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Poplutz nimmt aber auch die Grenze dieser Verfahrensweise wahr, die nicht zu übersehen ist, nämlich die immanente Struktur der erzählten Textwelt. Die Narratologie funktioniert synchronisch, konzentriert sich also auf die kohärent strukturierte Größe des Evangeliums. Als komplementäre Methoden müssen aber historisch-kritische wie wirkungsgeschichtliche Exegese in Betracht gezogen werden. So entsteht ein neuer „Methodenkanon“45. Er weist den Erzählungen einen festen Platz in der zeit- und sozialgeschichtlichen Situation ihrer Entstehung zu, so dass die Texte in ihrem Kontext gelesen und analysiert werden können. In diesem Netzwerk kann die Fragestellung der Narratologie sachgemäß erweitert und präzisiert werden.

      Die Lücke, die zwischen der historisch-kritischen Methode und der narrativen Analyse besteht, versucht die in jüngster Zeit erschienene Dissertation von Sönke Finnern46 zu füllen. Wie der Titel besagt, ist sie eine narratologische Studie. Finnern zeigt in seiner Arbeit eine geschichtliche und theoretische Ausführung zur Erzählanalyse, deren Ertrag am Beispiel der matthäischen Ostergeschichte (Mt 28) erprobt wird. Finnern verabsolutiert dabei aber die Narratologie nicht. Er gibt die strenge Unterscheidung von Diachronie und Synchronie auf. Von ihm wird eher ein „kognitiv ausgerichtetes Modell“47 als das neue, umfassende Konzept zur Erzählanalyse vorgestellt. Der reale Rezipient kann demnach die Texte erst aufgrund seines (historisch und kulturell variablen) Vorwissens und seiner kognitiven Verstehensschemata verstehen. Die statischen und dynamischen Situationen der Leser verändern sich. Sie führen bei der Analyse von Erzählungen zu Verhaltensänderungen. Die Kommunikationsebene der Texte ist damit variabel. Die Untersuchung von Finnern kommt zu dem Ergebnis, dass die Erzählanalyse aus der Sicht der „kognitiven Wende“ mit dem historisch-kritischen Methodenensemble vereinbar ist. Sie bietet in der Kombination von Erzählanalyse und historisch-kritischer Methode einen integrativen Ansatz der biblischen Exegese.

      Die Bochumer Habilitationsschrift von Robert Vorholt48 versucht, „mit exegetischen Mitteln aufzuzeigen, inwiefern theologische Grundparadigmen der Rede von der Auferweckung des Gekreuzigten durch das neutestamentliche Osterkerygma eine erzählerische Entfaltung erfahren haben, und zugleich zu begründen, weshalb die narrativen Elemente der österlichen Botschaft zum Kern und Wesen des Osterglaubens selbst gehören“49. Vorholt will die Ostererfahrung, die am Anfang des Osterglaubens steht (z. B. das leere Grab und die Erscheinungen des Auferstandenen), nicht nur historisch und theologisch einholen. Er hat auch das Ziel, „zu klären, was es theologisch bedeutet, dass sich diese österliche Erfahrung elementar in Erzählungen äußert“50. Diese narratologische Studie widmet sich allerdings nicht allein der Hervorhebung der matthäischen Theologie. Sie zeigt vielmehr den gesamten Sinnhorizont der Osterereignisse auf, die von allen vier Evangelisten in großer Übereinstimmung, aber auch mit unterschiedlichen Aspekten berichtet werden. Vorholt nimmt als ein hermeneutisches Defizit der Narratologie wahr, dass die Frage nach dem geschichtlichen Sinn der Geschehnisse ausgeblendet wird. Die narratologische Methodik wurde anhand fiktionaler Literatur entwickelt. Die kanonischen Osterevangelien werden hingegen „unter dem Anspruch formuliert, historische Wirklichkeit festzuhalten und somit beglaubigenden Zeugnischarakter zu haben“51. Vorholt konfrontiert mit der Herausforderung der Exegese, „Modus und Gehalt des Ostergeschehens auf der Grundlage des biblischen Zeugnisses zu beschreiben und es in seinem Wirklichkeits- und Wahrheitsanspruch vor dem neuzeitlich geprägten Forum der Vernunft kategorial wie inhaltlich zu bestimmen“52. Seine Untersuchung genügt diesem Anliegen, indem einerseits die Fundamente des Osterglaubens methodisch und inhaltlich abgesichert, andererseits die narrativen Strukturen der Osterevangelien untersucht werden. Für Vorholt sind historisch-kritische Exegese und narratologische Analyse integrierbar. Er entwickelt und kombiniert in seiner Studie geschichtshermeneutisches und narrationsanalytisches Verfahren.

      Ergebnis und Ausblick

      Die aktuelle Ausrichtung der Bibelexegese zeigt eine mittlerweile stark synchrone Orientierung. Das heißt nicht, dass die herkömmlichen Methoden in der Auslegung des Evangeliums bedeutungslos geworden wären.53 Der neue Trend der Bibelexegese verzichtet auf die eindeutige Trennung von Diachronie und Synchronie, versucht vielmehr in vielfältiger Weise54 beide in ein kommunikatives Beziehungsverhältnis zu setzen. Auch für die Kennzeichnung der Theologie des Matthäus wird nicht ein methodisches Instrumentarium gebraucht, sondern eine Integration beider exegetischer Zugangsweisen von Diachronie und Synchronie bevorzugt. Es bleibt aber umstritten, inwiefern dieser integrative Ansatz im Textfeld zugänglich ist und durchgeführt werden kann.

      Die vorliegende Arbeit gewährt der narrativen Analyse eine wichtige exegetische Position, weil ihre Grundlinie sich orientiert an der Erzählung. Der Weg Gottes mit den Menschen wird im Rahmen des Evangeliums erzählerisch entfaltet. Die Erzählung wird zumal in die matthäische Tradition eingeordnet, weil gerade die Verbindung des Weges Jesu mit dem seiner Jünger untersucht werden soll. Die Erzählung wird konsequent auf den Jünger bezogen, von dem erzählt wird. Es handelt sich um die qualifizierte Wirkung Jesu, die in die Kirche ausstrahlt, aber vom bestimmenden Anfang her erschlossen werden soll.

      In der Matthäus-Forschung ist das Kirchenverständnis ein wichtiges Thema.55 Eine Reihe von Aufsätzen und Monographien untersucht, welche Bedeutung ἐκκλησία (Mt 16,18; 18,17) bei Matthäus hat. Sie setzen sich mit der Fragestellung auseinander, wie sich die Kirche und Israel zueinander verhalten und wie in dieser Beziehung das Volk Gottes bestimmt ist. Das Verhältnis des Matthäus zum Judentum und sein Missionsverständnis sind dafür entscheidend. Ein Schwerpunkt ist die Darstellung der Jünger als Nachfolger Jesu; die „Jünger“ (μαθηταί) sind nach Matthäus für die nachösterliche Gemeinde die wichtigsten Identitätsfiguren (vgl. z. B. Mt 18,1-35). Sie sollen nach dem Sendungsauftrag des Auferstandenen zu seiner Nachfolge aufrufen und zur universalen Mission aufbrechen (vgl. Mt 28,16-20). Aber die Untersuchungen zum matthäischen Kirchenbild bleiben unzureichend, wenn die Begründung in der Christologie56 nicht genau beachtet wird. Matthäus spricht in seinem Evangelium keineswegs von der Kirche im Allgemeinen, sondern von der Kirche, die Jesus begründet hat (vgl. Mt 16,18). Die Jünger folgen dem Nachfolgeruf Jesu und partizipieren an seiner messianischen Sendung, so dass sie Jesu Person und Wirken repräsentieren. Die ekklesiologischen Elemente müssen auf der Grundlage der Christologie bestimmt werden.

      Die Kirchenvorstellung des Matthäus ist mit der Ethik untrennbar verbunden. Dies ist für die christologische Begründung der Ethik nicht unwichtig – allerdings bereits untersucht, so dass diese Spur in dieser Studie nicht eigens verfolgt zu werden braucht. Durch Identifizierung der nachösterlichen Gemeinde mit den Jüngern wird Jesu Lehre in der Geschichte weitergetragen, welche sich in den großen Redekompositionen, besonders in der Bergpredigt (Mt 5-7), inhaltlich-sachlich entfaltet; sie orientieren das menschliche Handeln am „Willen des Vaters“ (Mt 7,21; 12,50), so dass jene, die Jesus nachfolgen, den „Weg der Gerechtigkeit“ (Mt 21,32) nicht verfehlen, wie die Schriftgelehrten und Pharisäer ihn verfehlen, wenn sie die „überfließende Gerechtigkeit“ (Mt 5,20), die Jesus lehrt, nicht erkennen. Die Matthäus-Exegese erforscht die Bergpredigt als Programmtext der Ethik Jesu, um den Jüngern (und der christlichen Gemeinde) das wahre Ethos der Nachfolge als Norm zu vermitteln.57 Für die Bildung der Gemeinde sind die ethischen Weisungen Jesu verbindlich. Sie verdanken sich dem (alttestamentlichen) Gesetz. Dieses wird in göttlicher Vollmacht ausgelegt (vgl. Mt 5,17-20). So liefert die Christologie des Matthäus den Schlüssel zum Verständnis des Gesetzes und damit zum Leben der Kirche. Allerdings ist die Forschung kontrovers. Zur Diskussion steht die Grundfrage nach der Übernahme oder Ablehnung der Tora, ihrer Verbindlichkeit oder Ablösung.58

      Offenbar ist die Christologie das Fundament des Matthäusevangeliums. Die matthäische Theologie ist von der Überzeugung bestimmt, Jesus als der Sohn Gottes sei der erwartete Messias, der die Heilsverheißung Gottes erfüllt.59 Die Christologie hat somit einen herausragenden Stellenwert im Matthäusevangelium. Die Matthäusforschung beschäftigt sich dagegen aber mehr mit dem matthäischen Schlusstext (Mt 28,16-20)60 und den christologischen Titeln (z. B. der Gottessohn, der Menschensohn)61 als mit der narrativen Struktur der Jesusgeschichte im gesamten Evangeliumszusammenhang.62

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