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den Besucher nicht selbst gesehen, aber von ihm gehört. Natürlich. Der Mann musste ungeheures Aufsehen erregt haben – so großes Aufsehen, dass die Bewohner von Mooresruh sogar darüber sprachen. Die Glasbrecher kannten nur zwei Arten von Besuch: Die Fuhrleute, die alle paar Monate mit verächtlichen Mienen Nahrungsmittel und andere Güter ablieferten. Und trauernde Eltern, die ihre Kinder in Mooresruh zurücklassen mussten, weil jeder Laut der Kleinen unerträglich in den Ohren schmerzte und alles Glas zu Bruch gehen ließ.

      Weil der Älteste wieder in Schweigen verfallen war, hob Erdree die Brauen und wandte ihre rechte Handfläche nach oben.

      Algon räusperte sich. Er sprach so selten, dass sein Gewisper brüchig und heiser hervorkam: „Der Besucher war ein Bote der Generalin Ulante. Sie verlangt, dass ein Glasbrecher zum Heer entsandt wird.“

      Die Fassungslosigkeit, die sich nun über Erdrees Züge ausbreitete, war ebenso groß wie Algons eigene. Erdree wiederholte ihre letzte Geste.

      Algon hatte die Frage freilich schon vorweggenommen und setzte im gleichen Moment fort: „Der Bote sagte, dass die Glasbrecher dem Heer genauso verpflichtet wären wie alle anderen Linländer – womöglich noch mehr, weil sie sonst nichts zum Wohl des Landes beitragen. Und nun würde eben einer der Glasbrecher zum Dienst gerufen werden.“

      Erdree hob mechanisch die Hände, hielt jedoch inne. Wie Algon zuvor stieß sie an die Grenzen der wortlosen Verständigung. Es führte kein Weg daran vorbei, ebenfalls zu flüstern: „Welchen Dienst soll ein Glasbrecher denn im Heer leisten – wo wir doch nicht einmal dazu fähig sind, wie normale Bürger zu arbeiten?“

      Algon hob die Schultern und stöhnte leise, weil der Stoff seines Unterhemds erneut seinen Ausschlag aufrieb. „Dieselbe Frage habe ich dem Boten natürlich auch gestellt. Er antwortete nur, dass die Generalin darüber zu entscheiden hätte.“

      Diese vage Auskunft minderte Erdrees Verwirrung keineswegs. An ihrem unstetem Blick konnte Algon erkennen, wie fieberhaft sie darüber nachdachte, was um Lins willen die Generalin von einem Glasbrecher im Heer erwarten könnte. Der Älteste legte Erdree eine Hand auf die Schulter. Sowie ihr Blick zu ihm zurückkehrte, fuhr er sich mahnend mit einem Finger quer über die Stirn. Angespanntes Grübeln schadete der fragilen Gesundheit der Glasbrecher. Deshalb hatte Algon sich selbst und seine Schützlinge stets zur Schicksalsergebenheit angehalten. Alles würde sich weisen, wenn die rechte Zeit gekommen war. Meist kam es schlimm, und dann war es besser, all das Schlechte nicht schon zuvor in Gedanken durchlitten zu haben. Diesmal fiel es Erdree offensichtlich schwer, sich ihrer Unwissenheit zu fügen. Ihr Atem ging immer noch hastig, als sie nach einer Weile die linke Handfläche nach oben wandte. Mit gehobenen Brauen ließ sie ihren rechten Zeigefinger einen Kreis um die Handfläche ziehen.

      Algon kopierte die Geste. Zum Abschluss legte er seinen Zeigefinger auf den Ballen unterhalb seines kleinen Fingers – dorthin, wo auf einer Karte von Linland die nordöstlichen Landschaften verzeichnet gewesen wären. „Das Heer steht immer noch im Glynwald,” ergänzte er flüsternd. “Es ist den Soldaten noch nicht gelungen, die Ronn endgültig abzuwehren.“

      Erdree senkte den Kopf und schlug die Arme um ihren Körper. Anscheinend ließ allein der Gedanke an den Nordosten sie in dieser kalten Jahreszeit frösteln. Algon vermutete, dass ihre Augen wieder fieberhaft von einer Seite zur anderen flitzten. Diesmal schritt er nicht ein. Er wusste, was als Nächstes kommen würde, und er wünschte, diesen Moment möglichst lange hinauszuzögern – am liebsten für immer. Der Blick, den Erdree zuletzt auf den Ältesten richtete, war starr vor schrecklicher Gewissheit. Voll Widerstreben streckte sie ihren rechten Zeigefinger aus, um ihn schließlich auf die eigene Brust zu richten.

      Algon brachte es nicht über sich, zu nicken, aber seine verzweifelte Miene sagte alles. Erdrees Augen schweiften wieder ab, ziellos, als ob sie irgendwo an den Wänden des düsteren Raumes Halt suchen würden.

      „Wen könnte ich denn sonst schicken?“ In seinem Kummer verlor der Älteste der Glasbrecher beinahe die Kontrolle über seine Stimme. Einige Silben brachen so laut hervor, dass sie schmerzhaft durch seine Ohren schnitten. „Mir ist befohlen worden, den kräftigsten Bewohner von Mooresruh an die Grenze zu senden. Das bist du. Jeder andere Glasbrecher würde wahrscheinlich nicht einmal die Reise in den Nordosten überstehen. Nur Kurim ist ähnlich kräftig wie du. Und vielleicht noch Islar. Aber sie sind beide zu jung – Kurim wurde gerade erst fünfzehn, und Islar ist noch nicht einmal vierzehn! Ich würde nichts lieber tun, als dich vor den Befehlen der Generalin zu bewahren! Aber ich muss ihr gehorchen! Du musst ihr gehorchen! Sie schützt Linland für alle – auch für uns hilflose Glasbrecher. Wenn sie findet, dass auch wir für Linland eintreten müssen, ist es unsere Pflicht, den verlangten Dienst zu leisten. Es sind schließlich die Linländer Bürger, die uns trotz unserer Nutzlosigkeit am Leben erhalten. Wie könnten wir uns also weigern, wenn wir aufgefordert werden, Linland zu dienen?“

      Während Erdree ausdruckslos zu Boden starrte, konnte Algon die Tränen nicht länger zurückhalten. Er griff nach Erdrees Hand, und so saßen die beiden Glasbrecher für eine Weile nebeneinander. Als der Älteste seine Fassung wiedergewonnen hatte, fing Erdree seinen Blick auf. Ihr linker Zeigefinger beschrieb einen Bogen, der den Lauf der Sonne vom östlichen zum westlichen Horizont imitierte.

      „Sobald du das Nötigste zusammengepackt hast,“ erwiderte Algon. Sein Flüstern war vom Weinen noch heiserer als zuvor. „Der Bote der Generalin wartet draußen vor dem Tor, bei seinem Wagen. Er hat nicht einmal die Maultiere ausspannen lassen. Er will so schnell wie möglich abreisen.“

      Nun flackerte auch auf Erdrees Miene für einen Augenblick Verzweiflung auf. Doch die starre Maske kehrte sofort zurück.

      „Es ist wahrscheinlich besser so,“ wisperte Erdree tonlos. „Dann werde ich keine Zeit haben, über irgendetwas nachzudenken.“ Wie Algon vorher fuhr sie sich mit einem Finger quer über die Stirn. Dann sprang sie auf und flüsterte dem Ältesten ein „Leb wohl!“ ins Ohr.

      Seine gestammelte Antwort vernahm sie nicht mehr. Zu rasch war sie aus dem Raum gehastet, mit gesenktem Kopf zwischen hochgezogenen Schultern.

      Ungeduldig schritt Wiralin neben dem Wagen auf und ab, seinen Blick auf den gefrorenen Straßenschlamm geheftet. Dieser Ort und seine Bewohner riefen den tiefsten Unwillen hervor, den er jemals empfunden hatte – und das wollte nach den vergangenen Monaten etwas heißen! Allein der Name dieses geduckten Vierkanthofs aus schwarzgrauem Stein war ein Witz: Mooresruh! Noch ein Name wie Sumpfloch wäre zu schmeichelhaft gewesen! Sogar jetzt, mitten im Winter, stieg der stechende Geruch des fauligen Wassers in Wiralins Nase. Wahrscheinlich verhinderten die Gärprozesse in den Tümpeln, dass sie ganz zufroren. Wie unerträglich musste dieser Ort erst in der warmen Jahreszeit sein! Sicher schwärzten dann auch noch Insektenschwärme die verpestete Luft. So betrachtet war es klug gewesen, die Behausung fensterlos zu errichten. Auf diese Weise konnten die Insekten und die Sumpfdämpfe leichter draußen gehalten werden – um drinnen mehr Raum für den Mief feuchter Mauern, für den Rauch schlecht ziehender Feuerstellen und für den Gestank der verschiedensten Krankheiten zu lassen. Wiralin schüttelte sich unwillkürlich unter der frischen Erinnerung an das Innere von Mooresruh. Neben der Behausung der Glasbrecher sah selbst das Armenspital der heruntergekommensten Stadt wie ein Hort der Gesundheit aus. Alle Linländer wussten von Kindesbeinen an, dass die Glasbrecher überaus schwach und kränklich waren. Doch nie hätte Wiralin sich diese elenden Kreaturen auszumalen vermocht, die Mooresruh bevölkerten. Obwohl es drinnen beinahe stockdunkel war, sahen die Glasbrecher noch viel widerwärtiger aus als alle Erzählungen glauben ließen. Diese gebeugten, schlurfenden Gestalten mit ihren stieren Blicken aus krätzigen Gesichtern! Er musste dankbar sein, dass er nur einzelnen Glasbrechern begegnet war, und dass der fahle Fackelschein viel verborgen hatte. Das Gespräch mit dem Ältesten war schlimm genug gewesen. Wie alt mochte er sein, um die siebzig? Wiralin hatte Hundertjährige gesehen, die besser aussahen. Eine Zumutung, in diese Triefaugen blicken zu müssen, die über einer laufenden Nase in einem völlig kahlen Schädel saßen! Und diese knotigen Finger, die der Älteste genauso zittrig hielt wie seinen Kopf, während ein grauenvoller Ausschlag seinen Hals hochkroch! Bei Algons Anblick hatte Wiralin bezweifelt, dass die Stimme tatsächlich das Schlimmste an einem Glasbrecher sein sollte. Doch er war rasch eines Besseren belehrt worden. Bei jedem halblauten

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