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9 in der Gesamtwertung beim MdS belegt und die AK gewonnen. Sein Ansehen innerhalb der Szene begründet sich natürlich in seiner Leistung, aber andere haben auch große Rennen gewonnen. Seine Zurückhaltung, sein freundliches Auftreten, das wirkt fast scheu, aber genau diese Haltung macht ihn vielen Menschen sympathisch. Wenn es dir gelingt, einen seiner »Augenblicke« einzufangen, dann ist dieser glasklar, ganz fest und direkt aus seinen sehr blauen Augen. Stolz und Bescheidenheit – zwei Eigenschaften, die nicht immer und von allen als Talent gesehen werden. Zwei Eigenschaften, die sich aber noch seltener in einem Menschen einfinden, um sich zu einer besonderen Charaktereigenschaft zu entwickeln. Es ist ganz schwer zu erklären, was Marcos Faszination ausmacht. Tatsache ist, dass die Läufer keine Erklärungen benötigen, um zu erkennen, dass hier ein ganz Besonderer vor ihnen steht. Ich würde gern mit ihm reden an diesem Nachmittag in Zagora. Ich bin fasziniert und neugierig, aber schüchtern genug, um diesen zurückhaltenden Mann nicht zu stören. Ich beobachte ihn seit dieser Zeit. Ich lese über ihn und von ihm. Im Jahr 2010 kommt eine DVD heraus mit dem Titel Il Corridore. Das gleichnamige Buch erscheint 2012. Da ich zu dieser Zeit nur zehn Worte Italienisch kann, denke ich viele Jahre der Film heißt Der Korridor. Im Sinne von »Weg«, »Flur«, »Tunnel« – hat man ja schon mal als Läufer. Gefühlt bin ich jedenfalls der erste in Deutschland, der den Film Der Läufer sieht. Bis heute mein Lieblingswerk über das Laufen. Vollkommen unspektakulär im Gegensatz zu heutigen High-End-Produktionen.

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      Marco Olmo: The Legend.

       DER GRÖSSTE TRIUMPH. ODER: WIE MARCO OLMO DIE ZEIT STILLSTEHEN LIESS

      Zahlreiche Szenen, ohne viele Worte. Trocken. Schlechtes Wetter. Gutes Wetter. Atmosphärisch. Über das Leben. Die Höhen und die Tiefen. Valley deep – Mountain high. Bergläufer halt. Ich finde ja seit jeher, dass das Unspektakuläre dem Laufen sehr gut steht – auch den Läufern. Man kann ihnen viele verrückte Dinge nachsagen, aber es sind anständige Leute.

      Im gleichen Jahr startet Marco Olmo beim Ultra-Trail du Montblanc (UTMB) über die Strecke von 165 km mit 9.000 positiven Höhenmetern. Ein Lauf der Superlative: eine vollständige, durch drei Länder (Frankreich, Italien und die Schweiz) führende Runde um das Montblanc-Massiv – sieben Täler, 71 Gletscher, 400 Gipfel. Und Marco Olmo wird kurz vor seinem 59. Geburtstag Weltmeister beim Ultra-Trail du Montblanc.

      Damals sieht der Gewinn dieses Titels für mich so aus, als könnte Marco die Zeit stillstehen lassen. Als gäbe es eine reelle Chance, die Lebenszeit, den Prozess des Älterwerdens, in die Irre zu führen. Er wird Weltmeister – nicht nur in seiner Altersklasse, sondern im Gesamtklassement. Der Zweitplatzierte ist eine knappe Stunde langsamer und fast zwanzig Jahre jünger. Leute! Wir sprechen nicht von Dart oder Dressurreiten. Weltmeister im Laufen, mit knapp 59 Jahren auf einer der schwersten Strecken überhaupt. Mein Respekt – unser Respekt – dafür ist zeit- und grenzenlos.

      Bevor wir unser Treffen in Mailand angehen wollten, war ein Besuch zuhause bei ihm und seiner Frau Renata in den Alpen geplant. Allerdings hatte mich eine ausdauernde Lungenentzündung und in der Nacht vorm Abflug zusätzlich ein Norovirus so aus den Latschen gehauen, dass nix mehr ging. War ich vorher durch die Lungenentzündung etwas matschig, hatte der Virus meinen Aggregatzustand endgültig Richtung Ursuppe verschoben. Mein Hirn funktionierte nur noch nach ausdrücklicher Aufforderung. Das sind die Tage, an denen ich mich diebisch freue, wenn ich ein Zimmer betrete und noch weiß, was ich eigentlich da will. Ich versuchte alles und war morgens noch ganz früh beim Doc, aber auf dem Weg dorthin hatte ich schon gemerkt, dass selbst Autofahren grenzwertig ist. In Italien hätte ich vom Flughafen Turin noch 200 km mit dem Wagen in die Berge fahren müssen. Das war einfach kein guter Plan. In meinen Überlegungen, wie man mit Norovirus am besten fliegt – außer am besten natürlich gar nicht –, hatte ich grundsätzlich den obligatorischen Spuckbeutel oder auch die Kotztüte im Flieger einkalkuliert. Mein Arzt Doktor Maylahn klärt mich aber über zwei Dinge auf: »Tut man nicht in Ihrem Zustand, und wenn es ein unruhiger Flug wird, müssen sie aus Sicherheitsgründen angeschnallt auf ihrem Sitz bleiben. Das setzen die Flugbegleiter gegebenenfalls physisch durch.« Okay! Beim Norovirus liegen die Wörter Überfall und Durchfall eng beieinander und erfordern schnelles Handeln. Soweit hatte ich noch nicht gedacht, und wir wollen hier nicht weiter »ausmalen«, was da in dem Sitz hätte passieren können.

      Somit komme ich eine Woche später zu unserem Treffen nach Mailand. Paolo Zubani – der italienische Repräsentant des Marathon des Sables – ist seit 20 Jahren ein sehr guter Freund von Marco und dolmetscht, da meine mittlerweile 20 Worte Italienisch nicht reichen werden. Paolo ist selbst ein alter Hase und startet dieses Jahr zum 29. Mal beim MdS. Er weiß fast alles über Marco. Das ist gut, beim Gespräch wird das noch hilfreich sein, da Marco ein ehrenwerter, großer Mann der Berge, des Laufens ist, aber auch ein Gentleman, der manchmal gar nicht so gern und wenig über sich spricht. Das ist ein feiner Charakterzug. Macht ein Interview oder ein Gespräch im ersten Moment jedoch nicht einfacher.

      Paolo verspätet sich. Das macht nichts. Als ich ankomme und Marco treffe, ist es wie immer. Er steht da vor dem riesigen Hauptbahnhof und wir begrüßen uns. Nur dass wir uns noch nie getroffen haben, wenn man mein Beobachten aus der Ferne in Zagora mal außen vor lässt. Aber es ist alles ganz vertraut. Das passiert gern unter Läufern. Hatte ich mit Jan Fitschen genauso. Man kennt sich nicht und man kommt sich vor, als hätte man sich nur ein paar Wochen nicht gesehen. Etwas aufgeregt bin ich allerdings schon, was man daran merkt, dass ich sofort losplappere. »Ciao – come stai? Bel tempo – a freddo!« Blieben meinerseits noch 13 Wörter über, die ich dann auch schnell verbraucht hatte. Mein Wortschatz war aufgebraucht und ich befreit. Wir verstanden uns von nun an prächtig. Ist mir ja immer sehr unangenehm, wenn ich eine Sprache nicht kann. Dann lieber vollkommen wild mit Händen und Füßen, mit Draufzeigen oder internationalen Wörtern und Gesten. Kauen für Hunger, Mittelfinger für die Politik etc., und wenn gar nix mehr geht, stelle ich fest, dass einige Worte aus meinem Lateinwortschatz helfen. Ich kann mir ja nix merken – aber manchmal den totalen Schwachsinn wie z.B. Lateinvokabeln von vor 40 Jahren. Beim Gespräch über Lieblingstiere wird mir zwei Stunden später das englische Wort für Esel fehlen. Das Lateinische habe ich aber gerade parat: Asinus. Wurde sofort verstanden, und wir kommen überein, dass Esel ganz wunderbare Tiere sind. Das ist halt so – treffen sich zwei alte Männer, die das Laufen lieben. Ohne Worte – die Kommunikation geht einfach weiter. Wir gehen auch weiter. Wir suchen uns ein kleines Restaurant und unterhalten uns auf dem Weg dorthin. Ein wenig – nicht viel. Wozu auch?

      Paolo stößt dazu, und wenn es nicht im Winter mitten in Mailand gewesen wäre … ich glaube, wir hätten gemeinsam einen ganzen langen Nachmittag im Spätsommer auf einem Marktplatz in den Alpen sitzen können. Wir hätten Espresso, Wasser, leichten trockenen Weißwein und vielleicht einen Pastis zu uns genommen. Wir hätten die vor uns liegende Piazza beobachtet. Wir hätten vorbeifahrende Autos und Motorräder gesehen, spielenden Kindern zu- und Frauen hinterhergeschaut, und für die Kommunikation hätten meine zwanzig Worte italienisch gereicht – wahrscheinlich für uns alle Drei.

      Ich liebe diese Momente, wenn man – oder Männer – zusammensitzt und es braucht keine Gespräche. Alle fühlen sich trotzdem sehr wohl. Aber für ein Interview ist das eine denkbar ungünstige Ausgangssituation.

      Ich habe Fragen über Fragen, und es ist mir fast peinlich, sie zu stellen, aber ich will unbedingt die Geschichte des Marco Olmo erzählen. Hier in diesem Buch. In dem Moment, wo wir beschließen offiziell anzufangen, fällt mir schlagartig der Titel für ein weiteres Buch ein: »Ich wär’ viel lieber schüchtern geblieben!«

       HERE WE GO …

       Was war eigentlich dein allererstes Rennen, Marco?

      Ich habe nie großartig gezielt Sport gemacht, war aber als Kind der Berge immer viel draußen unterwegs. Mit 26 Jahren hatten wir eine Sache laufen, wegen einem vier Kilometern langen Rennen bei uns im Dorf. Es ging mit 400 Höhenmetern viel rauf und runter auf der kurzen Strecke. Ich habe dafür das erste Mal trainiert, um dort gegen die anderen Jungs zu gewinnen. Es brachte enorm

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