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aber nur kurz. Dann begann sich ihr Magen zu beruhigen. Als sie den stinkenden Abort verließ, glaubte Erdree, von der anderen Seite des Stalls her Wasserplätschern zu vernehmen. Tatsächlich fand sie einen ausgehöhlten Baumstamm, der Wasser aus einem dünnen Rohr auffing. Es musste Quellwasser sein. Sauberes Wasser. Vorsichtig trank Erdree einige Schlucke aus ihren hohlen Händen. Die eisig kalte Flüssigkeit brachte ihren Magen erneut dazu, sich zusammenzukrampfen. Erdree drängte sich zu tiefen, ruhigen Atemzügen und lauschte dem gleichmäßigen Plätschern des Wassers. Bald setzte ihr die Winterkälte wieder zu. Unschlüssig wandte Erdree sich von dem Brunnen ab. Der Gedanke, wieder in die überfüllte, laute Gaststube zurückzukehren, ließ sie ebenso stark schaudern wie die Kälte. Nach einigen Augenblicken schlüpfte sie in den Stall. Zu ihrer Erleichterung empfing sie nichts als Dunkelheit und Stille. Bis auf das gelegentliche Stampfen und Schnauben eines Pferdes oder eines Maultiers war alles ruhig. Die Pferdeknechte und die Wagenführer schienen alle in der Gaststube zu sein. Es war kalt im Stall, aber nicht so kalt wie draußen. Erschöpft stützte Erdree ihre verschränkten Arme auf eine der Boxentüren und legte ihren Kopf darauf. Aus der Futterkrippe im Inneren der Box stieg ihr angenehmer Heugeruch in die Nase. Ein Pferd beschnupperte sie neugierig, doch sie störte sich nicht daran. Endlich ein Ort ohne Tumult und ohne neue Bilder, die ihr Kopf nicht mehr zu fassen vermochte. Erdree wusste nicht, wie lange sie so gestanden war, als die Stalltür geöffnet wurde. Im Licht der Windlaterne, die vor dem Stall hing, erkannte Erdree die Gestalt des Boten. Sofort wurden das flaue Gefühl in ihrem Magen und das Pochen hinter ihren Schläfen stärker.

      „Ich würde dir raten, nicht allein herumzuwandern,“ ertönte seine kühle Stimme. „Außer, unangenehme Begegnungen mit Betrunkenen machen dir nichts aus. Dann möchte ich dich natürlich nicht aufhalten. Ich bin jedenfalls in der Gaststube, Glasbrecherin.“

      „Erdree,“ flüsterte sie mechanisch.

      Der Bote hatte sich bereits zum Gehen gewandt und blickte über seine Schulter zurück. „Was war das?“

      „Erdree,“ wiederholte sie, kaum lauter. „Mein Name ist Erdree.“

      Ohne ein weiteres Wort trat der Bote wieder ins Freie. Erdree konnte nicht sagen, ob er mit dem Kopf genickt hatte, oder ob sein Blick aus einem anderen Grund zu Boden geschweift war. Mit einem tiefen Seufzen folgte sie ihm. Der Gedanke an die Gaststube war ihr immer noch verhasst. Aber der Stall schien eben nicht der sichere Zufluchtsort zu sein, für den sie ihn gehalten hatte.

      Die Nacht wurde zu einer einzigen Qual. Stundenlang kauerte Erdree in der hintersten Ecke der Gaststube und versuchte vergeblich, sich gegen den Tumult abzuschirmen. Tränen der Verzweiflung standen bereits in ihren Augen, als die Wirtin endlich die Dorfzecher nach Hause schickte. Nun wurden einige Tische beiseite geschoben und Strohsäcke für jene Reisenden ausgerollt, die sich entweder kein Zimmer leisten konnten, oder keines mehr ergattert hatten. Dankbar streckte Erdree sich auf einem der Säcke aus. Doch die Tortur war keineswegs zu Ende. Kopfschmerzen, Übelkeit und lautes Schnarchen hielten den Schlaf fern. Gleichermaßen übermüdet wie ruhelos warf Erdree sich von einer Seite auf die andere. Zuletzt drang auch noch die nächtliche Kälte in die Gaststube vor und ließ die Glasbrecherin wieder zu einem Eisblock erstarren. Die ersten Geräusche aus der Küche hörte Erdree halb erleichtert, halb ungläubig. Sie war nicht sicher, ob sie auch nur eine Stunde geschlafen hatte. Wenig später erhob sich der Bote von seinem Strohsack. Kaum hatte er an einem der Tische im vorderen Teil der Gaststube Platz genommen, erschien auch schon eine junge Magd, um Frühstück zu bringen. Mühsam rappelte Erdree sich auf. Bestimmt würde der Bote sie bald dazu drängen, aufzustehen. Und es machte ohnehin keinen Sinn, noch länger schlaflos auf diesem Strohsack auszuharren. Auf bleiernen Füßen tappte Erdree durch die Gaststube. Allein ihre Augen offen zu halten war schwer. Sie brach mehr auf der Bank am Frühstückstisch zusammen, statt sich hinzusetzen. Das bernsteinfarbene Auge des Boten richtete sich nur flüchtig auf sie. Trotzdem erkannte Erdree die pure Verachtung in seinem Blick. Betreten senkte sie den Kopf. Nicht einmal sie hatte geglaubt, dass sie die traurige Wahrheit über die Glasbrecher so bald und so eindeutig beweisen würde. Wie viele Tage würde sie fern von Mooresruh überstehen? Zwei? Drei? Jedenfalls nicht genug. Linland rief die kräftigste Glasbrecherin in seinen Dienst, und diese Glasbrecherin würde nicht einmal die Reise an jenen Ort überstehen, wo sie ihren Dienst tun sollte. Sie verachtete sich selbst nicht weniger als dieser Bote, der ausgeruht und energisch vor ihr saß. Aus reiner Verlegenheit griff Erdree nach einem Stück Brot und begann, darauf herumzukauen. Sie war bereits über jegliches Hungergefühl hinaus. Von Appetit konnte erst recht keine Rede sein. Im Gegenteil – der Geruch des gebratenen Specks, den die Magd gerade hereinbrachte, ließ das flaue Gefühl in Erdrees Magen wieder aufleben.

      „Seid Ihr Wiralin?“ erkundigte die Magd sich bei dem Boten.

      Er nickte mürrisch.

      „Euer Wagenführer lässt fragen, ob er schon anspannen soll.“

      „Ja. Wir werden sofort nach dem Frühstück aufbrechen.“

      Der Ton des Boten war genauso harsch wie seine Miene. Erdree zog unwillkürlich die Schultern hoch und rieb sich die Schläfen. Die tiefe Verachtung, die der Bote für sie empfand, färbte anscheinend sogar auf diese freundliche Magd ab.

      „In Ordnung, ich werde es Eurem Wagenführer sagen.“

      Zu Erdrees Erleichterung blieb die Stimme der jungen Frau fröhlich. Dieselbe Stimme erklang im nächsten Moment direkt neben ihr:

      „Habt Ihr Kopfschmerzen? Ich kann Euch gerne einen Kräutertee bringen, der dagegen hilft.“

      Erdree hob vorsichtig ihren Blick – war etwa sie gemeint? Tatsächlich sah die Magd sie erwartungsvoll an. Vor Überraschung erschrak Erdree beinahe. Hastig nahm sie sich zusammen und vergewisserte sich, dass es in der Gaststube ruhig genug war, um ihren Mund aufzumachen.

      „Ja, ich hätte gerne einen Tee – gegen die Kopfschmerzen. Vielen Dank.“

      „Und Ihr seid auch noch so erkältet, dass Ihr nur noch flüstern könnt!“ Voller Mitgefühl schüttelte die Magd den Kopf. „Da wird Euch der Tee gleich doppelt guttun – dem Kopf und dem Hals!“

      Der Tee half Erdree mehr als sie erwartet hatte. Er linderte die Kopfschmerzen zwar nicht sofort, aber ihre Augenlider schienen leichter zu werden. Sie fühlte sich wieder imstande, halbwegs aufrecht am Tisch zu sitzen. Nach der zweiten Scheibe Brot griff Erdree zwar mehr aus Entschlossenheit denn aus Appetit, aber ihr Magen rebellierte nicht dagegen. Sogar Butter und Honig nahm er ohne Beschwerden hin. Als der Bote – Wiralin – aufstand und Erdree auffordernd ansah, war ihre Erschöpfung keineswegs verschwunden. Aber zumindest löste die Vorstellung, sich wieder in den Wagen setzen zu müssen, kein blankes Entsetzen mehr aus. Nur leichtes Unbehagen.

      Wiralin nahm ein Proviantbündel von der Magd entgegen und beglich die Rechnung für die Übernachtung. Mit einem gemurmelten Abschiedsgruß wandte er sich zur Tür.

      „Vergesst Euren Bogen und Euren Köcher nicht!“ Die Magd sah sich alarmiert in der Gaststube um, als müssten die genannten Waffen irgendwo an der Wand lehnen.

      Wiralin warf einen stechenden Blick über seine Schulter. „Mädchen, ich würde niemals meinen Bogen und meine Pfeile irgendwo vergessen!“ Im nächsten Moment war er bereits durch die Tür verschwunden.

      Verwundert blickte die Magd ihm nach. „Hat er seine Waffen etwa im Wagen gelassen? Ich meine – er ist doch ein Bogenschütze, oder? Er trägt die Uniform eines Bogenschützen – eine gepolsterte Lederweste über einem grünen Hemd und braune Hosen aus Leder! Aber welcher Linländer Soldat würde seine Waffen an einem Ort lassen, wo er sie nicht im Blick hat?“

      Erdree hob hilflos die Schultern. Sie hatte keine Waffen gesehen, weder im Wagen noch sonst wo. Ihr war nicht einmal klar gewesen, was Wiralins Uniform bedeutete. Sogar seinen Namen hatte sie gerade erst erfahren.

      Zum Glück winkte die Magd sogleich ab. „Ach, ich vergaß, dass Ihr erkältet seid! Schont Eure Stimme, es ist ja nicht so wichtig. Gute Reise wünsche ich Euch!“

      Mit einem freundlichen Lächeln eilte die Magd zurück in die Küche. Erdree wäre ihr gerne gefolgt. Stattdessen

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