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tot. Der stellte keine Forderungen mehr. Der Wirt würde ihn früher oder später finden und die Polizei rufen. Thomas dachte an die Waffe. Noch nie in seinem Leben hatte jemand mit einer Waffe auf ihn gezielt. Einer scharfen Waffe. Thomas bekam sofort wieder weiche Knie, wenn er daran dachte.

      Wieder sah er auf den Schlüssel in seiner Hand. Was auch immer in diesem Schließfach war, es konnte nichts Gutes sein. Vielleicht war es aber auch nur ein Sack mit Schmutzwäsche oder die Habseligkeiten eines kleinen Milieugangsters. Oder aber doch ein Koffer voller Geld? Quatsch, dachte er, so etwas gibt es nur im Fernsehen.

      Er konnte immer noch zur Polizei gehen, eine Aussage machen, alles erklären. Er war in Panik geraten und abgehauen, dafür mussten die doch Verständnis haben. Dafür wurde man doch nicht gleich irgendwie belangt. Die Situation war schließlich auch alles andere als gewöhnlich.

      Während er noch darüber nachdachte, was er der Polizei erzählen würde (und was eher nicht), war Thomas die Taunusstraße weiter in Richtung Hauptbahnhof gegangen. Er nahm die Rolltreppe zur B-Ebene hinunter und dann den Aufgang zur Bahnhofshalle auf der gegenüberliegenden Seite. Aus den Geschäften und Stehcafés kamen Reisende und sahen gehetzt auf die große Anzeigetafel an der Stirnseite der Halle. Thomas folgte den Hinweisschildern zu den verwinkelten Wänden mit den Schließfächern. Er verglich die Schlüsselnummer mit den Türreihen und fand das entsprechende Fach ohne Probleme.

      Er wartete, bis ein langhaariger Rucksacktourist seine sieben Sachen in einem großen Bodenfach verstaut hatte und er zumindest für einen kurzen Moment allein war. Durch die Fenster im oberen Drittel fielen Sonnenstrahlen in den schmucklosen Raum mit den zerkratzten Spinden, vor dem Bereich mit den Schließfächern befand sich ein Durchgang nach draußen zum Bahnhofsvorplatz. Hier würde man wohl nie gänzlich unbeobachtet sein.

      Thomas zögerte. Ein Gedanke durchzuckte ihn: Gab es hier eigentlich Überwachungskameras? Er sah sich um, konnte aber nirgends etwas entdecken, auch entsprechende Hinweisschilder waren ihm nicht aufgefallen. Dann rief er sich zur Ordnung. Er verhielt sich ja schon selbst wie ein Krimineller, dabei konnte er das, was er in dem Schließfach fand, später immer noch zur Polizei bringen.

      Genau das würde er auch tun. Und mit diesem Vorsatz öffnete Thomas das Fach.

      Eine blaue Adidas-Sporttasche mit Reißverschluss und Trageriemen befand sich im Inneren. Thomas atmete einmal durch, dann nahm er sie heraus. Sie war nicht besonders schwer. Wechselwäsche, ein Kulturbeutel, ein Paar Schuhe, vom Gewicht käme das hin. Beinahe hätte er gelacht. Trotzdem war er nicht so leichtsinnig, die Tasche hier zu öffnen.

      Der Toilettenbereich im Hauptbahnhof war zahlungspflichtig, aber dafür sauber. Er warf einen Euro in den Automaten an der Schranke und betrat den gefliesten Raum, der gerade von einem dunkelhäutigen jungen Mann im weißen Kittel geputzt wurde. Der Junge hatte Audiostöpsel in den Ohren und lächelte beseelt bei der Arbeit. Thomas schloss sich in einer der rundum dichten Kabinen ein. Schon wieder eine Toilette, dachte er, setzte sich auf den heruntergeklappten Klodeckel und sah auf die Tasche zwischen seinen Beinen. Er zog den Reißverschluss auf und fand mehrere durchsichtige Päckchen mit weißem Pulver.

      Wenn man von dem Joint absah, an dem er im Spätsommer 1993 kurz nach dem Abitur zweimal gezogen hatte, hatte Thomas keinerlei Erfahrung mit Drogen, außer natürlich mit Alkohol. Aber dass es sich bei der weißen Substanz in der Tasche nicht um Backpulver handelte, war ihm sofort klar. Kokain oder Heroin wahrscheinlich. In den Krimis, die er sich manchmal mit Petra ansah, befeuchteten die Ermittler oder Dealer immer einen Finger, nahmen ein paar Körnchen auf und konnten dann am Geschmack feststellen, um welche Droge es sich handelte und ob sie verschnitten oder rein war. Aber dazu musste man ja zumindest eine theoretische Idee haben, wie das Zeug schmeckte.

      Thomas zog den Reisverschluss der Tasche wieder zu und hob sie an. Sie kam ihm jetzt schwerer vor als vor ein paar Minuten, als er noch nicht gewusst hatte, was sich darin befand. Vier, vielleicht fünf Kilo, schätzte er. Was kosteten fünf Kilo Kokain? Auch davon hatte er keine Ahnung. Und davon, wie und an wen man so etwas verkaufte auch nicht. Musste er auch nicht.

      Thomas verließ Kabine und Toilettenbereich und kehrte in die Bahnhofshalle zurück. Es war ein merkwürdiges Gefühl mit einer Tasche voller Drogen in der Öffentlichkeit herumzulaufen. Er wusste, dass es am Nordausgang des Bahnhofs am Gleis 24 einen Stützpunkt der Bundespolizei gab. Auf einmal hatte er das Gefühl, etwas vergessen zu haben, wusste aber nicht was. Thomas blieb abrupt stehen und dachte nach. Menschen hasteten an ihm vorbei, ein Kleinkind stolperte über einen Trolley, legte sich der Länge nach hin und begann zu plärren, die Mutter zog die Kleine schimpfend wieder auf die Beine. Jemand rempelte ihn von hinten an, ohne sich zu entschuldigen.

      Etwas fehlte, aber er kam nicht darauf, was es war. Thomas schüttelte den Kopf. Wahrscheinlich war er einfach überreizt.

      Eine Zwei-Mann-Streife kam ihm entgegen. Er überlegte, sie anzusprechen, ließ es dann aber sein. Auf der großen Anzeigetafel wurden gerade die nächsten Zugabfahrten aktualisiert. Die S-Bahn nach Hause ging in einer Minute. Thomas starrte noch einen Moment auf die Anzeige, dann ging er langsam in Richtung Gleis 1 davon. Wenn die Bahn schon weg war, würde er die Tasche zur Polizei bringen, wenn nicht ...

      Die S7 stand abfahrbereit, als Thomas am Bahnsteig ankam. Er betätigte den Drücker an der Außenseite des ersten Waggons und die Tür öffnete sich, er machte einen Schritt hinein und stand im Eingangsbereich des Abteils. Hinter ihm zischte die Türverriegelung und der Zug setzte sich fast augenblicklich danach mit einem Ruck in Bewegung, so als habe sie nur noch auf ihn gewartet.

      Thomas musste sich am Gepäckfach über ihm festhalten, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Als die S-Bahn unter der Bahnhofsüberdachung ins Freie rollte, stand er immer noch wie betäubt zwischen den Sitzreihen, die Sonne im Gesicht und eine Tasche voller Kokain zwischen den Füßen.

      ***

      Zorans Wohnung befand sich im achten Stock eines Hochhauses im Niederräder Mainfeld. Maik war schon einige Male hier gewesen und hatte nach Alkohol- oder Drogenabstürzen auch manchmal bei Zoran übernachtet. Als er am späten Nachmittag dort ankam, wehte ein auffrischender Wind, der Sommer schien ausgerechnet über die Feiertage eine Pause einlegen zu wollen.

      Auf dem gefliesten Boden im Eingangsbereich des Hochhauses lag ein Packen verschnürter Gratis-Zeitungen. Eine Reihe mit Briefkästen auf der einen Wandseite, eine Klingelanlage mit Namensschildchen auf der anderen. Maik steckte die flache Hand so tief wie möglich in Zorans Briefkastenschlitz und fand die mit Klebeband an der Rückwand befestigten Ersatzschlüssel.

      Der Fahrstuhl wartete schon, er stieg ein und drückte den Knopf für das achte Stockwerk, die Türen schlossen sich und der Aufzug setzte sich in Bewegung.

      Auf der Etage roch es nach Essigreiniger. Eine anonyme Tür reihte sich an die andere. Vor Zorans Wohnung blieb er stehen und lehnte sich mit dem Ohr gegen das Türblatt. Von drinnen war nichts zu hören. Er drückte auf den Klingelknopf an der Wand neben der Tür, hörte es in der Wohnung schellen und trat einen Schritt zurück.

      »Der ist nicht da!«, hörte Maik jemanden sagen, fuhr erschrocken herum und sah einen alten Mann in Hausschuhen vor einer offenen Tür am anderen Ende des Flurs stehen. Der Nachbar hatte die Hände in die Hüften gestemmt und sah lauernd zu ihm herüber. »Schon seit Tagen ist der nicht da.«

      »Ach ja?«

      »Ja, seit Tagen. Den kriegt man eh kaum zu Gesicht. Und den Flur putzt er auch nicht. Sind Sie ein Freund von dem?«

      »Ich ... bin von den Stadtwerken«, erwiderte Maik und wusste, dass der Alte ihm kein Wort glaubte. Sein Rucksack und der zusammengerollte Schlafsack lehnten an der Flurwand.

      »So, so, von den Stadtwerken also, na dann ...« Der Alte zog sich wieder in seine Wohnung zurück. Nachdem er die Tür geschlossen hatte, hörte Maik, wie der Mann von innen zweimal abschloss.

      In Zorans Wohnung roch es nach kaltem Rauch und Schweißfüßen. Maik öffnete das Wohnzimmerfenster und ließ frische Luft herein, Regenwolken schoben sich vor die Sonne über der Frankfurter Skyline am anderen Mainufer.

      Die kleine Wohnung war spärlich möbliert: ein niedriger Wohnzimmertisch,

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