal verwünschte Wiralin das Pech, dass sein Pferd am Abend vor dem Aufbruch nach Mooresruh zu lahmen begonnen hatte.

      Der zweite Reisetag verlief wie der erste. Erdree litt unter der Kälte, unter dem Rütteln und unter den vielen Bildern, die unablässig vor ihren Augen vorüberzogen. Wie am Vortag verboten ihr die Fensterscheiben, auch nur die zaghafteste Frage zu stellen. Wiralin saß ihr gegenüber, als ob er völlig allein wäre. Gegen die Strapazen, die auf Erdree einprügelten, schien er völlig unempfindlich zu sein. Die Mittagspause am Straßenrand half Erdree kaum. Draußen war es noch kälter als im Wagen. Die wenigen Bissen, die Erdree von dem Proviant hinunterbrachte, blieben ihr wie Steinbrocken im Magen liegen. Im Lauf des Nachmittags schwoll ihr Hals schmerzhaft zu. Bald darauf wurde sie außerdem von Hustenreiz gequält. Ihre Kopfschmerzen hatten längst wieder mit voller Heftigkeit eingesetzt. Jedes Geräusch schnitt mit glühenden Klingen durch ihren Schädel. Alles verschwamm vor Erdrees Augen. Die Stunden bis zum Einbruch der Dunkelheit vergingen in einem wirren Zustand, in dem Erdree mal die eine, mal die andere Plage am stärksten fühlte. Am Abend, als sie endlich vor einem Gasthaus hielten, gelang es Erdree kaum noch, dem Wagen zu entkommen. Wenn sie eine weitere Nacht in einer stickigen, lauten Gaststube hätte verbringen müssen, wäre sie wahrscheinlich wahnsinnig geworden. Doch diesmal konnten die Wirtleute Wiralins Wunsch nach einem Zimmer erfüllen. Erdree kroch sofort in eines der Betten und wickelte sich so fest wie möglich in die Decke. Ihr Nachtmahl bestand aus einem Krug heißer Milch. Etwas anderes vermochte sie nicht durch ihren geschwollenen Hals in ihren gereizten Magen zu zwingen. Bald wünschte sie, dass auch noch ihre Ohren zuschwellen würden. Obwohl der Lärm aus der Gaststube nur gedämpft in das Zimmer vordrang, ließ er Erdree nicht zur Ruhe kommen. Wiralin blickte alarmiert auf, als sie plötzlich das Messer an sich riss, das neben dem Abendbrottablett liegen geblieben war. Stirnrunzelnd beobachtete er, wie Erdree die Enden der dünnen Kordel absäbelte, die sie als Gürtel trug. Nachdem sie neue Knoten in die Kordel geschlungen hatte, damit sie sich nicht auflösen würde, stopfte Erdree die abgeschnittenen Enden in ihre Ohren. Auf diese Weise trotzte sie der Nacht in dem muffigen, harten Bett zumindest einige Stunden Schlaf ab.

      Nach und nach stumpfte Erdree gegen die einzelnen Elemente ihrer Qual ab. Den dritten und vierten Reisetag verbrachte sie in einer Blase aus diffusem, immer tieferem Unwohlsein, die von Zwängen durchsetzt war. Erdree zwang sich dazu, einige Bissen und Schlucke von dem zu nehmen, was man vor sie auf den Tisch stellte. Sie zwang sich dazu, zum Wagen zu stolpern und sich auf eine Sitzbank zu hieven. Sie zwang sich dazu, dort sitzen zu bleiben. Sie zwang sich dazu, einen Atemzug nach dem anderen zu nehmen. Sie zwang sich dazu, den Husten zu unterdrücken, der in ihrer Brust schmerzte und die Fensterscheiben klirren ließ.

      Als Erdree in der Abenddämmerung des vierten Tages von plötzlichem Rufen aufgeschreckt wurde, war sie nicht sicher, ob sie geschlafen hatte, oder ob sie bewusstlos gewesen war. Benommen sah sie zu, wie Wiralin aus dem Wagen sprang und plötzlich das Gleichgewicht verlor. Er wäre wohl gestürzt, wenn er sich nicht am Türrahmen festgehalten hätte.

      „Vorsicht, Herr,“ drang Utos Stimme vom Kutschbock her. „Dieser verdammte Eisregen hat die Straße spiegelglatt gemacht. Bei normalem Regen sind solche Pflasterstraßen besser als alle anderen Straßen. Aber bei Eisregen sind sie schlimmer als die schlammigste Landstraße. Ich mache mir Sorgen um die Maultiere. Wenn eines der Tiere stürzt, oder der Wagen ins Rutschen kommt und die Tiere mitreißt, ist es aus. Und bis nach Monstedt sind es noch eineinhalb Stunden – das heißt: Es wären etwa eineinhalb Stunden bis Monstedt, wenn wir ein normales Tempo fahren könnten...“

      Ohne den Türrahmen loszulassen, testete Wiralin den Halt seiner Füße auf der Straße. Seine Miene verhärtete sich noch mehr. „Ich verstehe deine Sorge, Uto. Aber wir haben keine Wahl. Der Eisregen hält vielleicht bis morgen Früh an, und wir können nicht auf der Straße übernachten. Fahr so langsam wie möglich. Wenn ich mich recht erinnere, ist die Straße nach Monstedt ziemlich eben. Also ist die Gefahr, dass der Wagen ins Rutschen gerät und die Maultiere mitreißt, ziemlich gering.“

      „Eine Wahl hätten wir,“ ließ Uto sich wieder vernehmen.

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