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mündigen Menschheit bezweckt, verharrt im Bann des Unheils ohne eine das Ganze in seiner Unwahrheit denkende Theorie.“33

      Die Bildung einer vernünftigen und mündigen Menschheit ist nicht unterhalb des Niveaus des fortgeschrittensten Standes der Erkenntnis möglich. Diese Einsicht impliziert für Adorno eine kritischweiterzuführende Rezeption Marxscher Theoreme, nicht zuletzt desjenigen der Aufhebung der Philosophie durch ihre Verwirklichung, das zwar, nachdem es einmal versäumt war, nur als Idee, dennoch aber notwendig ist, um – als theoretisches Korrektiv – die Praxis vor der blinden Affirmation des Bestehenden im Gewande der Kritik zu retten. Diese Aufhebung ist jedoch noch einmal an die gesellschaftlichen Verhältnisse zurückgebunden: an die Entwicklung der Produktivkräfte als reale ökonomische Bedingung der Menschen, sich aus den Fesseln entfremdeter Arbeit zu befreien.34

      Dabei scheut Adorno sich nicht, seine Versöhnungshoffnung, die auch das Verhältnis von Theorie und Praxis betrifft, metaphysischtheologisch zu verorten, da sie nur dann radikal wird, wenn sie den Schuldzusammenhang35 bricht, der auf der Menschheit lastet, wenn sie „das Gleich um Gleich der Gewalt“, den „Rückfall in die Barbarei“36, der in Auschwitz und Hiroshima stattgefunden hat, überwindet. Der Verzicht auf das Gleich um Gleich der Gewalt ist die Realantizipation der Versöhnung, nicht schon diese selbst. Versöhnung bleibt, gegen alle praktischen Versuche, bestehendes Unrecht zu wenden, gebunden an die Möglichkeit, vergangenes Leiden zu widerrufen37, ohne dabei die realen Bedürfnisse der Menschen zu übergehen. Darin konvergiert Adornos materialistische Dialektik mit der Theologie, dass ihre Sehnsucht die Auferstehung des Fleisches wäre; „dem Idealismus, dem Reich des absoluten Geistes, ist sie ganz fremd. Fluchtpunkt des historischen Materialismus wäre seine eigene Aufhebung, die Befreiung des Geistes vom Primat der materiellen Bedürfnisse im Stand ihrer Erfüllung. Erst dem gestillten leibhaften Drang versöhnte sich der Geist und würde, was er so lange nur verheißt, wie er im Bann der materiellen Bedingungen die Befriedigung der materiellen Bedürfnisse verweigert.“38

      Wichtig ist, dass mit dem Gedanken an Versöhnung und der praktischen Antizipation dieser Versöhnung ein Maßstab angegeben ist, von dem aus bestehende Praxis kritisierbar ist. Adornos Maßstab der Praxis orientiert sich an einem Maximum: „einem Handeln, worin selbstbestimmte Vernunft, vernünftige Selbstbestimmung sich äußert. Das erst wäre wahrhafte, d.h. dem menschlichen Vernunftvermögen angemessene, menschenwürdige Praxis. Von ihr ist die gesellschaftliche Wirklichkeit weit entfernt. Daher heißt Praxis auch die Herstellung von Bedingungen, unter denen besagtes Maximum von Praxis möglich wäre.“39

      Noch die kritischste Attitüde, sofern sie nicht die Tendenzen einer total verwalteten Welt begrifflich erfasst, erliegt dieser, indem alle Spontaneität abgewürgt und in Pseudo-Aktivität kanalisiert wird.40 Eine kritische Sichtung des Praxisanspruchs in der bestehenden Gesellschaft ist daher auf die Analytik der gesellschaftlichen Grundpfeiler angewiesen.

      Konsequent kritisiert Adorno die bestehende Praxis als falsche, die letztlich auch nicht Praxis ist. „Falsche Praxis ist keine.“41 Praxis im emphatischen Sinne wäre sie erst in der gegenseitigen Vermittlung von Subjekt und Objekt; die herrschende sieht von dieser ab, ohne darüber sich Rechenschaft abzulegen, dass sie immer schon ein bestimmtes Verhältnis von Subjekt und Objekt voraussetzt, nämlich die Beherrschung des Objekts durch das Subjekt. Praxis hätte auch für das Subjekt, insofern selbst Objekt, seiner Bedürftigkeit zu folgen, die, da sie durch das gesellschaftliche Gesamtsystem vermittelt ist, selbst noch theoretisch zu bestimmen wäre. „Praxis ohne Theorie, unterhalb des fortgeschrittensten Standes von Erkenntnis, muß mißlingen“42. Von der falschen Praxis ist daher auch die Theorie betroffen43, doch der Aufweis der Falschheit bestehender Praxis ist in dem Verfahren immanenter Kritik theoretisch möglich, ohne darin eine Ontologisierung der Falschheit von Praxis vorzunehmen. „Wir können ja nicht sagen“, bemerkt Adorno in einer Diskussion mit Horkheimer, „das Ganze ist das Wahre, wir können nur sagen, das Ganze, das es nicht gibt, ist das Wahre. Münchhausensituation.“44 Theorie bestimmt Praxis als defizient, indem sie darauf hinweist, dass sie im strengen Sinne noch aussteht. Solange dies der Fall ist, ist Aufgabe der Theorie aufzuzeigen, was emphatische Praxis systematisch verhindert.

      Ist Theorie Statthalterin von Praxis in der Situation ihrer Verstelltheit, so ist sie doch gleichwohl immer auf Praxis verwiesen, kann ohne diese gar nicht gedacht werden. Die Paradoxie der Theorie ist daher, dass sie ohne ihren Reflexionsbezugspunkt selbstwidersprüchlich wird, selbst dann, wenn emphatische Praxis fehlt.

      Welche Praxis aber meint die Theologie, wenn sie vom Primat der Praxis spricht? Aus den bisherigen Ausführungen ist deutlich geworden, dass die klassische Position, die Theologie beziehe sich auf kirchliche Praxis, nicht zureichend ist. Sie ist, das wurde eingangs schon deutlich, Theorie einer umfassenden Praxis, die auf kirchliches Handeln bezogen ist, auf den Selbstvollzug der Kirche, auf das Handeln von Christinnen und Christen in kirchlichen wie nichtkirchlichen Kontexten, auf die dezidiert religiöse Praxis, aber auch auf das Handeln von Menschen, die auf unthematische und unreflexe Weise ‚christlich‘ agieren, auf die Praxis von Menschen in komplexen gesellschaftlichen Konstellationen, mithin also auch auf gesellschaftlich relevantes Handeln unabhängig von der Frage, ob es die bestehende Gesellschaft affirmiert oder kritisiert, auf das Handeln im Horizont der eigenen Endlichkeit wie der der Endlichkeit des/der Anderen, das gerade dadurch aber diesen Horizont sprengen kann, indem es Verhältnisse anvisiert, in denen die Endlichkeit in eine größere Gerechtigkeit hinein aufgehoben wird. Es ist schließlich auch Reflexion auf die Bedingungen, in denen und durch die das Handeln von Menschen beschädigt, gar verunmöglicht wird, und zugleich auf ein Handeln, das diese Bedingungen verändern möchte. Werden die Referenzpunkte so weit gefasst, dann kann Theologie, ja dann muss sie gar als Theorie des Handelns verstanden werden. Sie „kann sich nicht bloß auf ein Segment oder eine Region menschlicher Praxis beziehen, sondern muss die bedrängenden Fragen menschlicher Praxis überhaupt im Blick haben“45.

      Schon in der Enzyklika „Mater et magistra“ von 1961 benannte Johannes XXIII. drei wichtige Stichworte, die zuvor schon in der Christlichen Arbeiterjugend unter der Prägung des späteren Kardinals Joseph Cardijn eine wichtige Rolle spielten: Die methodische Arbeitsweise kirchlichen Handelns vollziehe sich in einem Dreischritt: „Zunächst muß man den wahren Sachverhalt überhaupt richtig sehen; dann muß man diesen Sachverhalt anhand dieser Grundsätze gewissenhaft bewerten; schließlich muß man feststellen, was man tun kann und muß, um die überlieferten Formen nach Ort und Zeit anzuwenden. Diese drei Schritte lassen sich in den drei Worten ausdrücken: sehen, urteilen, handeln.“ (Mater et magistra, 236) Vertieft wird dies in Gaudium et spes, wenn dort die Deutung der Zeichen der Zeit im Lichte des Evangeliums als zentrale Aufgabe der Kirche in der Welt von heute angegeben wird (vgl. GS 4). Die dort vorgenommene Spezifizierung ist dabei besonders wichtig, denn es wird deutlich formuliert, dass dies zu jeder Zeit geschehen müsse, womit implizit ein in der Theologie immer wieder aufzufindendes Verständnis von der Zeitlosigkeit der Wahrheit zurückgewiesen wird. Nicht Wahrheit ist in der Geschichte, so ließe sich mit Adorno betonen, sondern Geschichte in der Wahrheit.46 Auch der christliche Wahrheitsanspruch hat sich in unterschiedlichen Situationen auf unterschiedliche Weise zu aktualisieren. „Was ‚immer‘ wahr ist“, so formuliert Bonhoeffer, „ist gerade ‚heute‘ nicht wahr“47.

      Die Bezüge auf Mater et magistra und Gaudium et spes und die damit inhärierte Zeitdiagnostik im Lichte des Evangeliums ist für die Methodik der Theologie wie auch der Kirche höchst relevant, denn sie sind in sich dynamisch, weil sowohl die Wahrnehmungen in unterschiedlichen Situationen unterschiedlich sind, aber auch die Urteilsstrukturen immer wieder neu zu explizieren sind, ohne dass dabei die grundlegenden Parameter christlicher Urteilskraft gleichsam dem Zeitgeist untergeordnet würden. Es kommt entscheidend darauf an, das kirchliche Handeln immer wieder als adäquate Reaktion auf die jeweilige Situation entfaltet werden muss.

      Auf jeden Fall ist die theologische Reflexion immer auf Praxis angewiesen. Das alte, wenn auch immer noch anzutreffende Verständnis der Verhältnisbestimmung von Theologie und Praxis ist damit verabschiedet. Wahrheit ist nämlich „nicht im vorhinein durch Theorie erfunden und im nachhinein durch die Praxis“48 zu bestätigen. Theologie steht unter dem Primat

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