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noch jung, sah sie jetzt. Seine Stimme war sanft, und offenbar hatte er den richtigen Ton angeschlagen, der Junge jedenfalls reagierte positiv darauf.

      »Peter Stadler«, sagte er.

      »Und ich bin Florian Ammerdinger. Weißt du, was passiert ist? Kannst du dich daran erinnern?«

      »Sie haben mich wieder geschlagen«, antwortete der Junge leise.

      »Wieder? Haben sie das schon öfter gemacht?«

      Ein stummes Nicken beantwortete diese Frage.

      »Hast du denn mit niemandem darüber gesprochen?«

      »Nein. Ich … ich dachte, ich schaffe das irgendwie allein.«

      Florian Ammerdinger sah auf, er begegnete Antonias Blick. Sie konnte sehen, dass er nicht weniger erschüttert war als sie selbst.

      »Ich sehe nichts«, sagte der Junge. »Wo ist meine Brille?«

      Antonia bemerkte erst jetzt die zerbrochene Brille, die neben ihm lag. »Sie ist kaputt gegangen«, sagte sie, »du kannst sie nicht mehr aufsetzen. Aber wir packen sie ein und nehmen sie mit.«

      »Wohin? Ich will nach Hause.«

      »Du hast eine Wunde über einem Auge, die genäht werden muss. Keine große Sache. Gleich kommt ein Krankenwagen, der bringt dich in die Kayser-Klinik, die ist ganz in der Nähe. Ich werde auch bald dort sein, in Ordnung? Mein Name ist Antonia Laurin, ich bin Ärztin.«

      Sie meinte, Florian Ammerdinger zusammenzucken zu sehen. Sagte ihm ihr Name etwas? »Fahren Sie mit in die Klinik?«, fragte sie. »Es wäre vielleicht gut, wenn wir zusammen mit Peters Eltern sprechen könnten.«

      »Mit meiner Mutter«, sagte der Junge. »Können Sie sie anrufen? Britta Stadler. Ich kann Ihnen ihre Handynummer diktieren. Aber machen Sie ihr bitte keine Angst. Ich … es geht mir ja schon wieder gut.«

      »Britta Stadler?«, fragte Antonia. »Die Architektin?«

      »Kennen Sie sie?«

      »Ja, ich kenne sie. Du musst mir ihre Nummer nicht diktieren, Peter, ich habe sie gespeichert.«

      Der Krankenwagen kam. Sie informierte die Sanitäter und bat sie, den Jungen in die Kayser-Klinik zu bringen, die ohnehin das nächst gelegene Krankenhaus war. »Ich komme gleich nach«, sagte sie. »Und ich sage dort in der Notaufnahme Bescheid, damit die Kollegen vorbereitet sind.«

      Die Sanitäter nickten und kümmerten sich um Peter Stadler, während Antonia mit Eckart Sternberg sprach. »Er hat vielleicht einen Schock erlitten, diese Jungs waren zu viert und haben ihm offenbar schon öfter zugesetzt.«

      »Wir kümmern uns um ihn, bis du hier bist«, versprach Eckart.

      Als der Krankenwagen abgefahren war, wandte sich Antonia wieder Florian Ammerdinger zu. Ihr war so, als hätte sie den Namen ›Ammerdinger‹ schon einmal gehört, doch ihr fiel nicht ein, in welchem Zusammenhang das gewesen sein könnte. »Kommen Sie mit mir in die Klinik?«, fragte sie.

      »Nein«, erwiderte er steif, »die Kayser-Klinik möchte ich nicht betreten. Meine Frau ist eine Patientin Ihres Mannes, und jedes Mal, wenn sie bei ihm war, bekommen wir Streit.«

      »Aber wieso denn?«, fragte Antonia verblüfft.

      Sie wurde aus ihm nicht klug. Er war überaus einfühlsam mit Peter Stadler umgegangen, jetzt jedoch wirkte er plötzlich kühl und abweisend, sie erkannte den hilfsbereiten Mann von vor wenigen Minuten kaum wieder.

      »Mehr möchte ich nicht sagen«, erwiderte er. »Aber glauben Sie mir, es ist besser, wenn Ihr Mann und ich uns nicht begegnen. Er hetzt meine Frau gegen mich auf.«

      »Herr Ammerdinger, ich kenne meinen Mann, so etwas würde er niemals tun.«

      »Ich weiß es besser«, sagte er sehr bestimmt, »und jetzt entschuldigen Sie mich bitte. Ich bin immerhin froh, dass wir dem Jungen helfen konnten. Die Polizei hat ja meine Nummer, wenn es noch Fragen gibt, wissen sie, wie sie mich erreichen können.« Er nickte ihr noch einmal zu und war im nächsten Augenblick in der Menge verschwunden.

      Sie stand noch einen Moment verwirrt da, dann fiel ihr ein, dass sie Britta Stadler anrufen musste.

      Diese fiel natürlich aus allen Wolken. »Ich … ich bin noch im Büro, aber ich komme sofort. Meine Güte, Frau Dr. Laurin, Sie sagen, er ist wahrscheinlich schon öfter von diesen Jungen geschlagen worden?«

      »Das hat er jedenfalls gesagt. Übrigens wollte er auf keinen Fall, dass ich Sie beunruhige, das hat er extra betont. Und ich denke, um seinen körperlichen Zustand müssen Sie sich auch tatsächlich keine Sorgen machen. Es wird ihm bald wieder gut gehen.«

      »Aber wenn das schon öfter passiert ist …« Britta Stadler beendete ihren Satz nicht.

      »Wir sehen uns gleich in der Klinik, Frau Stadler.«

      Nachdenklich machte sich Antonia auf den Weg. Es gab einiges, das sie klären musste.

      *

      »Das haben wir gleich«, sagte Eckart Sternberg, der sich selbst um den verletzten Jungen kümmerte, den Antonia ihm kurz zuvor angekündigt hatte. Er nähte die Wunde, nachdem er sie betäubt hatte, mit ein paar kleinen Stichen, so dass die Narbe später kaum zu sehen sein würde.

      Er hatte beim Anblick des Jungen einen Schrecken bekommen, denn die Wunde hatte stark geblutet. Dennoch kam ihm Peter Stadler erstaunlich gelassen vor. Dabei hatte Antonia doch erwähnt, dass er von vier Jungen geschlagen und getreten worden war und das offensichtlich nicht zum ersten Mal. Aber weder weinte er, noch beklagte er sich. Er war zwar still und in sich gekehrt, aber er hatte Kinder schon ganz anders reagieren sehen in vergleichbaren Situationen.

      Schwester Marie hatte geholfen, die Wunde zu säubern, und sie hatte dem Jungen sehr sanft das Gesicht abgewaschen und ihm außerdem etwas zu trinken gegeben und ihm ein Stück Schokolade zugesteckt. Wieder einmal stellte Eckart fest, dass allein Maries Anwesenheit sich positiv auf die Patienten auswirkte. Sie hatte in ihrem Leben schon viel gesehen und erlebt, so dass sie auch in kritischen Situationen ruhig blieb. Diese Ruhe übertrug sich offenbar auf andere. Außerdem verstand sie es, jedem Menschen, um den sie sich kümmerte, das Gefühl zu geben, dass auf jeden Fall alles wieder in Ordnung kommen würde.

      »So, das war’s schon«, sagte Eckart, als er die Wunde genäht hatte. »Ist dir noch schwindelig?«

      »Ein bisschen«, gab der Junge zu.

      »Ich schätze, du hast eine leichte Gehirnerschütterung, du solltest ein paar Tage im Bett bleiben. Treibst du Sport?«

      Ein verlegenes Lächeln antwortete ihm. »Nicht so gern, weil ich so schlecht sehe, ich bin stark kurzsichtig und trage eine dicke Brille. Aber wenn ich älter bin, kann ich operiert werden, dann brauche ich die Brille nicht mehr.«

      Antonia erschien an der Tür. »Oh, du siehst ja schon ganz anders aus«, sagte sie zu dem Jungen. »Sei froh, dass Dr. Sternberg dich genäht hat, er macht die schönsten Nähte, hinterher sieht man fast nichts mehr.«

      »Magst du einen Becher Schokolade mit Sahne?«, fragte Marie.

      Peter nickte. »Hier sind alle so nett zu mir«, sagte er, als die Schwester gegangen war.

      »Du bist unser Patient, wir wollen, dass es dir ganz schnell wieder besser geht.«

      Als Britta Stadler kam, merkte man ihr nichts davon an, wie aufgewühlt sie war. Antonia konnte sie für ihre Selbstbeherrschung nur bewundern. Sie begrüßte ihren Sohn ohne erkennbare Aufregung, nahm die genähte Wunde und sein langsam anschwellendes Gesicht zur Kenntnis, ohne ein Wort darüber zu verlieren, und bedankte sich dann bei Antonia, weil sie Peter zu Hilfe gekommen war.

      »Das war ich nicht allein«, erklärte Antonia, »ein Herr Ammerdinger hat einen von den Jungen festhalten und der Polizei übergeben können. Ich nehme an, er wird die Namen seiner Freunde verraten, wenn er merkt, dass er sich sonst in noch größere Schwierigkeiten bringt.«

      »Die haben dich schon

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