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es die Erinnerung an den Tag ihrer Geburt? Oder erkannte ihre Seele ihn erneut? Er tastete erneut nach ihr. Ja, da war sie, winzig klein und fast losgelöst.

      Erkennst du mich?, fragte er.

      Immer.

      Du stirbst.

      Ja.

      Er spürte einen leichten Ruck. Ein weiterer Faden zu ihrem Körper hatte sich gelöst.

      Ich war an deinem ersten Tag deines Lebens da, sagte der Tod.

      Schweigen.

      Du hattest alles noch vor dir und hattest mich schon getroffen.

      Schweigen. Vielleicht war die Seele zu beschäftigt.

      Das hier ist nicht meine Schuld. Aber ich will, dass du weißt, dass ich traurig bin.

      Ein weiterer Ruck. Nur noch ein Faden war übrig.

      Sehr traurig.

      Der Tod seufzte. Er hielt sich die Hand vor die Augen, obwohl der Tod nichts Sichtbares war.

      Warum sprichst du nicht mit mir?, schrie er.

      Arus Seele schwieg. Der letzte Ruck stand bevor.

      Der Tod zog die Hand weg. Arus lebloser Kinderkörper lag im schimmernden Wasser, das Huhn hatte losgelassen und kreiste über ihr. Er sprang ins Wasser und watete zu ihr, zog ihren Kopf aus dem Wasser und schlug ihr kräftig in den Nacken, bis braunes Wasser herausspritzte.

      Aru hustete.

      Der Tod trug sie zum Steg und hob sie darauf. Er selbst folgte mit wenigen, kräftigen Bewegungen und hievte sich hoch. Er hob den Kopf des Kindes auf seinen Schoß und strich ihr die Haare aus dem Gesicht.

      »Atme, Aru! Atme!«

      Er war zwar der Tod, aber er konnte niemanden zurückholen. Tot war tot. Doch zufrieden stellte er fest, dass die Seele noch da war und nach wenigen Momenten hob und senkte sich der Brustkorb. Aru schlug die Augen auf.

      »Hallo«, sagte er.

      »Ich kenne dich«, sagte sie.

      Er sollte stutzen, denn sie konnte sich unmöglich an ihn erinnern. Allerdings er wunderte sich nicht, das war immerhin Aru. Er lächelte.

      Die Dutzend Bewohner von Jui sahen, dass Aru gerettet wurde, und blieben einige Schritte vor ihnen stehen.

      Der Tod hob eine Hand und bewegte sie im Kreis zum Gruß. »Hallo.«

      »Das ist der Tod!«, rief jemand.

      Mehrere Schreie hallten durch die Nacht und einer wurde ohnmächtig. Er wurde gerade so von einem zweiten aufgefangen, sonst wäre er ebenfalls ins Moor gefallen.

      Der Tod seufzte. Er hatte wenig Lust, sich mit mehreren Fackelträgern rumschlagen zu müssen. Er war müde. Und er hatte an diesem Abend womöglich einen schrecklichen Fehler gemacht. Sorgenvoll blickte er auf das gerettete Mädchen in seinen Armen. Dann verschwand er.

      Von der Menge löste sich eine Gestalt und rannte auf Aru zu. Sie hob sie hoch und drückte sie schluchzend an die Brust.

      »Mutter?«, fragte Aru ungläubig.

      »Sei still«, sagte diese erstickt. »Sei einfach still.«

      In dieser Nacht kam ihre Mutter später zu ihr ans Bett. Ihre Kinder schliefen schon, doch Aru wachte auf, sobald sie ihre Präsenz neben sich spürte. Aru sagte nichts, weil sie sich nicht traute, zu fragen, ob ihre Mutter sie wirklich umarmt hatte.

      »Du weißt, dass ich dich liebe, oder?«, fragte ihre Mutter.

      Aru wusste nicht, was sie mit den Worten anfangen sollte. Sie verstand nicht einmal, wie es möglich war, dass jemand sie an sie richtete. Sie hielt sie für einen Traum.

      »Das tue ich«, sagte ihre Mutter. »Das tue ich wirklich, es ist nur ... Du bist schon verloren. Von Anfang an warst du verloren und ich will nicht ...« Sie pausierte für einen Moment, bis sie sich wieder gefangen hatte. »Ich kann nicht darauf warten, bis du mir entrissen wirst und alle mitnimmst. Du bist die Bringerin des Todes. Du bist verflucht. Und deswegen liebe ich dich einfach nicht.« Wieder eine Pause, wieder ein hartes Schlucken. »In Ordnung?«

      Aru schloss die Augen. Wie konnte sie diese Worte genehmigen? Ihr Kopf schwirrte.

      Ihre Mutter liebte sie und liebte sie nicht.

      Sie verstand sie nicht, diese Fetzen aus der Erwachsenenwelt. Sie hörte, wie ihre Mutter aufstand und das Zimmer verließ. Heiße Tränen rannen ihr die Wangen hinab.

      In dieser Nacht schlief sie keine Minute.

      Der Tod erschien direkt in Kalinikas Grotte. Er stürmte die Hütte, ohne anzuklopfen.

      »Es wirkt nicht! Dein Zauber mit dem stinkenden Fisch, er wirkt nicht!« Er missachtete den großen, alten Mann, der bei Kalinika und ihrem Mann am Tisch saß, zog die Hexe am Kragen hoch und drückte sie an die Wand. »Was ist das für ein Spiel? Versuchst du, mich für irgendeinen perversen Rettungsversuch reinzulegen?«

      Kalinika konnte nicht sprechen, der Kragen schnitt ihr in den Hals, also nickte sie nur. Lert, der die Wutausbrüche des Todes schon kannte, legte ihm eine Hand auf die Schulter.

      Ruhig sagte er: »Lass sie los.«

      Der Tod gehorchte. Er stolperte rückwärts, bis er auf dem Tisch saß. »Immer versucht sie, mich zu retten, ich bin nicht zu retten! Sag ihr das.«

      Er schaute an sich herunter und glaubte, noch das Gewicht des Mädchens in seinen Armen zu spüren. Er war nass und dreckverkrustet.

      »Du kannst froh sein, dass dich überhaupt noch jemand retten will«, sagte Kalinika und rückte sich das Oberteil zurecht.

      Die Jahre hatten ihr feine Falten ins Gesicht gezeichnet, die sie noch interessanter machten, wie der Tod fand. Er selbst war nicht gealtert.

      »Wir brauchen erst einmal einen Ehinwein, dann erzählst du uns alles in Ruhe«, sagte Lert und ging zum Weinregal, das Schmuckstück des Zimmers.

      Der Tod ließ sich auf einen Stuhl sinken. War sein Herz noch immer verloren? Was war da eben geschehen, warum hatte er Aru gerettet?

      »Ich bin Baobam«, sagte der Alte, der ihm gegenübersaß.

      Der Tod nickte abwesend. »Ich weiß, wer du bist. Du bist bald an der Reihe.«

      Baobam wurde grau um die Nase.

      »Nur ein Scherz.« Der Tod winkte ab. Er machte den Scherz oft und er funktionierte jedes Mal. »Ich habe keine Ahnung, wer du bist.«

      Erleichtert, aber beschämt lächelte der Alte. »Kalinika hat nie erwähnt, wie humorvoll du bist.«

      »Sie hat wahrscheinlich auch nie erwähnt, wie gut aussehend ich bin.«

      »Wenn du noch Blödsinn reden kannst, geht es dir wohl noch nicht schlecht genug«, sagte Kalinika und stellte geräuschvoll einen Becher vor ihn. Ihre kühle Hand auf seiner Schulter verriet, dass der strenge Blick nur Teil des Spiels zwischen ihnen war. »Baobam kommt aus dem Süden, aus Lerts Heimatdorf.«

      »Wir kennen uns seit meiner Kindheit«, rief Lert. Er hatte sich noch immer nicht für einen Jahrgang entschieden.

      »Tatsächlich? Also sind bei euch nicht alle Menschen klein.«

      Lert schwang halb drohend, halb belustigt eine Weinflasche in seine Richtung: »Pass auf, du!«

      »Ich wünschte, du könntest erst scherzen und dann überlegen, ob du jemanden würgen musst«, sagte Kalinika und rieb sich den Hals.

      Der Tod zog sie zu sich. »Hab ich dir wehgetan? Zeig mal her. Es tut mir leid.«

      Kalinika präsentierte ihren Hals, auf dem noch der Abdruck ihres Kragens zu sehen war.

      »Das

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