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nicht dem Belieben der einzelnen überlassen werden; dafür bedürfe es einer Autorität. Das Lutherische, »Allein die Schrift«, so hieß es, sei trügerisch und werde bei solcher Freiheit von jedem Prediger missbraucht; deshalb müsse es durch die Tradition und die Vollmacht eines Lehramtes ergänzt, wenn notwendig, korrigiert und bestimmt werden. Dieses Dekret sollte Jahrzehnte später Galilei zu spüren bekommen.

      Weil aber auch nach Auffassung der römischen Kirchenführer die Bibel nicht lehre, was am, sondern nur im Himmel geschehe, gründete Papst Gregor XIII. (1572–1585) eine Sternwarte im Vatikan und ließ dazu im Jahr 1578 über den Palästen, einem heutigen Museumstrakt, den »Turm der Winde« (Torre di Venti) errichten. Auch dorthin führte mich Pater Metzler, der Leiter des Geheimarchivs, auf steilen Treppen und erläuterte mir dann – nachdem wir die Aussicht ringsum auf den Vatikanstaat mit den Gärten und auf Rom mit einem grauen Himmel darüber bewundert hatten –, wie merkwürdig es zugeht in der Geschichte der Welt und der Kirche:

      FORTSCHRITTLICHE KALENDERREFORM DANK DER BESTEN ASTRONOMEN

      Papst Gregor XIII. (geb. 1502, 1572–1585) wollte den Kalender reformieren. An der Spitze des wissenschaftlichen Fortschritts. Der alte Julianische Kalender (von Cäsar, aus dem 1. Jh. v. Chr.) war aus dem Sonnentakt geraten und sorgte für fehlerhafte Datierung, zum Beispiel des christlichen Osterfestes, eigentlich am Sonntag nach dem ersten Frühlingsvollmond. So verfügte der Papst, im Oktober 1582 zehn Datumstage ausfallen zu lassen. Daher folgte auf Donnerstag, den 4. Oktober, gleich Freitag, der 15. Oktober, doch nur in denjenigen katholischen Ländern, die diese Reform sofort annahmen. Länder der Reformation brauchten länger für den Fortschritt; die protestantischen deutschen Reichsstände passten sich 1700, England und die amerikanischen Kolonien 1752, Sowjetrussland 1918 und zuletzt die Volksrepublik China 1949 dem genaueren System des Papstes an. Konfession oder Ideologie waren ihnen offenbar wichtiger.

      Gregor XIII. standen dabei die besten Astronomen zur Verfügung, zumeist Priester aus dem Jesuitenorden. Diese »Gesellschaft Jesu« wollte nach dem Beispiel ihres Gründers, des Basken Ignatius von Loyola (1491–1556), mit Macht, das heißt, mit Schulen und Universitäten, mit Wissen und noch mal Wissen die Bildung der Katholiken heben, in Treue zum Papst. Die bedeutendsten Jesuiten-Astronomen waren:

      • Christophorus Clavius aus Bamberg (1537/8–1612) hat in Rom die wissenschaftliche Leitung der Kalenderreform inne.

      • Matteo Ricci aus dem mittelitalienischen Macerata (1552–1610) überzeugt als Missionar den Kaiserhof in China von der Überlegenheit der römischen Astronomie.

      • Christoph Scheiner, ein bayerischer Schwabe (1573–1650), wird in Rom (1624–1633) – etwa im Konflikt um die Entdeckung der Sonnenflecken – zum Konkurrenten Galileis. Deren persönliche Rivalität wird schon von berühmten Zeitgenossen, wie René Descartes und Pierre Gassendi (»Beide sind gut, streben nach Wahrheit, sind gleich ehrlich und rechtschaffen. Beide haben sich gegenseitig beleidigt.«), bedauert. Scheiner verlangt im Prozess von Galilei »Beweise«, vielleicht, weil er seine eigenen Zweifel (an der Geozentrik) besiegen wollte. Gleichviel. Es gilt das Fehl-Urteil der Inquisition.

      • Athanasius Kircher aus Fulda (1602–1680 in Rom), universal gebildet, ein Forscher ersten Ranges auf vielen Gebieten, als »der erste Gelehrte mit weltweiter Reputation« (Findlen) bezeichnet, leitet als Professor am Collegium Romanum (seit 1634) eine Revision des römischen Weltbildes ein. Er beschreibt das geozentrische System von Tycho de Brahe (geb. 1546 in Dänemark, gest. 1601 in Prag) und das heliozentrische des kaiserlichen Hof-Astronomen Johannes Kepler (geb. 1571 in Württemberg, gest. 1630 in Regensburg) auch als Theologe so behutsam, dass beide mit der Heiligen Schrift vereinbar scheinen.

      VORLIEBE FÜR DAS GEOZENTRISCHE SYSTEM

      Eine Vorliebe der Offenbarungstheologen, jüdischer, christlicher und muslimischer, für das geozentrische System war wohl unvermeidbar. Dass die Erde im Mittelpunkt der Welt stehe, muss Religionen gefallen, deren Gott hier auf Erden sich die Juden als Volk erwählt, der »seinen eingeborenen Sohn« als Jesus von Nazareth hat Mensch werden lassen – der schließlich im Islam seine Worte einem Mohammed aus Mekka überantwortet hat. Die Einzigartigkeit Gottes im Judentum, der Erlösung durch Christus – auch der Offenbarung im Koran – schien mit der Einzigartigkeit der Erde im Universum verbunden zu sein und am schönsten zu harmonisieren. Vorausgesetzt, man denkt darüber nach – was die Frommen nicht taten – und sieht dann darin ein Problem – was heute wohl wegfällt.

      Deshalb reagierte Martin Luther, wie berichtet wird, unwirsch auf die Kopernikanische Wende: »Der Narr will mir die ganze Kunst Astronomia umkehren! Aber wie die Heilige Schrift zeigt, hieß Josua (10,12-13) die Sonne stillstehen und nicht die Erde!« Damit spielt er auf Bibelstellen an, die ausdrücklich die Sonne als mobil voraussetzen. So auch der »Prediger« (Kohelet 1,5): »Die Sonne geht auf und geht unter und läuft an ihren Ort, dass sie dort wieder aufgehe.« Aber es besteht kein Zweifel, dass das gesamte Weltbild der jüdisch-christlichen Bibel das Geozentrische voraussetzt. Auserwählung und Erlösung auf Erden scheinen schlechthin zentral-religiös. Und astronomisch? Für das Weltbild?

      HELIOZENTRIK – EINE ZUMUTUNG

      Die Wissenschaftstheoretiker wie Hans Blumenberg (1920–1996) und Paul Karl Feyerabend (1924–1994) sind sich der Dramatik dieses Wandels gerade im »Fall Galilei« bewusst. Aber niemand hat wohl einfühlsamer als Goethe erfasst, was den Menschen zwischen 1450 und 1650 in Europa zugemutet wurde, und am dramatischsten beschrieben:

      »In jedem Jahrhundert, ja in jedem Jahrzehnt werden tüchtige Entdeckungen gemacht, geschehen unerwartete Begebenheiten, treten vorzügliche Menschen auf, welche neue Ansichten verbreiten … Doch unter allen Entdeckungen und Überzeugungen möchte nichts eine größere Wirkung auf den menschlichen Geist hervorgebracht haben als die Lehre des Kopernikus. Kaum war die Welt als rund anerkannt und in sich abgeschlossen, so sollte sie auf das ungeheure Vorrecht Verzicht tun, der Mittelpunkt des Weltalls zu sein. Vielleicht ist noch nie eine größere Forderung an die Menschheit geschehen: denn was ging nicht alles durch diese Anerkennung in Dunst und Rauch auf: ein zweites Paradies, eine Welt der Unschuld, Dichtkunst und Frömmigkeit, das Zeugnis der Sinne, die Überzeugung eines poetisch-religiösen Glaubens; kein Wunder, dass man dies alles nicht wollte fahren lassen, dass man sich auf alle Weise einer solchen Lehre entgegensetzte, die denjenigen, der sie annahm, zu einer bisher unbekannten, ja ungeahnten Denkfreiheit und Großheit der Gesinnungen berechtigte und aufforderte.« (»Geschichte der Farbenlehre, 16. Jh.«, Zwischenbetrachtung.)

      Doch unvereinbar waren jüdisches Auserwählungsselbstbewusstsein und christlicher Erlösungsglaube mit dem heliozentrischen Weltbild nicht. Denn seit Jahrtausenden gab es in der jüdisch-christlichen Tradition nie nur eine allgemeine wortwörtliche Auslegung der Heiligen Schriften – im Unterschied etwa zum offiziell-amtlichen Islam, für den der Koran schlechthin das undiskutierbare »Wort Gottes« ist. Rabbiner lehrten in den Synagogen die fromme Unterscheidung und die orthodoxe Auslegung im Alltag. Die Kirchenväter, wie etwa Origines im 3. Jahrhundert, unterschieden einen dreifachen Sinn, den buchstäblichen, den moralischen und den pneumatischen. (So konnte etwa jemand einen anderen wirklich umbringen, ihn aber auch nur moralisch vernichten oder geistig erledigen.) Diese Unterscheidungsfähigkeit war wohl begründet. Die Kundigen wussten, dass die Heiligen Schriften der Bibel nicht plötzlich vom Himmel gefallen waren, sondern im Lauf von Jahrhunderten und Jahrzehnten (nach Christus) allmählich entstanden und zum Kanon zusammengefasst worden waren. Für Juden und Christen war die Bibel kein Physikbuch, sondern die Gewähr von Auserwählung und Erlösung. Eigentlich.

      Aber im »Fall Galilei« platzt diese Revolution des Weltbildes auf. Zwischen einem Astronomen, der das Richtige sieht und der Kirche sagen will, wie sie die Bibel auszulegen hat. Die römischen Theologen der Inquisition besaßen nicht die Klugheit zu erwägen, was wäre, wenn Galilei richtig gesehen hätte. Stattdessen hielten sie in der Borniertheit der »Fundamentalisten« ihre Sicht für die einzig mögliche, allein seligmachende.

      DISTANZ ZUR RÖMISCHEN THEOLOGIE

      Als ich vor Jahren in

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