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beizubehalten. Es tat ihr gut und sie war stolz auf ihre Leistung, obwohl sie hinterher total ausgelaugt war.

      Die Arbeit machte ihr Spaß, obwohl sie hauptsächlich aus Putzen und Aufräumen bestand. Wenn nur nicht das schlechte Gewissen ihrer Lektorin gegenüber gewesen wäre. Bislang hatte Pauline vermieden, sich bei Frau Mölder zu melden. Was hätte sie denn sagen können – außer, dass sie immer noch keinen blassen Schimmer hatte, was für eine Geschichte sie schreiben könnte? Trotz der vielen neuen Eindrücke, die sie in den vergangenen Tagen gesammelt hatte, blieb es in ihrem Kopf gähnend leer. Taugte sie nicht mehr zur Autorin? Sollte sie das Schreiben aufgeben?

      Nein, das würde sie nicht tun. Sicher lag die Flaute nur an den Ereignissen, die so plötzlich auf sie eingestürmt waren. Auch Jules tröstende und aufmunternde Worte konnten den Schalter hinter Paulines Stirn nicht umlegen. Die wenigen Notizen in dem roten Buch mit den weißen Tupfen brachten sie auch nicht weiter. Es war zum Verrücktwerden.

      Vielleicht half es, einen langen, wirklich langen Marsch über den Kniepsand zu machen. Vielleicht würde der Wind ihre Gehirnwindungen durchpusten.

      Nach dem Mittagessen setzte sich Pauline in den Linienbus, der nach Wittdün fuhr. Jule hatte ihr für den Nachmittag freigegeben, weil keine neuen Gäste erwartet wurden. Sie selbst nahm einen Termin bei ihrem Steuerberater wahr und wollte anschließend kurz Frau Sörens besuchen. Für eventuelle Buchungsanfragen nutzte sie eine Anrufweiterleitung auf ihr Handy und hatte vorsichtshalber für die Hausgäste eine Notiz an der Pinnwand im Hausflur hinterlassen.

      Schon nach zehn Minuten Fahrzeit stieg Pauline an der Haltestelle Leuchtturm aus. Rot-weiß gestreift und stolz ragte der Leuchtturm in den Himmel und lockte sie regelrecht an. Mehrere Touristen umrundeten das Amrumer Wahrzeichen.

      Der Wind blies stärker und zerrte an Paulines Jacke und an ihren Haaren, je näher sie dem Leuchtturm kam. Bald stand er vor ihr: vierundsechzig Meter hoch, einschließlich der Düne, auf der er stand, und im Jahre 1875 in Betrieb genommen. Das las Pauline auf dem Hinweisschild. Ebenso erfuhr sie, dass man den Leuchtturm nur vormittags besteigen konnte. In puncto Besichtigungen hatte sie wirklich Pech. Sie hielt ihre Hand über die Augen und blickte rechts und links über die endlos erscheinenden Dünen. Die See war noch mindestens eineinhalb Kilometer von ihrem Standpunkt entfernt, schätzte sie. Vielleicht sogar mehr. Aber das machte nichts, sie würde trotzdem bis ganz nach vorn an die Brandung wandern und weiter bis nach Wittdün. Von dort aus würde sie den Bus zurück nach Norddorf nehmen.

      Pauline zückte ihren Fotoapparat und knipste den Leuchtturm, die Dünen, den Strand, das ferne Wasser. Einfach alles, was sie von ihrem Aussichtspunkt aus vor die Linse bekam. Schließlich schob sie den Apparat in ihre Umhängetasche zurück und trank einen Schluck Apfelschorle aus der mitgenommenen Flasche. So, es konnte losgehen. Tief atmete sie die herrlich salzhaltige Seeluft ein und zog den Reißverschluss ihrer Windjacke zu. Fröhlich marschierte sie die Dünen hinab. Sie sank fast bis zu den Knöcheln in den Sand ein. Unten, am Fuß der Großdüne, war es relativ windstill. Doch sobald sie den Dünengürtel hinter sich ließ, blies ein heftiger Wind, der den losen Sand vor sich her in Richtung Wittdün trieb. Pauline setzte die Sonnenbrille auf, um ihre Augen vor umherfliegenden Sandkörnern zu schützen. Sie stapfte quer über den Kniepsand in Richtung Meer, wo die Wellen weiße Schaumkronen trugen und mächtig an Land rollten. Sie liebte dieses Bild, es bedeutete für sie so etwas wie Ungestümtheit und Freiheit. Je näher sie dem Wasser kam, umso heftiger zerrte der Wind an ihr. Sie zog die Kapuze über die Ohren, beugte sich nach vorn und kämpfte sich weiter voran. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass es so stürmisch sein würde. Aber egal, sie würde nicht aufgeben und wandte sich ein bisschen nach links, um auf ihrem Weg zum Wasser schon ein bisschen die Richtung nach Wittdün einzuschlagen. Ab und an bückte sie sich, hob eine Muschel auf und steckte sie in ihre Jackentasche. Sie keuchte vor Anstrengung, als sie endlich vor der stürmischen See stand. Schwer und laut tosend rollten graublaue Wellen an den Strand. Durch die getönten Brillengläser wirkten sie bedrohlich, fand Pauline. Sie schob die Brille auf die Stirn. Immer noch bedrohlich. Nicht nur die Wellen, sondern auch der Himmel. Blauschwarze Wolken hatten sich aufgetürmt. Wegen der Sonnenbrille und ihrer vornübergebeugten Haltung hatte sie das gar nicht bemerkt. Pauline fuhr zusammen, als plötzlich ein Blitz vom Himmel zuckte. Auweia! Sie hätte auf den Wetterbericht achten sollen. Hoffentlich näherte sich das Gewitter nicht so schnell. In welche Richtung wäre sie am schnellsten in Sicherheit? Eindeutig Wittdün. Die Häuserzeile der Promenade konnte sie deutlich erkennen, aber es würde trotzdem noch eine Weile dauern, bis sie den Ort erreichte. Erste Regentropfen fielen. Pauline zurrte die Kapuze enger und begann zu laufen. Sie musste so schnell wie möglich fort vom aufkommenden Gewitter. Wieder blitzte es aus dem blauschwarz verfärbten Wolkenturm. Trotz der lauten Brandung hörte sie den Donner grollen. So schnell sie konnte, rannte sie über den Strand. Doch an manchen Stellen sank sie knöcheltief ein und kam nur schwer vorwärts. Die Häuserzeile schien nicht näher zu kommen. Was sie noch mehr ängstigte, war die Tatsache, dass sie keinen Menschen entdeckte. Sie schien der einzige Mensch weit und breit zu sein, der sich bei diesem Wetter am Strand herumtrieb. Verdammt! Der Regen wurde stärker und peitschte gegen ihren Rücken. Nach einer Weile war die Jeans durchnässt und klebte an ihren Beinen. Die Jacke hielt auch nicht das, was der Verkäufer ihr versprochen hatte und nach kurzer Zeit spürte Pauline die Nässe auf ihrer Haut. Sie zitterte vor Kälte – und vor Angst. Wie lange würde es noch dauern, bis sie ein schützendes Dach erreichte? Noch ein paar Hundert Meter schätzte sie, dann hatte sie es geschafft. Doch ihre Beine waren schwer wie Blei. Den Blick auf den Boden gerichtet stolperte Pauline vorwärts.

      Als sie nach einiger Zeit den Kopf hob, sah sie eine Person, die ihr entgegen kam. Noch so ein Wahnsinniger.

      „Sind Sie verrückt geworden, bei dem Wetter am Strand herumzulaufen?“, rief die Gestalt, noch bevor sie Pauline erreichte, gegen den Sturm an.

      „Es kam so plötzlich.“ Pauline versuchte zu erklären, froh, einen Menschen getroffen zu haben.

      „Verdammte Touristen. Nichts als Ärger hat man mit denen!“

      Warum musste er derart schimpfen? Pauline konnte von dem Mann außer einer schmalen Nase und einem energischen Kinn nichts erkennen, denn er trug die Kapuze seiner gelben Öljacke tief ins Gesicht gezogen.

      „Kommen Sie! Ich bringe Sie in Sicherheit.“ Er griff nach Paulines Hand und zog sie hinter sich her. „Wir müssen uns beeilen.“

      Mühsam versuchte Pauline, mit ihrem Retter Schritt zu halten, was gar nicht so einfach war, denn er war ein ganzes Stück größer als sie. Während sie hinter ihm herstolperte, starrte sie auf seine gelbe Rückseite. Mit so einer Jacke wäre sie sicherlich nicht so durchnässt, schoss ihr durch den Kopf. Aber nein, die hatte sie ja so unmodisch gefunden. Das hatte sie nun davon. Es donnerte wieder und Pauline zuckte zusammen. Hoffentlich waren sie bald in Sicherheit. Endlich hatten sie den Aufgang zur Promenade erreicht.

      „Hier entlang! Ich wohne in der Nähe.“ Der Mann zog Pauline die Promenade entlang. Kurz darauf blieb er stehen und zeigte auf ein kleines, geducktes Haus mit großen Panoramafenstern. „Hier ist es. Kommen Sie schnell rein.“

      Pauline fiel ein Stein vom Herzen, als sie nach Atem ringend endlich im Trockenen stand. „Danke.“ Sie japste und lehnte sich erschöpft gegen die Haustür.

      Ihr Retter schnaubte nur und begutachtete sie von oben bis unten. „Ziehen Sie das besser aus.“

      „Wie bitte?“ Pauline starrte ihn entgeistert an.

      „Wollen Sie etwa eine saftige Erkältung riskieren? Ich gebe Ihnen ein paar Sachen von mir. Werden zwar nicht passen, sind aber wenigstens trocken.“ Er drehte sich um und verschwand im Nebenzimmer. Auf dem Boden hinterließ er eine nasse Spur, die von der Haustür bis in das Zimmer reichte, in dem er eben verschwunden war.

      Pauline wusste, dass er recht hatte. Sie zitterte vor Kälte und wäre froh, endlich aus dem klatschnassen Zeug herauszukommen. Wenn es bloß nicht so unheimlich wäre, dass er immer noch seine Kapuze tief ins Gesicht gezogen hatte. Hatte er etwas zu verbergen? Pauline hörte eine Schranktür knarren. Zeit, zu verschwinden! Lieber wollte sie in einem anderen Hauseingang Schutz suchen. Vorsichtig drückte sie die Türklinke nach

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