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einen Platz im unteren Teil der Bahn, die sich, kaum dass sie Platz genommen hatten, in Bewegung setzte. Der Wasserturm und die alte schon halb abgerissene und entkernte Schule zogen draußen vor dem Fenster vorbei. Hier hatten sie damals ihr Abitur gemacht und manchmal an Sommerabenden mit einem Sixpack Bier draußen gesessen und sich gegenseitig Karrieren angedichtet. Thomas schloss die Augen. Steffen Kleinschmidt wurde von allen früher nur der »kleine Schmidt« genannt, was ein ziemlich müder Witz war, denn mit etwas über einem Meter achtzig war er eigentlich nicht besonders klein. Er hatte auch keinen größeren Bruder oder so, den man den »großen Schmidt« genannt hätte. Irgendwer hatte irgendwann halt mal »kleiner Schmidt« statt »Kleinschmidt« zu ihm gesagt und das war dann hängengeblieben. Er selbst wurde damals einfach nur Tommy oder mal ›der Danzer‹ genannt.

      Thomas öffnete die Augen und sah, dass Steffen schon wieder auf sein Handy starrte. Ihm war es recht, er hatte keine Lust, sich mit ihm zu unterhalten. Normalerweise wären sie sich ja auch gar nicht begegnet. Dass sich ausgerechnet heute jemand vor den Zug wirft, damit konnte ja keiner rechnen – obwohl, eigentlich musste man doch immer damit rechnen. Auf einmal wunderte er sich darüber, dass so etwas nicht viel häufiger vorkam. Wie viele Menschen im Jahr das wohl versuchten? Und dabei erfolgreich waren? Ein Impuls durchfuhr ihn, sein Handy herauszuholen und es zu googeln, aber dann rief er sich zur Ordnung, das führte doch zu nichts.

      »Und? Schon was vor über Pfingsten?«, fragte Steffen ohne vom Display seines Handys aufzusehen.

      Thomas schüttelte den Kopf. »Am Sonntag holen wir meinen Vater aus dem Heim zum Mittagessen, ansonsten ist, soviel ich weiß, eigentlich nichts weiter ...«

      »Verstehe schon«, grinste Steffen, »Petra legt die Musik auf, zu der getanzt wird.«

      »Wenn du meinst ...«

      »Ach komm schon! Ich weiß doch, wie das ist.« Steffen steckte das Handy in die Innentasche seins Jacketts und gähnte. »Meinst du, das ist bei mir anders? Tati hat zu Hause die Hosen an.« Er machte eine Kunstpause, dann fügte er süffisant hinzu: »Naja, manchmal auch nicht, da hat sie gar nichts an ...«

      Thomas machte ein säuerliches Gesicht und sagte nichts. Steffen war eigentlich ganz in Ordnung, neigte aber zu schlüpfrigen Bemerkungen, die niemand hören wollte. Nach dem Abitur hatten sich damals ihre Wege getrennt. Steffen hatte BWL studiert, war weggezogen und erst jetzt über 20 Jahre später wieder nach Groß-Gerau zurückgekommen. Thomas hingegen hatte am Ort eine Ausbildung zum Bankkaufmann gemacht, später geheiratet, eine Familie gegründet und war vor ein paar Jahren zu einer Frankfurter Bank in die Kreditabteilung gewechselt. Ein letzter kleiner Karrieresprung, dachte er und merkte, wie sein Magen dabei rebellierte.

      »Dem Junior geht’s gut?« Steffen schien jetzt richtig in Plauderlaune zu sein. Der Zug hielt in Mörfelden, wo sich noch mehr gestrandete Pendler in die Abteile quetschten.

      »Ja«, sagte Thomas, »arbeitet fleißig an seinem Abitur.«

      Steffen nickte und kam nicht mehr auf das Thema zurück, was Thomas nur recht war. Benny und seine Aktivitäten schlugen ihm genauso auf den Magen wie der Gedanke an die Bank. Es gab momentan allgemein wenig, was ihm keine Magenschmerzen bereitete.

      In Walldorf wurden die Wartenden am Bahnsteig aufgefordert zurückzubleiben und nicht einzusteigen. Mittlerweile pressten sich die Leute wie die Heringe in der Dose im engen Gang aneinander. Es roch herb-süßlich nach verschiedenen Aftershaves und Parfüms und ein bisschen nach Schweiß. Thomas atmete möglichst flach, um nicht auf der Stelle in den Wagen zu kotzen, das hätte jetzt gerade noch gefehlt.

      Als der Zug schließlich über den Main fuhr und die Frankfurter Skyline in Sicht kam, beugte sich Steffen um den Mann, der sich in der Sitzreihe einfach zwischen sie gestellt hatte, herum und sagte: »Samstagabend? Grillen? Bei uns?«

      »Ich weiß nicht, da muss ich erst ...«

      »Du musst gar nichts, ich habe Tati vorhin eine Nachricht geschickt, die klärt das schon mit Petra.«

      Thomas holte Luft, um etwas zu sagen, aber dann ließ er sich in den Sitz zurückfallen und sagte nichts. Der Mann zwischen ihnen hielt sich am Gepäckfach über ihnen fest und machte ein teilnahmsloses Gesicht. Kurz bevor der Zug in den Bahnhof einfuhr, hörte er Steffens Handy klimpern.

      »Petra hat schon zugesagt, sie freut sich und macht einen Salat. Ich grille und sorge fürs Bier. Du musst dich mal wieder um nichts kümmern, du Glückspilz.«

      Sie standen auf und wurden zusammen mit den anderen auf den Bahnsteig gespült. Thomas bekam vor Wut immer noch keinen Ton heraus, aber wenigstens bekam er hier draußen wieder besser Luft. Die Übelkeit ließ etwas nach, nur das Kotzgefühl wollte einfach nicht verschwinden. In der S-Bahn zur Taunusanlage überlegte er, wie er Steffen loswerden konnte, aber ihm fiel nichts ein.

      Als sie sich wenig später dem Garden Tower in der Neuen Mainzer Straße näherten, verlangsamte Thomas seine Schritte und hoffte, dass Steffen ihn überholen würde, aber der dachte gar nicht daran.

      »Also dann«, sagte Thomas, »bis morgen.« Er steuerte auf die Glasschiebetüren zu und blieb dann stehen.

      »Ja, super, bis dann!« Steffen winkte und entfernte sich ein Stück, da klingelte sein Handy.

      Anstatt telefonierend weiterzugehen, blieb er stehen und sah beim Sprechen lächelnd in Thomas’ Richtung, der sich nicht von der Stelle rührte. Durch die verglaste Schiebetür konnte er sehen, wer am Empfang Dienst hatte. Ausgerechnet die Hingst, Beate Hingst, die elegante, korrekte und immer freundliche Frau Hingst, die jeden Mitarbeiter des Hauses mit Vor- und Zunamen kannte und genau wusste, wer wo hingehörte.

      Thomas zögerte. Steffen telefonierte immer noch, sah zu ihm rüber, winkte. Thomas hob kurz die Hand. Er musste jetzt da rein, wenn er kein Misstrauen erregen wollte.

      Die Schiebetür glitt zur Seite. Er betrat den klimatisierten Eingangsbereich und sah, wie die Hingst sich mit einem Lächeln hinter dem Empfangstresen erhob, aber mit einer Hand unter die Holzverschalung griff, wo sich die Alarmknöpfe befanden.

      »Bitte«, flüsterte er der Frau zu, »ich bin gleich wieder weg.«

      Beate Hingst hob die Augenbrauen. »Wenn Sie Ärger machen wollen, Herr Danzer ...«

      Thomas schüttelte heftig den Kopf. »Keinen Ärger, nein, wirklich nicht, geben Sie mir bitte nur eine Minute ...«

      Er sah gehetzt über seine Schulter durch die Verglasung nach draußen. Steffen stand immer noch ein paar Meter vom Eingang entfernt und telefonierte. Er hatte eine Hand in der Tasche, mit der anderen hielte er sich das Handy ans Ohr. Thomas wandte sich wieder an die Hingst, die sich etwas entspannte, den Finger aber nicht vom Notruf nahm. Sie trug ein marineblaues Kleid und eine Perlenkette. Thomas konnte das abgetönte Make-up auf ihrer Gesichtshaut sehen und den akkurat aufgetragenen blassroten Lippenstift.

      »Frau Hingst, es gibt keinen Grund zur Beunruhigung, bitte, Sie kennen mich doch.«

      »Ich muss Sie jetzt trotzdem auffordern zu gehen, Herr Danzer.«

      »Natürlich, natürlich ...«, entgegnete er und nickte heftig, blieb aber stehen. Sein Blick wanderte zu der Seitentür, hinter der immer jemand von der Security in Bereitschaft war.

      »Sofort«, stieß die Hingst gepresst hervor.

      Thomas machte kehrt. Die Schiebtür glitt zur Seite und er trat mit angehaltenem Atem auf den Vorplatz und sah sich um. Steffen war nicht mehr da.

      Er schaffte es bis zur Taunusanlage, dort übergab er sich hinter eine Parkbank. Danach ging es ihm besser. Er lockerte seine Krawatte, nahm sie dann ganz ab und stopfte sie in seine Ledertasche. Er öffnete die oberen Hemdknöpfe, ließ sich auf der Bank nieder und schloss die Augen. Die Sonne hatte schon deutlich an Stärke gewonnen und wärmte sein Gesicht. Er hörte die gleichmäßigen, federnden Schritte eines Joggers vorbeitraben. Jemand rief nach einem Hund. Ein anderer lachte. Das Geräusch eines Skateboards, das vom Boden abhob und kurz darauf wieder krachend aufsetzte.

      Warum hatte er zur Bewältigung seiner Midlife-Crisis nicht eine der klassischen Methoden gewählt wie

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