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der Bedeutung der Entdeckung hatten sich die übrigen Partner der Raumstation dem Wunsch der Europäer nach einer Verlängerung des Betriebs um weitere vier Jahre nicht verschließen können. Auch die Amerikaner hatten zugestimmt, obwohl sie mit der „Bonusrunde“ im All zunächst nicht viel anzufangen wussten. Die einstige Führungsmacht war innerlich zerrissen, hatte mit ihrem weltpolitischen Bedeutungsverlust zu kämpfen und suchte nach neuen Orientierungen. Große, langfristig angelegte Projekte hatten es da besonders schwer.

      Auch die Raumfahrt litt seit Jahren unter unsicheren Budgetplanungen, die immer wieder revidiert wurden und schließlich zu technischen Rückschlägen führten. Vor allem die Explosion der neu entwickelten Trägerrakete hatte die Pläne für bemannte Missionen auf unbestimmte Zeit zurückgeworfen.

      In diesem Klima der Verunsicherung war die Idee, das Forschungsprogramm auf der Internationalen Raumstation zum Thema einer groß angelegten Volksabstimmung zu machen, auf fruchtbaren Boden gefallen. Die Diskussionen darüber, wie die vier zusätzlichen Jahre in dem orbitalen Forschungskomplex genutzt werden sollten, hatten gleich nach der eher widerwillig getroffenen Entscheidung der NASA für eine weitere Verlängerung eingesetzt.

      Rasch hatte sich eine breite öffentliche Debatte entwickelt, bei der weniger technische Detailfragen im Mittelpunkt gestanden hatten, sondern der Weltraum zur Projektionsfläche für gesellschaftliche Fragen und grundsätzliche Überlegungen zur zivilisatorischen Entwicklung geworden war.

      Was wollen wir im All? Wozu der Aufwand, wenn wir dort doch wieder nur weitermachen wie hier unten auf der Erde? Ist das Ganze nicht ein aussichtsloser Versuch, vor uns selbst davonzulaufen? Solche Fragen wurden seit einigen Jahren leidenschaftlich diskutiert, aber auch mit großem Ernst, wie Nick bei vielen Vortragsveranstaltungen immer wieder erlebt hatte.

      Die Archivprojekte hatten sich in der Debatte sehr gut behaupten können. Sie verknüpften auf überzeugende Weise Vergangenheit und Zukunft der Menschheit und schafften dadurch einen Rahmen, in dem große geschichtliche und philosophische Fragen ebenso erörtert werden konnten wie konkrete Probleme bei der technischen Umsetzung der Idee.

      Eher geisteswissenschaftlich orientierte Menschen, die bevorzugt in Geschichten dachten, konnten sich daher ebenso einbringen wie Ingenieure, Naturwissenschaftler oder Ökonomen, die sich eher an Zahlen und Tabellen orientierten. Die Idee eines Menschheitsarchivs hatte Personengruppen zusammengebracht, die sonst kaum miteinander geredet hatten und so eine integrative Kraft entwickelt, die in dieser Zeit der kulturellen Zersplitterung von vielen als sehr wohltuend erlebt worden war.

      Allen Beteiligten war klar gewesen, dass eine gewaltige Aufgabe vor ihnen lag, die nur in einer gemeinsamen Anstrengung bewältigt werden konnte. Wie sollten sich die geschichtlichen Erfahrungen zu Krieg und Frieden, Freiheit und Herrschaft, Ideal und Wirklichkeit, die doch so vielfältig und kontrovers gesehen werden konnten, in einem Archiv zusammenfassen lassen?

      Und selbst wenn das gelänge, wie sollten diese Erkenntnisse dauerhaft und zuverlässig über viele tausend oder gar Millionen Jahre gespeichert werden? Wie sollte ein der irdischen Sprachen Unkundiger diese Informationen nutzen können?

      Jetzt zahlte sich aus, dass die Befürworter eines Menschheitsarchivs in früheren Jahren gut gearbeitet hatten und exzellent vorbereitet waren, um zügig einen überzeugenden Vorschlag vorzulegen, wie die vier zusätzlichen Jahre auf der Raumstation zumindest die technische Realisierung der Idee voranbringen konnten.

      So hatte Nicks Kollege Steve Bonham bereits vor über zwei Jahren Materialproben auf der externen Forschungsplattform des japanischen Moduls Kibõ installieren können. Nicks Aufgabe war es jetzt, die Experimentalphase zu beenden und die Proben zur Erde zu bringen. Dort wollten sich Forscher dann genau ansehen, wie sich die verschiedenen Datenspeicher unter Weltraumbedingungen, insbesondere bei erhöhter Strahlungsbelastung, verändert hatten.

      Seine Vorträge über diese Mission begann Nick häufig mit einer Frage ans Publikum, wobei er sich bemühte, sie möglichst mehrdeutig klingen zu lassen: „Eine Botschaft, die vielleicht erst in Millionen Jahren entdeckt wird. Woraus soll die eigentlich bestehen?“

      An den Reaktionen seiner Zuhörer konnte er oft erkennen, ob sie sich mehr für den Inhalt der Mitteilung interessierten oder auch für das Material, mit dem sie gespeichert würde. Manchmal hatte schon hier jemand die provokative Frage gestellt, ob die Menschheit es denn überhaupt wert sei, dass das Universum sich an sie erinnere.

      „Was wir bisher vollbracht haben, erfüllt mich nicht gerade mit Stolz“, hatte einer einmal gesagt. „Sollten wir darüber nicht lieber den Mantel des Schweigens ausbreiten?“

      Nick konnte sich noch gut daran erinnern. Der Hörsaal an der University of Illinois in Urbana-Champaign, der amerikanischen Universitätsstadt, war brechend voll gewesen, einige hatten auf den Treppenstufen gesessen, andere stehen müssen. Trotz der Fülle hatte eine konzentrierte Stille geherrscht.

      „Stolz ist bei mir auch nicht gerade die vorrangige Empfindung, wenn ich die bisherige Menschheitsgeschichte betrachte“, hatte Nick eingeräumt, um gleich darauf hinzuzufügen: „Aber ist es dann nicht umso wichtiger, etwas zu hinterlassen? Wenn wir solchen Mist gebaut haben, sollten wir andere vielleicht besser davor warnen, die gleichen Fehler zu begehen.“

      Er hatte seine Zuhörer aufgefordert, sich ein irdisches Raumschiff vorzustellen, das in einem anderen Sternensystem die Botschaft einer untergegangenen Zivilisation findet.

      „Würden wir das nicht als großen Schatz betrachten und den Schöpfern dieser Botschaft dankbar sein? Betrachten Sie das Menschheitsarchiv als Geschenk an mögliche zukünftige Besucher. Ob es ein schönes Geschenk ist, darüber lässt sich streiten und das wollen wir heute Abend ausgiebig tun. Aber ich glaube, niemand zweifelt daran, dass es sehr wertvoll ist.“

      Er hatte ins Publikum geschaut. „Ein wertvolles Geschenk sollten wir gut verpacken. Meine Forschungen auf der Raumstation sollen helfen, die beste Verpackung zu finden.“

      Eine kleinere Etappe auf diesem Weg war jetzt gerade bewältigt worden. Der Roboterarm hatte seine Arbeit getan und die Materialproben in den Transportbehälter bewegt, sodass sie durch die Luftschleuse von Kibõ wieder hereingeholt und für den Rücktransport weiter vorbereitet werden konnten. Das waren zum einen drei kleine Speicher aus Wolfram, geschützt durch unterschiedlich gefertigte Schichten aus Siliziumnitrit, die auf einem Gestell montiert waren. Sie sollten theoretisch eine Million Jahre halten, das ließen Laborexperimente vermuten, bei denen die Veränderungen in der atomaren Struktur bei verschiedenen Temperaturen beobachtet worden waren.

      Etwas größer und schwerer waren zwei Speicher aus Quarzglas, in die mit einem Laser Texte eingraviert worden waren. Wenn seine Zuhörer sich für technische Details interessierten, konnte Nick an dieser Stelle auf die wunderbaren Eigenschaften dieses Materials eingehen.

      Quarz bestand aus reinem Siliziumdioxid, war gleichermaßen unempfindlich gegenüber Temperaturschwankungen wie auch vielen Chemikalien und vereinte ein hohes Elastizitätsmodul mit hohem Härtegrad. Die hoch entwickelten Verfahren zur Mikrobearbeitung dieses Materials konnte er mit eindrucksvollen Bildern illustrieren.

      Die größte Verblüffung erzielte er aber bei seinen Vorträgen regelmäßig, wenn er danach auf die DNA zu sprechen kam. Wenn es um Stabilität über Millionen Jahre ging, war die Verwendung biologischer Substanzen, bei deren Zersetzung man ja fast zusehen konnte, nicht gerade ein naheliegender Gedanke. Die Überraschung seiner Zuhörer ging aber meistens rasch in einen Aha-Effekt über. Natürlich, das Trägermolekül der biologischen Erbinformation hatte sich schließlich seit mittlerweile fast vier Milliarden Jahren bewährt, indem es die Evolution des Lebens ermöglicht hatte.

      „Auf der Erde“, ergänzte Nick an dieser Stelle gerne. „Anderswo womöglich noch länger. Das Planetensystem von Kepler-444 zum Beispiel ist über zehn Milliarden Jahre alt. Allerdings auch 116 Lichtjahre von uns entfernt. Ob es dort Leben gibt, ob es auf DNA basiert, können wir über diese Distanz noch nicht feststellen. Aber ich halte es für wahrscheinlich. Wenn es um lange Zeiträume geht, ist die Desoxyribonukleinsäure als Speichermedium jedenfalls unübertroffen. Niemand, der über Langzeitarchive nachdenkt, kann das ignorieren.“

      Viele

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