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Blick blieb auf das Versteck gerichtet.

      Aru wünschte sich, dass sie sie bemerkt hätten. Sie wollte den Ausdruck in ihren Augen sehen, der zeigte, dass sie wussten, dass ihre Gedanken falsch waren. Als ihre Eltern mussten sie sie doch lieben, sie war doch gut, ein braves, gesundes Kind, genau wie die anderen. Aber ihre Geschwister waren anders, das spürte sie. Vor ihnen schreckte niemand weg.

      Sie kroch unter dem Tisch hervor und stellte sich mit verheultem Gesicht und erhobenem Kopf vor ihre Eltern. Zu gerne hätte sie etwas gesagt, hätte ein Urteil gesprochen. Aber für den Schmerz in ihr gab es keine ihr bekannten Ausdrücke und so schaute sie nur in die überraschten Augen. Sie zog den Rotz hoch, doch er rann ihr sofort wieder aus der Nase.

      »Da!«, sagte ihr Bruder erneut, doch er wurde von Arus Schluchzen übertönt.

      Niemand rührte sich, selbst der Marktplatzlärm schien nicht mehr hinein zu dringen. Nie hatten ihre Eltern ihr gezeigt, dass sie mit ihnen reden durfte, wenn sie etwas auf dem Herzen hatte. Sie hatte beobachten müssen, wie ihre Geschwister umarmt und gedrückt wurden. Berührungen kannte sie nur, wenn sie aus Versehen geschahen.

      Selbst jetzt wurde sie nicht erhört. Niemand beugte sich hinunter und zog sie an sich. Niemand, und das Verlangen danach war so groß, dass sie dieses schlussendlich herunterschlucken musste.

      Aru war fertig mit der Hoffnung. Sie hatte keinen Platz auf der Welt. Das, was sie schon lange wusste, begriff sie nun.

      Sie rannte aus dem Haus. Noch immer weinte sie bitterlich, doch das Rennen half und schließlich versiegten die Tränen. Als die Häuser weniger dicht standen, verlangsamte sie ihren Schritt.

      Weite Moorapfelfelder lagen vor ihr. Man erkannte sie an den rechteckig angeordneten Stegen, von deren Eckpfählern je ein Ende eines Netzes ins Wasser reichte. Im Hochsommer wurden damit die Mooräpfel geerntet und weiterverarbeitet.

      Aru lief jedoch weiter, ignorierte die Mücken, die um sie schwirrten und sie stachen, und erreichte nach einer langen Wanderung den Rand des Moores. Die Sonne stand bereits tief und glitzerte in den letzten Pfützen. Danach wurde der Boden höher und weniger wässrig. Aru sprang vom Steg und landete auf der festen Wiese.

      Sie überlegte, ob sie bis zu den Kastanien laufen sollte, doch sie empfand keine Lust, auf ihren Ästen zu schaukeln. Hinter sich vernahm sie ein Gackern und wusste, dass ihr das Serenikahuhn gefolgt war.

      Unschlüssig stand sie im Gras, bis es kühl wurde. Die Sonne war schon fast hinter den Bäumen verschwunden. Sie wollte nicht zurück nach Jui, aber sie fürchtete sich zu sehr, um im Dunkeln draußen zu bleiben. Ihr Elternhaus war kein Ort, an dem sie willkommen war, aber sie wusste nicht, wohin sie sonst sollte. Also kletterte sie zurück auf den Steg. Das Serenika breitete die Flügel aus und flog in den Himmel. Es erkannte, dass sie nach Hause gehen würde, und bewachte Arus Weg von oben.

      Das Wasser schmatzte unter dem Holz und ihre Stiefel machten dumpfe Geräusche darauf. Die Schatten wurden länger und sie rannte schneller.

      Nachts kamen die Hexen aus dem Moor, erzählte man sich, und die darin versunkenen Kühe würden einen zu sich ziehen wollen. Dann wäre sie wirklich Aru-Stinkekuh.

      Bei den Moorapfelfeldern sah sie einige aus ihrer Klasse. Alele erkannte sie im Dämmerlicht, dann mussten die anderen Khuto und Pele sein. Aru blieb stehen. Sie wollte ihnen nicht in die Arme laufen, aber ein Umweg würde bedeuten, in noch dunklere Ecken zu kommen und länger zu brauchen. Trotzdem bog sie ab, als sich zwei Stege kreuzten. Der Wind trug nun die Stimmen ihrer Klassenkameraden zu ihr. Kaum konnte sie den Weg vor sich noch ausmachen.

      »... nicht wirklich Unterricht kriegen? Dann hast du noch mehr Schule.«

      »Singen ist kein Unterricht, Dummkopf!«

      Über sich hörte sie die beruhigenden Schwingen der Serenika.

      Dann: »Ist da drüben nicht Aru?«

      Arus Herz schlug schneller und sie beschleunigte ihren Schritt.

      Aufgeregt riefen die Kinder: »Todeshure! Hier drüben! Komm zu uns, putt, putt, putt, putt, putt!«

      Aru rannte jetzt wieder, dabei sah sie kaum, wo der Steg abknickte. Schrilles Gelächter erklang hinter ihr.

      »Hinterher!«, brüllte Alele.

      Aru wusste nicht, ob sie sie schon hinter sich atmen hören konnte oder ob die Laute nur von ihr selbst waren. Fast wäre sie auf dem klammen Holz ausgerutscht, doch sie konnte sich gerade noch halten, und hastete weiter.

      »Wir sind fast da, kleine Kuh, dann stopfen wir dich dorthin, wo du hingehörst!«

      Wohin gehörte Aru? Ja, das würde sie wirklich auch wissen wollen.

      Und der Steg endete, doch Aru hatte es nicht gesehen. Ohne ein Geräusch zu machen, fiel sie ins Wasser. Sie spürte nicht, wie das Huhn sich in ihren Rücken krallte und versuchte, sie rauszuziehen. Sie hörte nicht, wie die Kinder, die sie verfolgt hatten, schrien. Nach ein paar panischen Bewegungen hatte sie so viel Schlamm aufgewühlt, dass weitere Bewegungen schwer wurden. Sie konnte den Kopf nicht mehr drehen und ihre Lungen brannten.

      Vielleicht war das der Ort, an den sie gehörte. Auch wenn sie wusste, dass sie keine Luft erwarten konnte, wurde der Drang zu atmen unerträglich. Also gab sie nach.

      Aru öffnete den Mund und Schlamm strömte in sie hinein.

      In seinem Haus in den Bergen begann der Tod zu schwitzen. Vor einer Weile hatte er gesehen, dass Arus Tod bevorstand. Er war erleichtert!

      Obwohl er zwar jeden Todeszeitpunkt einsehen konnte, waren die meisten Vorgänge inzwischen automatisiert. Einige schwierige Seelen verlangten seine Anwesenheit, da sie in der Vergangenheit gerne mal geblieben sind und umhergeisterten. Andere hatten schlichtweg einen Pakt geschlossen, dass sie vom Tod höchstpersönlich abgeholt werden würden, obwohl das am Ende keinen Unterschied machte. Manche Leute wollten einfach umgarnt werden.

      Arus Seele war weder wichtig noch schwierig. In Kürze würde sie im Totenreich sein. Damit wäre sein Problem gelöst, er könnte sein Herz zurückholen und er musste dafür nichts tun, als diesen Tag zu überstehen.

      Hoch auf dem Berg sah er länger die Sonne und er starrte in ihr glühendes Gesicht. Nur warten musste er, nur warten.

      Am Morgen hatte er sich gut gefühlt. Er hatte einige Tode begleitet, viele davon freiwillig, um beschäftigt zu sein. Das Abendessen hatte er noch summend begonnen, doch beim Kauen hatte er zu viel Zeit zum Denken.

      Es war natürlich unmöglich, Zuneigung zu empfinden, er war der Tod! Unter anderem war er deswegen der Tod geworden. Er wollte nicht, dass ihm da jemand anderes hineinredete. In alles, in seinen Job, sein Leben. Er war allein und glücklich.

      Der Tod beschloss, nach Jui zu reisen. Nicht um Arus Seele zu begleiten, er wollte nur zusehen. Es passierte nicht jeden Tag, dass eine Seele starb, die sich mit seiner verbunden hatte.

      In Jui angekommen, musste er den richtigen Ort erst suchen. Es gab massenhaft Stege in dieser Stadt. Dann hörte er den Lärm der heraneilenden Bewohner. Aha, dort lag sie im Wasser!

      Er erschien direkt dort, wo das Holz endete und wo sie hinabgefallen war. Mit dem Gesicht lag sie nach unten und rührte sich nicht. Es mussten schon mehrere Minuten gewesen sein. Der Mond beleuchtete ihr Sterben.

      Noch immer hielt das Huhn am Rücken das Kleid fest und hielt sich flatternd in der Luft. Es war unüblich für Serenika, so anhänglich zu sein. Zwar genossen sie die Menschen, weil sie sie fütterten, doch für sie war ein Menschenleben zu kurz, um sie zu schätzen. Immerhin war ihre Lebenszeit die Ewigkeit.

      Der Tod tastete innerlich nach ihrer Seele. Sie war noch da, schwach pulsierte sie und löste sich schon von den Zellen. Es würde nicht mehr lange dauern. In der Ferne rannten Menschen mit Fackeln und Öllampen auf ihn zu, die die Kinder geholt haben mussten. Sie würden nicht rechtzeitig kommen.

      Hallo.

      Der

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