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Im nächsten Moment fühlte Erdree sich wie zurückgestoßen. Der Blick des Mannes war voller Härte und Kälte, wie die Oberfläche eines zugefrorenen Teichs. Erdree empfand es beinahe als Erleichterung, dass sie nur einen eisigen Spiegel sah. An der Stelle des rechten Auges saß die Narbe einer bösen, aber gut verheilten Wunde. Unwillkürlich zog Erdree die Schultern hoch. Mit gesenktem Kopf folgte sie der stummen Aufforderung des Boten, in den Wagen zu klettern. Es erschien ihr unrecht, ohne ein Wort oder eine Geste der Begrüßung durch die aufgehaltene Tür zu verschwinden. Aber der kalte Blick dieses Mannes hatte sie geradezu betäubt. Nicht einmal ihre Füße wollten sich vom Boden lösen und auf die Trittstufen steigen. Ungeschickt zwängte Erdree sich in das Innere des Wagens. Nur damit sie nicht im Weg wäre, ließ sie sich schnell auf eine der beiden Bänke plumpsen. Sie wusste nicht, ob es ihr freistand, ihren Sitzplatz zu wählen. Gleichzeitig wagte sie es nicht, einen Blick auf den Boten zu werfen, um herauszufinden, ob er ihr ihre Dreistigkeit übel nahm. Angespannt wartete Erdree auf eine Zurechtweisung, doch nur ein kurzer Befehl an den Kutscher ertönte. Auf der gegenüberliegenden Bank nahm der Bote schweigend Platz. Plötzlich wirkte die Kabine noch enger. Ein Ruck ging durch den Wagen, als die Maultiere anzogen. Die Räder begannen über den gefrorenen Schlamm zu knirschen. Erdree erhaschte nur noch einen flüchtigen Blick auf Mooresruh, bevor sich eine leere Sumpflandschaft vor ihren Augen ausbreitete. Ihre Kehle wurde eng, während ein Kälteschauer durch ihren Körper rieselte. So wie sie sich jetzt fühlte, musste sich eine Schnecke fühlen, die gerade aus ihrem Haus gezerrt worden war – nackt und völlig schutzlos.

      Zu dem diffusen Entsetzen, das sich bei der Abfahrt in Erdree ausgebreitet hatte, kamen bald weitere Nöte. Ihre Kleidung bot nicht genug Schutz gegen die Kälte, die durch die Ritzen des Wagens drang. Irgendwann begann Erdree, zu zittern – mal mehr, mal weniger heftig. Das stetige Vorüberziehen der Landschaft machte sie schwindlig. Manchmal ertrug sie es nicht länger und schloss ihre Augen. Aber dann nahm sie das Gerüttel des Wagens, ihre Übelkeit und ihre schmerzenden Glieder nur noch deutlicher wahr. Der Bote der Generalin saß völlig unberührt. Seine langen Beine erlaubten es ihm, sich unter Erdrees Bank an der Wagenwand abzustützen. So wurde er weniger durchgerüttelt. Obwohl sein Mantel nur lose um seine Schultern lag, schien er auch die Kälte nicht zu spüren. Wenn er nicht vor sich hindöste, starrte er aus dem Fenster, als ob er völlig allein wäre. Beim Einfall der Dämmerung wurde Erdree nur noch von einem Wunsch beherrscht: Dass die Reise bald enden möge. Allzu gerne hätte sie gefragt, wie lange die Fahrt an diesem Tag noch dauern sollte. Doch ein Flüstern wäre im Gerumpel des Wagens untergegangen, und einen lauteren Ton durfte sie sich wegen der Fensterscheiben nicht erlauben. So war sie dazu verurteilt, schweigend auszuharren. Inzwischen hatten sich noch dumpfe Kopfschmerzen zu allen anderen Übeln gesellt. Aber wenigstens zitterte sie nicht mehr so stark. Wahrscheinlich hatte sie sich an die Kälte gewöhnt. Erst als der Wagen endlich hielt und der Bote ausstieg, erkannte Erdree ihren Irrtum. Sie hatte sich nicht an die Kälte gewöhnt. Sie war inzwischen völlig erstarrt. Es kostete Erdree all ihre Willenskraft, ihre Knie zu strecken und mit tauben Fingern nach dem Rahmen der Wagentür zu tasten. Prompt verfehlte sie beim Aussteigen die Trittstufe und landete auf Händen und Knien im Schotter auf dem Vorplatz einer Herberge. Der Bote blickte nicht einmal von seinem Gespräch mit dem Wagenführer auf. Erdree musste allein wieder auf die Beine kommen. Sie war zu erschöpft, um den Schmerz in ihren aufgeschlagenen Handflächen zu fühlen. Blindlings taumelte sie dem Boten hinterher, der nun den Eingang der Herberge ansteuerte. Auf der Schwelle prallte Erdree gegen eine Wand aus fettigem Dunst und Lärm. Nach einer Schrecksekunde durchbrach sie diese Wand nur wegen der Wärme, die aus der überfüllten Gaststube drang. Der Bote ließ einen abschätzigen Blick über das Durcheinander von Zechern gleiten. Mit sichtlichem Widerwillen wandte er sich der Wirtin zu, die dienstfertig heraneilte. Erdree fürchtete für einen Augenblick, dass er auf der Ferse kehrt machen würde und sie in den Wagen zurückkehren müsste. Der Gedanke an die Maultiere beruhigte sie ein wenig. Die Tiere würden auf jeden Fall eine Rast brauchen. Über den Lärm hinweg konnte Erdree hören, wie der Bote nach einem Zimmer fragte.

      Die Wirtin schüttelte den Kopf. „Die Zimmer sind alle belegt. Ich kann nur mehr Strohsäcke hier in der Gaststube als Nachtlager anbieten.“

      Die starre Miene des Boten wurde noch missmutiger. „Ich werde zwei Strohsäcke brauchen – ich nehme an, dass mein Kutscher im Stall schlafen kann?“

      „Natürlich.“ Die resolute Freundlichkeit der Wirtin blieb ungebrochen.

      Der weitere Wortwechsel zwischen dem Boten und der Wirtin ging in plötzlichem Gegröle unter. Als die Wirtin davonhastete, ging der Bote zu einem Tisch, an dem noch zwei Plätze frei waren. Erdree folgte ihm mit einigen Schwierigkeiten. Die Wärme, die langsam in ihre tauben Glieder kroch, hatte das heftige Zittern zurückgebracht. Krampfhaft presste Erdree ihre Kiefer aufeinander, um zumindest ihre Zähne vom Klappern abzuhalten. Je mehr die Kälte wich, desto mehr fühlte sie wieder die Schmerzen in ihren Gliedern und in ihrem Kopf. Mit einer knappen Geste wies der Bote ihr den Platz auf seiner rechten, blinden Seite zu. Schlotternd versank Erdree zwischen ihrem mürrischen Begleiter und einem bulligen Linländer. Obwohl sie sich so klein wie möglich machte, traf der Ellbogen ihres angetrunkenen Sitznachbarn sie immer wieder hart in die Rippen. Bald fürchtete Erdree, entweder vor Zittern, vor Schwäche oder wegen eines weiteren Stoßes von der Bank zu kippen. Gerne hätte sie sich an den Tisch geklammert, doch stattdessen legte sie unwillkürlich die Hände über ihre Ohren. Das Getöse von Stimmen und klapperndem Essgeschirr war unerträglich. In der Gaststube herrschte zwanzigmal mehr Lärm als in den lautesten Momenten von Mooresruh. Nach der anstrengenden Reise drohte jeder neue Eindruck Erdrees Kopf endgültig zu sprengen. Erdree wollte auch noch ihre Augen schließen, als sie den Blick der Wirtin auffing. Die Frau stellte soeben zwei Schüsseln mit Eintopf, einen Krug mit einem schäumenden Getränk und zwei Becher aus dickwandigem Glas auf dem Tisch ab. Dabei musterte sie Erdree befremdet. Verlegen ließ die Glasbrecherin die Hände sinken.

      „Braucht Ihr noch etwas?“ wandte die Wirtin sich an Erdree. Ihr schien eingefallen zu sein, dass alle Wünsche bisher allein von dem Boten gekommen waren.

      Erdree holte Atem, um nach Wasser zu fragen. Ihre Kehle war völlig ausgedörrt, und sie traute dem fremden schäumenden Getränk nicht. Doch kein Laut kam über ihre Lippen. Wenn sie den Lärm in der Gaststube übertönen wollte, würde sie beinahe schreien müssen. Das durfte sie wegen der Trinkbecher und wegen der Fensterscheiben nicht tun. Also schloss Erdree ihren Mund wieder und hob ihre Hände. Weil ihr auch keine passenden Gesten einfallen wollten, schüttelte sie schließlich verzweifelt den Kopf.

      Die Brauen der Wirtin waren stetig höher gestiegen. „Was ist denn mit ihr los?“ fragte sie den Boten, ohne ihre Stimme zu dämpfen. „Ist sie schwachsinnig?“

      „Kann ich nicht sagen,“ gab er gleichgültig zurück.

      Gedemütigt blickte Erdree in ihre Schüssel. Er hatte sie aus Mooresruh geholt – er musste doch wissen, weshalb sie hier nicht laut sprechen durfte! Oder wollte er sie etwa schützen? Hassten die Linländer die nutzlosen Glasbrecher? Würden die Männer und Frauen in der Gaststube auf sie losgehen, wenn sie wüssten, dass sie eine Glasbrecherin war? Aber hätte der Bote sie dann nicht warnen müssen, bevor sie diese Gaststube betraten? Zum ungezählten Mal an diesem Tag drängte Erdree die schädliche Grübelei zurück. Sie zwang sich, ihre Finger um den Löffelstiel zu schließen, der aus dem Eintopf herausragte. Ihre Hände zitterten immer noch leicht, aber kaum noch vor Kälte. Es gelang Erdree, den Löffel an die Lippen zu führen und ihn in den Mund zu schieben. Doch statt der erhofften Stärkung brachte das Essen eine neue Herausforderung. Der Kohleintopf strotzte von fettem Schweinefleisch und war viel zu deftig für den empfindlichen Magen einer Glasbrecherin. In Mooresruh wurde so gekocht, wie es sich für Kranke gehörte – und wie die Versorgung durch die anderen Linländer es zuließ. Weil die Lieferwagen nur viermal im Jahr in das abgelegene Moor geschickt wurden, erhielten die Glasbrecher vor allem Nahrungsmittel, die lange gelagert werden konnten. Der kümmerliche Gemüsegarten, die fünf Kühe und die zwanzig Hühner von Mooresruh gaben nicht viel her. Also kamen vor allem Getreidebrei, Kartoffeln und Rüben auf den Tisch der Glasbrecher. Nach wenigen Bissen rebellierte Erdrees Magen heftig gegen den Kohleintopf. Ihr blieb nichts anderes übrig, als den Löffel beiseite zu legen. Im nächsten Moment hielt sie es für klüger, den Abort aufzusuchen. Ungeschickt

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