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Sie sind ja ganz außer sich!« Er hatte nicht damit gerechnet, seine junge Patientin so bald wieder zu sehen – sie war ja erst einige Stunden zuvor bei ihm gewesen! Er hatte die Klinik eigentlich gerade verlassen wollen, als sie erneut aufgetaucht war.

      Aber Ella konnte kein Wort herausbringen. Wann immer sie es versuchte, kamen die Tränen aufs Neue und sie sank schluchzend in sich zusammen. Leons Sekretärin Moni Hillenberg war natürlich längst gegangen, also kochte er selbst einen Kräutertee für seine aufgelöste Patientin.

      Dieser wirkte offenbar, denn Ella beruhigte sich, während sie ihn trank und konnte Leon schließlich berichten, wie das Gespräch mit ihrem Mann verlaufen war. »Er hat gesagt, wenn ich das Thema nicht fallen lasse, müssen wir uns trennen, Herr Dr. Laurin«, beendete sie ihren traurigen Bericht. »Und sowieso würde er sich scheiden lassen, wenn ich versuche, ihn auszutricksen.«

      »Hat er das so gesagt?«

      »Nicht wörtlich, aber das war der Sinn.«

      »Dann sehe ich nicht, wie Sie Ihre Ehe retten und gleichzeitig ein Kind bekommen können«, sagte Leon. »Ich habe das bisher, glaube ich, noch nie gesagt, aber jetzt bleibt mir nichts anderes übrig: Ich weiß nicht weiter. Ich kann Ihnen keinen Rat geben, denn Sie werden so oder so unglücklich werden: entweder ohne ihren Mann oder ohne eigene Kinder.«

      »Das habe ich jetzt auch begriffen.« Ella sprach sehr leise.

      »Ich kann Ihnen nicht helfen, weil Ihr Problem ja kein medizinisches ist.«

      »Und mein Mann hat überhaupt kein Problem«, sagte Ella. »Jedenfalls behauptet er das.«

      »Aber Sie glauben ihm nicht?«

      Sie zögerte. »Nein«, sagte sie endlich. »Ich glaube ihm das nicht, weil er nämlich manchmal im Traum weint und schreit. Ich wecke ihn immer auf, weil mir das Angst macht. Er zittert dann, und er schwitzt auch. Aber wenn ich versuche, mit ihm darüber zu reden, verschließt er sich. Er sagt, jeder träumt mal schlecht, darüber muss man nicht lange reden.«

      »Wie oft kommt das vor?«

      »Manchmal wochenlang überhaupt nicht, und dann in zwei Wochen drei Mal. Das ist unterschiedlich.«

      »Also relativ häufig?«

      »Ja.«

      »Und Sie denken, es gibt einen Zusammenhang zwischen diesen Träumen und seinem Entschluss, keine Kinder zu zeugen?«

      »Mir ist dieser Gedanke erst vor kurzem gekommen«, gestand Ella. »Sie wissen, ich liebe meinen Mann, also denke ich viel über ihn und unser Problem nach. Ich würde es gerne lösen, und ich würde ihm gerne helfen. Auch wenn er meint, dass er keine Hilfe braucht: Ich sehe das anders. Wenn wir zusammen sind, ist er glücklich. Vielleicht will er es auch nur unbedingt sein, aber tief in seinem Inneren sitzt irgendein Unglück, das er vergraben hat und das ihm immer noch Schmerzen bereitet.«

      Leon sah Ella Ammerdinger überrascht an. Bis jetzt war sie für ihn vor allem eine unglückliche junge Frau gewesen, der er gern geholfen hätte, ohne einen Weg zu sehen, wie er das hätte anstellen sollen. Jetzt zeigte sie ihm zum ersten Mal, dass sie versucht hatte, den Ursachen für ihr Unglück selbst auf den Grund zu gehen, und ihm schien, dass sie dabei durchaus schon weit gekommen war.

      »Wenn er nicht darüber reden will, wird es schwer sein, ihn dazu zu bringen«, sagte er nachdenklich.

      »Ja, ich weiß.« Ganz ruhig sagte Ella das, ihre Augen waren jetzt trocken. Sie sah aus, als hätte sie ganz plötzlich eine Erleuchtung gehabt, was jetzt zu tun war.

      Die plötzliche Ruhe der jungen Frau war Leon unheimlich, und ihm schoss die Frage durch den Kopf, ob sie imstande wäre, sich etwas anzutun, wenn sie keinen Ausweg mehr sah.

      Noch bevor er eine Antwort auf diese Frage gefunden hatte, stand sie auf. »Entschuldigen Sie bitte, dass ich Sie so überfallen habe, Herr Dr. Laurin. Es hat mir gut getan, mit Ihnen zu reden, ich fühle mich besser.«

      »Und was wollen Sie jetzt tun?«

      Sie sah ihn direkt an. »Das weiß ich noch nicht, aber auf keinen Fall mache ich einfach so weiter wie bisher.«

      Über diesen Satz dachte er auf dem Heimweg nach. Was bedeutete er? Welche Möglichkeiten gab es denn überhaupt für sie? Sie liebte ihren Mann, sie würde ihn sicherlich nicht verlassen. Schon der Gedanke an eine mögliche Trennung hatte sie ja heute beinahe den Verstand verlieren lassen.

      Er war in Gedanken immer noch bei Ella Ammerdinger, als er zu Hause eintraf. Der Duft aus der Küche ließ ihm das Wasser im Mund zusammenlaufen.

      »Wir können essen!«, rief Antonia bei seinem Anblick. »Endlich, Leon, wir sind schon halb verhungert!«

      Er war froh, dass er daran gedacht hatte, sie anzurufen, um ihr zu sagen, dass er sich verspäten würde. »Das duftet herrlich. Brathähnchen?«

      Antonia nickte. »Eine Gemeinschaftsarbeit von Kyra und mir. Sie hat die Hauptarbeit gehabt mit dem Gemüse-Schnipseln.«

      »Bravo, Kyra!«

      Seine Jüngste errötete vor Freude über das Lob.

      Die beiden Jungen erschienen, mit offenkundig hungrigem Blick. »Gibt es endlich was zu essen?«

      »Jawohl, bitte Platz zu nehmen!«, rief Antonia. »Leon, deine chirurgischen Fähigkeiten sind gefragt.«

      Er wollte nach Kaja fragen, die sich als einzige bislang nicht hatte blicken lassen, aber gerade noch rechtzeitig fing er Antonias Blick auf. So nahm er nur die Geflügelschere und ein scharfes Messer und begann damit, die Hähnchen fachgerecht zu zerlegen.

      Kaja fehlte auch am Tisch, ihr Platz blieb leer. Nun fragte er aber doch: »Was ist mit Kaja los?«

      »Ich habe sie gerufen, sie hat offenbar keinen Hunger«, erklärte Antonia kühl. »Noch etwas Püree?«

      Er nickte und beschloss, keine weiteren Fragen zu stellen. Die drei seiner Kinder, die anwesend waren, hatten viel zu erzählen, und so genoss er das Essen und ihre muntere Unterhaltung. »Sehr lecker, die Brathähnchen«, sagte er zwischendurch.

      »Kann ich noch einen Flügel haben?«, fragte Kevin. »Ihr mögt die Flügel doch sowieso nicht.«

      »Nimm zwei«, sagte Antonia. »Ist ja sowieso nicht viel dran.«

      Strahlend griff Kevin zu.

      Nach den Hähnchen gab es noch Obstsalat, von dem kein Fitzelchen übrig blieb, dann räumten die Kinder den Tisch ab und die Spülmaschine ein, bevor sie sich in ihre Zimmer zurückzogen.

      »Was war denn schon wieder los?«, fragte Leon. »Wieso hat Kaja nicht mit uns gegessen?«

      »Sie und Kyra haben schon wieder gestritten. Ich habe Kyra ein paar gute Ratschläge gegeben, ihre große Schwester betreffend. Mal sehen, ob sie es schafft, sie zu beherzigen.«

      »Und Kaja? Hast du ihr keine Ratschläge gegeben?«

      »Dazu hatte ich keine Gelegenheit mehr, denn sie hat sich in ihrem Zimmer eingeschlossen. Sie vergreift sich in letzter Zeit mir gegenüber öfter im Ton, ich musste heute deshalb etwas deutlicher werden. Ich nehme an, das hat dazu geführt, dass ihr der Appetit vergangen ist.«

      »Und wie soll das weitergehen?«

      »Das liegt ganz bei ihr«, erklärte Antonia. »Für mich sehe ich keinen Handlungs- oder Klärungsbedarf. Meinen Standpunkt habe ich sehr deutlich gemacht.«

      »Du kannst ja richtig hart sein.«

      Sie ließ sich in seine Arme fallen. »Wenn es sein muss, aber nur dann. Und es fällt mir schwer, das muss ich schon sagen.«

      »Sie hat sich dir gegenüber im Ton vergriffen? Was hat sie denn gesagt?«

      Antonia wiederholte Kajas Worte.

      »Das ist allerdings unverschämt«, sagte Leon nachdenklich. »So kenne ich sie nicht. Sie zickt herum in letzter Zeit, aber unverschämt habe ich sie noch nicht erlebt.«

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