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Lebenspfand. Robin Carminis
Читать онлайн.Название Lebenspfand
Год выпуска 0
isbn 9783748587736
Автор произведения Robin Carminis
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
»Hören Sie«, ergänzte er mit stoischer Ruhe und überkreuzte die Beine, »mir persönlich, mir ist es gleich, ob Sie nächste Woche wieder hier sind. Ich rette gerne Menschenleben!« Beiläufig schnipste der Arzt eine imaginäre Fluse von seiner Hose.
»Selbst dann, wenn Patienten dem Staat auf der Tasche liegen.«
Gerry fröstelte bei diesen Worten und sah in Richtung Fenster. Doch der Mediziner machte keine Anstalten, es zu schließen. Stattdessen referierte er weiter.
»Wissen Sie, in medizinischen Notfällen, wie dem Ihren, ist das Krankenhaus durch den Emergency Medical Treatment and Labor Act gesetzlich verpflichtet, Sie zu behandeln. Sogar, wenn Sie nicht ausreichend versichert wären.« Er fuhr mit dem Zeigefinger über das oberste Blatt, als würde er einen Satz unterstreichen.
»Und Sie sind nicht ausreichend versichert, wie ich hier sehe.« In Gerrys Hals formte sich ein dicker Kloß.
»Nun gut. Genug bürokratisches Vorgeplänkel.« Der großgewachsene Mediziner lehnte sich entspannt zurück und blätterte einige Seiten in der Krankenakte um.
»Wie geht es Ihrem versteiften Bein? Schmerzen?« Gerry schüttelte den Kopf. Der Arzt wiegte den Kopf von links nach rechts.
»Bei der Menge an Naproxen natrium in Ihrem Blutkreislauf wundert mich das ehrlich gesagt auch nicht. War es Aleve oder Apranax? Ach, eigentlich unwichtig.« Er schlug eine weitere Seite um. Seine Stirn legte sich in kleine Falten. Man sah ihn förmlich denken. Dann atmete er deutlich hörbar aus und schnaubte verächtlich.
»Obwohl, wenn ich das hier lese, ist es mir womöglich doch egal, ob Sie es nächstes Mal überhaupt ins Krankenhaus schaffen. Ich habe weiß Gott ausreichend Patienten, die meine Hilfe zu schätzen wissen und dankbar sind.«
Er las erneut in der Akte, blätterte mechanisch weiter und wurde fündig.
»Ah, da haben wir es ja! Sie haben Glück, besser gesagt, ich habe Glück. Sie gehören zu einem der ersten Patienten, bei
denen die Daten über ihre Aufenthalte in den vergangenen zehn Jahren zusammengefasst und in einer elektronischen Patientenakte gebündelt wurden. Ich habe hier eine druckfrische Übersicht Ihrer Krankenkarriere. Diese zusätzlichen Informationen bieten mir eine hervorragende Gesamtsicht auf Ihren Fall.« Er schlug einige Seiten um und danach wieder zurück.
»Im Januar 2012 gab es drei Blutbeutel je 450ml. Was war denn da passiert?« Gerry versank im Kissen.
»Verstehe, ein weiterer Unfall. Beim Heckenschneiden? Blutgruppe AB+. Selten, sehr selten mein Freund.« Seine Mundwinkel zuckten.
»Und ein Jahr danach, üble CO-Intoxikation. Hm, hier steht, ein defektes Abgasrückführventil.« Er nickte anerkennend. »Kreativ gelöst - aber feige.« Gerry kniff die Augen zusammen.
»Na, Sie sind mir ja ein erfolgloser Stammgast. Ich hätte da ein paar todsichere Tipps für Sie«, bot ihm der Arzt an.
»Aber was sage ich denn da, offiziell waren das schließlich alles Unfälle, nicht wahr?«
»Sie haben ja keine Ahnung!«, stöhnte Gerry heiser und funkelte den Provokateur im weißen Kittel aufgebracht an. Zum ersten Mal sahen sich die beiden direkt in die Augen.
»Wovon habe ich keine Ahnung?« Der Chefarzt richtete sich auf und beugte sich auffordernd in Richtung Bett.
»Von Schuld!«, brachte Gerry mit tränenerstickter Stimme hervor. »Sie retten täglich Leben und ich, ich habe Leben zerstört. Hören Sie? Zerstört!«
Bis auf die nervtötenden Geräusche des Vitaldatenmonitors wurde es wieder totenstill im Zimmer. Gerrys Kopf sank tiefer in das übergroße Kissen und verschmolz nahezu mit dem blassgelben Bezug. Ein nasser Fleck bildete sich neben seinem Kopf.
»Warum bekomme ich immer die Kaputten?«, dachte Dr. Spellman resigniert und schaute zum Fenster. Die tänzelnden Schneeflocken puderten in rasender Geschwindigkeit die Straßen und Dächer. In den vergangenen zwei Wochen waren es immerhin vier Suizidversuche gewesen. Ungewöhnlich für diese Jahreszeit. Zwar war Depression eindeutig saisonal, aber eben nicht herbst- oder wintergetrieben. Statistisch gesehen verhielt es sich nämlich gegenläufig zur üblichen Annahme. Erst vor ein paar Tagen hatte er sich zufällig eine Studie zu medizinmeteoro-logischen Einflussfaktoren bei Suiziden vorgenommen. Nichts deprimierte Menschen offenbar mehr, als warme Temperaturen und der Anblick glücklich verliebter Paare bei schönem Wetter. Wie lag der Fall hier?
Laut Krankenblatt, war Gerry Jester einmal im Jahr, jeweils am zehnten oder elften Januar, eingeliefert worden. Ein Umstand, der dem Internisten erst jetzt ins Auge sprang. Spellman griff sich mit Daumen und Zeigefinger an die Nasenwurzel und massierte von da aus seine Stirnhöcker, hinter denen sich schleichend ein Kopfschmerz aufbaute. Der Geburtstag also!
»Wann haben Sie das letzte Mal einen Schneemann gebaut?«, fragte er unvermittelt, ohne aufzusehen.
Gerry glotzte den Mann mit dem akkuraten Kurzhaarschnitt irritiert an und zuckte die Schultern.
»Als Kind, mit neun vielleicht.«
Der Arzt fing an, in seiner Kitteltasche zu kramen. Neben einer Visitenkarte, die er Gerry aufs Bett warf, brachte er zusätzlich einen Rezeptblock und einen Kugelschreiber hervor. Mit übertrieben kindlichen Strichen und Kreisen, kritzelte er einen Schneemann auf das oberste Blatt und riss das Papier ab. Spitzbübisch grinsend, überreichte er die Skizze seinem verdutzten Patienten. Danach wurde seine Miene sofort wieder ernst.
»Das hier verschreibe ich Ihnen! Dreimal diesen Winter.« Abrupt stand er auf und beförderte den Stuhl mit der freien Hand an seinen ursprünglichen Platz. Durch das weiterhin offene Fenster war die Sirene eines Rettungswagens zu hören.
»Wir haben Ihnen hier eine neue Chance gegeben. Holen Sie sich Hilfe, Mann! Ich will Sie hier nicht mehr sehen!«
Mit diesen Worten marschierte er zum Desinfektionsspender an der Tür, hielt dort aber mitten in der Bewegung inne. Er blickte zurück und deutete gleichzeitig mit dem ausgestreckten Finger Richtung Flur.
»Da draußen, da sitzen übrigens Menschen, denen Sie anscheinend etwas bedeuten. Vielleicht denken Sie auch mal an Ihre Freunde.«
Anschließend presste er zweimal den Hebel des Spenders und verließ den Raum, ohne sich noch einmal umzusehen. Gerrys Magen krampfte sich zusammen, als sein Blick auf die Visitenkarte fiel - die Adresse eines Psychologen in Fort Worth.
Kaum hatte der Arzt das Zimmer verlassen, klopfte es an der Tür. Nach ein paar Sekunden wurde sie zögerlich einen Spalt weit geöffnet. Ein gepflegter, dunkelbrauner Pagenschnitt schob sich in das Zimmer. Mit geröteten, leicht geschwollenen Augen, lugte eine Frau, etwa in Gerrys Alter, verschüchtert um die Ecke. Als sie die blasse Gestalt im Krankenbett erblickte, schossen ihr Tränen in die Augen. Gerry schluckte schwer und musste sich zusammenreißen, um dem Blick der Freundin standzuhalten.
»Wie konntest du…«, brach es aus der zierlichen Frau heraus. Unfähig, den Satz zu beenden, schlug sie die Hände vors Gesicht. Hinter ihr wurde die Tür vollends aufgestoßen und gab den Blick auf einen zweiten Besucher frei. Die massive Gestalt von Gerrys Mitbewohner, Taio, wurde hinter Ruth sichtbar. Er schob die Freundin sanft in den Raum.
Gerrys Mund war zu trocken, um einen Satz herauszubringen. Seine Zunge klebte am Gaumen und er griff nach dem Wasserglas, um einen Schluck zu trinken. Ein willkommener Vorwand, um nichts sagen zu müssen.
Ruth und Taio legten ihre Mäntel ab und Taio zog zwei Besucherstühle heran.
»Ist dir doch recht, oder?«, hielt er verunsichert inne. Gerry nickte kaum merklich und stellte sein Glas zurück auf das Tischchen neben seinem Bett. Eine Weile saßen sie sich schweigend gegenüber, ab und an untermalt durch unterdrücktes Räuspern oder Schnäuzen seitens Ruth.
»Soll ich das Fenster mal zumachen?«, fragte Taio verlegen in die eisige Stille. Als Gerry teilnahmslos