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er sich eingeredet, würde ihm schon etwas einfallen, aber mit jedem Tag, der verging, wurde ihm klarer, dass das wohl Wunschdenken war.

      Die S-Bahn setzte sich in Bewegung und verließ den Hauptbahnhof. Thomas fiel der Selbstmörder wieder ein, der sich am Morgen vor die Regionalbahn geworfen hatte. Dieser Ausweg stünde ihm ja immer und jederzeit offen, dachte er und erschrak, wie sehr ihn dieser Gedanke beruhigte.

      Am Bahnhof in Groß-Gerau Dornberg stieg er aus und lief durch das Gewerbegebiet nach Hause. Die Häuser am Ortsausgang waren durch eine hohe Hecke von der Gernsheimer Straße, die hier nahtlos in die B44 überging, abgetrennt. Gegenüber lag die Fasanerie und hinter den Häusern floss der Landgraben.

      Thomas betrat den kühlen Hausflur und ließ Sakko und Tasche an der Garderobe zurück. In der Küche nahm er sich ein Bier aus dem Kühlschrank, öffnete es und trank an die Spüle gelehnt zwei große Schlucke direkt aus der Dose. Auf dem leeren, blankpolierten Küchentisch lag ein Zettel: Bin zum Yoga und danach noch was trinken mit den Mädels. Warte nicht auf mich.

      Thomas nahm noch einen Schluck Bier. Sie warteten schon lange nicht mehr aufeinander, es gab dafür keinen Grund.

      Sie hatten das Haus, sein Elternhaus, damals nach ihren Wünschen umgebaut. Nachdem seine Mutter gestorben und sein Vater ins Altenheim gezogen war, hätte er den alten Kasten am liebsten verkauft, aber Petra hatte ihn überredet, in die Immobilie zu investieren, eine neue Heizanlage ein- und den Keller auszubauen. Das Haus bekam ein neues Dach und die Fassade wurde frisch angelegt, nach hinten zum Landgraben hin wurden bodentiefe Fenster eingesetzt und eine neue Terrasse aufgeschüttet. Die Innenräume wurden verbreitert, Zwischenwände eingerissen, eine neue Küche installiert. Und als alles fertig war ...

      Thomas trank die Dose mit mehreren großen Schlucken leer, er hatte gar nicht bemerkt, wie durstig er zuvor gewesen war. Er überlegte, sich mit einem zweiten Bier auf die Terrasse ins Abendlicht zu setzen, wollte sich aber zuerst noch umziehen. Er stieg die Treppe hinauf und zog oben im Schlafzimmer die Anzugshose und das verschwitzte Hemd aus, schlüpfte in Shorts und T-Shirt und ging barfuß zurück in den Flur. Vor der Tür seines Sohnes zögerte er, klopfte dann aber doch. Als sich Benny auch nach dem zweiten Klopfen nicht meldete, öffnete Thomas vorsichtig die Tür und spähte ins Zimmer.

      Durch die breiten Panoramafenster im ersten Stock konnte man die Bäume sehen, in denen jedes Jahr Störche ihre Nester bauten und auf den umliegenden Feldern und am Landgraben auf Nahrungssuche gingen – nicht, dass Benny sich dafür interessiert hätte, er saß lieber, so wie jetzt, bei heruntergelassenen Jalousien vor seinem PC und sah sich Videos von leerstehenden Fabriken und Lagerhallen an. Thomas stand in der offenen Tür und sah den gekrümmten Rücken seines Sohnes. Über den Bildschirm flimmerten verwackelte, dunkle Aufnahmen. Er klopfte erneut ans Türblatt, aber auch jetzt reagierte Benny nicht, erst da fielen ihm die Kopfhörer-Stöpsel in seinen Ohren auf. Natürlich.

      Thomas stand noch eine Weile so da, beobachtete seinen Sohn und dachte daran, wie er ihn vor zwei Wochen nachts auf der Polizeiwache abgeholt hatte und wie sie schweigend nach Hause gefahren waren. Er wusste, dass er in dieser Nacht noch mit ihm hätte reden müssen, aber Benny schwieg und er fand mal wieder nicht die richtigen Worte, Vaterworte, also schwieg er auch.

      Das Reden hatte Petra am nächsten Tag übernommen und sie hatte Benny auch dazu gebracht, die Namen der anderen Jungs zu nennen, die dabei gewesen waren. Sie war mit ihm zur Polizei gefahren, wo ihr Sohn seine Aussage ergänzte. Als sie wieder nach Hause kamen, verschwand Benny sofort auf sein Zimmer. Als Thomas fragte, wie es gelaufen sei, sah Petra ihn mit ihrem ›Das-wäre-dein-Job-gewesen-Blick‹ an und schüttelte nur den Kopf.

      Vielleicht, dachte Thomas jetzt, wäre heute ja ein guter Abend, um endlich mal mit Benny zu reden, aber dann schloss er doch nur leise die Tür und ging wieder nach unten.

      Nach der dritten Dose Bier war es draußen immer noch nicht ganz dunkel. Thomas saß, die Beine von sich gestreckt, auf der Terrasse und spürte die Restwärme des Tages in den Steinplatten unter seinen nackten Fußsohlen. Es gab Momente, in denen er tatsächlich vergaß, dass er nicht nur arbeitslos und verschuldet war, sondern sich wahrscheinlich auch bald vor Gericht würde verantworten müssen. »Rechtliche Schritte behalten wir uns natürlich vor«, hatte sein Chef gesagt. Er war um den Schreibtisch herumgekommen, hatte Thomas in die Augen gesehen und den Kopf geschüttelt: »Mein Gott, Danzer, was haben Sie sich nur dabei gedacht?«

      Ja, was hatte er sich dabei gedacht? Vielleicht, dass er wenigstens einmal im Leben das Richtige tun wollte. Er hatte jemandem, der unverschuldet in Not geraten war, geholfen, das war alles.

      Er würde jedenfalls als Banker nie wieder eine Anstellung finden. Vielleicht konnte er sich irgendwann als Versicherungsmakler und Vermögensberater selbstständig machen. Trotzdem: sie würden alles verlieren. Petra würde ihn verachten, was sie wahrscheinlich sowieso schon tat, und der Junge ...

      Thomas sprang auf. Er wollte jetzt nicht darüber nachdenken. Er war schon auf dem Weg in die Küche, um sich die vierte Dose Bier zu holen, überlegte es sich aber anders und ging stattdessen ins Wohnzimmer an die kleine Vitrine, in der er seinen Whisky aufbewahrte. Er goss sich zwei Fingerbreit Chivas Regal in einen Tumbler und kehrte auf die Terrasse zurück. Dort schien es schlagartig dunkel und auch kühler geworden zu sein. Er zog sich das alte Sweatshirt über, das in der Campingbox auf der Terrasse lag und das er normalerweise nur zur Gartenarbeit trug, dann legte er sich in den Liegestuhl.

      Der Stuhl war gut gepolstert, das Shirt wärmte und der Whisky, den er in kleinen Schlucken trank, machte ihn angenehm müde und schwer. Er dachte noch daran, dass er keinesfalls hier draußen einschlafen durfte, dann fielen ihm auch schon die Augen zu.

      ***

      Zoran lag im rötlichen Licht des Bordellzimmers auf dem Doppelbett und wartete. Er war nur noch mit einem knappen schwarzen Sport-Slip bekleidet und wurde langsam unruhig.

      »Hey«, rief er, »jetzt mach aber mal, dass du beikommst, ja?«

      Zoran schob die beiden herzförmigen Kissen beiseite, lehnte sich auf die angewinkelten Ellenbogen und starrte die Badezimmertür an, hinter der das Mädchen, mit dem er sich handelseinig geworden war, vor einer gefühlten Ewigkeit verschwunden war.

      »Hey, hörst du mich?«

      Das kleine Miststück antwortete nicht. Zoran sprang auf und hämmerte gegen die Tür.

      »Du hast es aber ganz schön eilig«, hörte er sie hinter der Tür kichern. »Ich komme ja gleich, Süßer.«

      Zoran grunzte unwillig und wanderte halbnackt in dem kleinen Zimmer herum. Er schob eine der roten Blenden vor dem hohen Altbaufenster ein Stück zur Seite und sah nach unten. Die Taunusstraße lag im künstlichen Licht der Peepshows und Bordelle, Autos parkten am Straßenrand, auf dem Gehsteig die für einen Freitagabend übliche Mischung aus Partygängern, Freiern und Kanaken.

      Als er hörte, wie sich hinter ihm eine Tür öffnete, drehte er sich lächelnd um, eine Hand im Schritt.

      Der erste Schlag gegen die Brust warf ihn auf das Bett. Zoran war schnell wieder auf den Beinen, aber nicht schnell genug: der zweite Schlag ging ins Gesicht und schickte ihn gleich wieder auf die Matratze. Er spürte, wie seine Unterlippe anschwoll und hob abwehrend einen Arm vor die Augen.

      »Lass erstmal mal gut sein«, hörte er jemanden sagen und nahm den Arm langsam wieder herunter.

      Der Typ, der ihn geschlagen hatte, war klein und kompakt, dabei etwas überspeckt. Er trug einen schlecht sitzenden schwarzen Anzug, das zerknitterte weiße Hemd darunter bis zur Brust aufgeknöpft. Zoran schätzte den Angreifer auf Mitte vierzig, er hatte kurzes graues Haar und kleine Schweinsäuglein. Der andere Typ, der gesprochen hatte, trug den gleichen billigen Anzug, war aber schlank und einen Kopf größer als sein Kumpel. Die beiden wirkten wie eine billige, bösartige Version der Blues Brothers.

      Die Tür zum Badezimmer wurde geöffnet und das Mädchen kam heraus. Sie hatte sich einen weißen Bademantel über die schwarze Spitzenunterwäsche gezogen und sah fragend von einem der Männer zum anderen.

      »Verpiss dich«, sagte der Große, nachdem er sie einen Moment

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