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Blick prüfte sie immer schon zwei Schritte im voraus, welche Felsbrocken ihr ausreichend Halt geben konnten, vermied solche mit scharfen Kanten oder Spitzen. Als ein Stein einmal überraschend doch etwas wackelte und sie abzustürzen drohte, rettete sie sich mit einem raschen Ausfallschritt. Es war wichtig, das Tempo und den Takt der Sprünge beizubehalten. Wenn sie stehenblieb, das wusste sie, würde es schwieriger werden. Es war der Rhythmus ihrer Bewegungen, der ihr Stabilität und Sicherheit gab.

      Jaiyas außergewöhnliche Begabung hatte sich schon früh gezeigt, als sie noch ein kleines Mädchen war. Wann immer getanzt wurde, bei Dorffesten, heiligen Zeremonien oder aus einer spontanen Laune heraus, war sie dabei gewesen und hatte sich zu den Klängen der Trommeln bewegt, als wären es Meereswellen, die sie trugen und hin und her warfen. Sie schien in der Musik zu schwimmen, tauchte manchmal in sie ein, um im nächsten Moment mit einem kraftvollen Sprung wie ein Delfin wieder aus ihr aufzutauchen.

      Bald war sie selbst zu einer der beliebtesten Trommlerinnen geworden, nicht nur in ihrem Dorf, sondern auch bei den Nachbarn. Mit ihren Händen und ihrer Stimme eröffnete sie den Tänzern Zugang zur Geisterwelt und konnte sie wie auch sich selbst mit immer schnelleren Wirbeln zur Ekstase treiben wie keine andere.

      Eine noch viel mächtigere Magie jedoch, das hatte Jaiya schon bald gespürt, lag in der Langsamkeit. Der Atem des Meeres und der Winde, der Tanz von Sonne und Mond, die Wege der Wandersterne – sie alle folgten Rhythmen, die mit keiner Trommel jemals gespielt werden konnten. Jaiya konnte sie dennoch fühlen. Da war eine ungeheure Kraft in diesen Bewegungen. Sie wollte sich damit verbinden, in den lang gedehnten Vibrationen ebenso aufgehen wie in den rasenden Taktschlägen bei den Festen, wenn Tänzer und Trommler zu einem Körper wurden. Doch die Geister der Langsamkeit gaben sich nicht leicht zu erkennen.

      Außer ihr schien sich kaum jemand dafür zu interessieren. Dem alten Heiler Yabuu jedoch war schon früh aufgefallen, mit welcher Hingabe Jaiya den Himmel beobachtete.

      In einer Dunkelnacht war er damals zu ihr gekommen, als sie auf der Lichtung lag und den sich langsam drehenden Lichtern dort oben zugesehen hatte. Er hatte sich neben sie gelegt. Beide hatten eine Weile still nach oben geschaut.

      „Leben dort oben Menschen wie wir?“ hatte Jaiya gefragt.

      „Nein“, hatte der alte Mann erwidert. „Sie sind anders als wir. Was wir sehen, sind die Lagerplätze der Toten. Sie haben ihre Körper hier zurückgelassen und neue bekommen. Aber niemand weiß, wie sie aussehen. Es ist noch nie jemand von dort zurückgekehrt.“

      „Sie sind so weit weg.“ In Jaiyas Stimme war Enttäuschung mitgeschwungen.

      „Ja, weiter als je ein Mensch laufen kann. Selbst alle Schritte von allen Menschen, die sie in ihrem Leben gelaufen sind, würden nicht ausreichen. Kein Lebender kann je das Reich der Toten erreichen. Du musst warten, bis sie dich holen.“

      In der Regel gaben sich die Zuhörer des Medizinmannes mit solchen Erklärungen zufrieden und wandten sich rasch wieder näher liegenden Angelegenheiten zu, sammelten Früchte, beobachteten das Meer nach Anzeichen von Fischschwärmen, bereiteten Pfeilgift für die Jagd zu oder spielten einfach.

      Jaiya war anders, das hatte der weise Mann längst bemerkt. Stärker als alle anderen fühlte sie sich zur Geisterwelt hingezogen, wollte alles darüber wissen. Und der Medizinmann hatte viel Wissen, das er weitergeben musste. Er hatte überlegt, ob Jaiya eines Tages seinen Platz einnehmen könnte und sich bestätigt gefühlt, als sie fragte: „Warum bleiben die meisten immer am gleichen Ort, während andere herumziehen?“

      „Die Wanderer bewegen sich in einer Zwischenwelt“, hatte Yabuu gesagt. „Sie halten den Kontakt zu uns Lebenden und überbringen uns manchmal Botschaften. Aber nicht jeder kann sie verstehen. Deshalb gibt es auch bei uns Ausgewählte, die die Verbindung zum Totenreich halten.“

      Trotz ihrer Jugend hatte Jaiya auch damals schon mehrere solcher Zeremonien miterlebt. Die ganze Nacht hatten sich die Dorfbewohner mit Musik, Tanz und Kräutern berauscht, bis der Morgenstern erschien und einen Fächer aus Licht hinter sich her zog. In diesem Moment öffnete sich vorübergehend das Tor zum Jenseits. Die Menschen konnten nicht hindurch treten, wohl aber ihre Gedanken und Gefühle, geleitet durch farbige Flammen, die der Medizinmann mit einem magischen Stab entfachte.

      „Es sind also die Zauberleute der Toten“, hatte Jaiya bemerkt.

      Der Morgenstern, der oft auch am Abend erschien, aber stets in der Nähe der Sonne blieb, zählte zu den schnellen Himmelslichtern. Er wanderte dennoch immer noch so langsam, dass seine Bewegung nur von einer Nacht zur anderen zu erkennen war. Andere Sterne dagegen rasten geradezu über den Himmel, sie stiegen über den Horizont und waren innerhalb weniger Atemzüge auf der anderen Seite wieder verschwunden.

      „Sind das auch Zauberer?“, hatte Jaiya gefragt, als einer dieser schnellen Wanderer über ihnen seiner geraden Bahn folgte. „Warum feiern wir keine Feste mit ihnen?“

      Der Magier hatte still gelächelt. Jaiya war wirklich ein ganz besonderes Mädchen. Die schnellen Wandersterne. Die alten Geschichten erzählten von Lichtern am Himmel, die plötzlich auftauchten und nach einer Weile wieder verschwanden, manche mit einem Streifen aus Licht. Aber von diesen Sternen, die schnell, mit gleichmäßigem Tempo über den Himmel zogen, war nirgendwo die Rede.

      Sie waren ihm zum ersten Mal aufgefallen, als er selbst noch jung und vom damaligen Dorfweisen in die Geheimlehren eingeführt worden war. Doch die Fragen nach der Bedeutung dieser Sterne hatte sein Lehrmeister nicht beantworten können. Er hatte sie auch zum ersten Mal gesehen. Und im Lauf der Jahre waren es immer mehr geworden. Es mochten vielleicht Zauberer sein. Oder Krieger.

      „Sie sind noch nicht lange da“, hatte Yabuu gesagt. „Wir kennen sie kaum. Sie kommen und gehen, wie sie wollen, und bleiben nie lange. Wie sollen wir mit so jemandem Feste feiern?“

      Er hatte mit ruhiger Stimme gesprochen. Jaiya war das leichte Zögern jedoch nicht entgangen. Der weise Mann war beunruhigt gewesen. Er, der jede Pflanze und jedes Tier kannte, der mit der Geisterwelt in Verbindung stand und Kranke heilen konnte, hatte es mit einer Erscheinung zu tun, die er nicht verstand. Die Ordnung am Himmel war gestört. Die Toten kamen näher. Aber was sie wollten, war ein Rätsel.

      „Wir könnten sie einladen“, hatte Jaiya vorgeschlagen. „Wenn wir ein großes Feuer entfachen, müssten sie es sehen.“

      Es war eine seltsame Idee für ein Volk, das auf seiner Insel keine Besucher duldete. Fremde brachten Unruhe, Krankheit und Tod. Niemand durfte das Land betreten. Der wachsame Blick aufs Meer war für Jaiya so selbstverständlich wie Atmen. Am Strand sang sie oft das Lied von Ao, dem mutigen Bogenschützen, der einst mit einem weiten Schuss die Eindringlinge verjagte. Aber dort oben am Himmel, das waren keine Fremden. Es waren Boten ihrer Vorfahren, Gesandte aus dem Sternenreich. Es musste einen Grund geben, warum sich immer mehr von ihnen am Himmel tummelten. Jaiya wollte ihn erfahren. Nur widerstrebend hatte sie sich dem Medizinmann gefügt. Nein, ein großes Feuer kam nicht in Frage.

      Doch sie hatte den Himmel weiter beobachtet und bald auch in den Bewegungen der schnellen Wanderer Regelmäßigkeiten erkannt. Es war nicht so, wie vom Magier behauptet. Sie kamen und gingen nicht, wie sie wollten, sondern bewegten sich wie die anderen Himmelswanderer auf geraden Wegen und mit gleichmäßigen Geschwindigkeiten, nur eben viel schneller. Sie waren aber meistens schwer voneinander zu unterscheiden, sodass Jaiya nicht sicher sein konnte, ob ein Stern wiederholt seine Bahn zog oder ein anderer seinen Platz eingenommen hatte.

      Einer jedoch stach heraus. Er war heller als alle anderen und ließ sich dadurch gut wiedererkennen. Mit der Zeit hatte Jaiya seine Bewegungen immer besser nachvollziehen und vorhersehen können. Sehen konnte sie ihn nur in der Dämmerung. Wie alle anderen Schnellläufer verbarg er sich in der Finsternis der tiefen Nacht. Jaiya war jedoch sicher gewesen, dass er auch im Dunkeln weiter über den Himmel wanderte.

      Als sie jetzt den Strand erreichte, war der Morgenhimmel bereits rot eingefärbt und überstrahlte die meisten Sterne. Das Meer hatte sich zurückgezogen, in dem noch feuchten Sand tummelten sich Möwen und suchten nach angeschwemmten Muscheln und Krabben. Von den Bäumen her erklang der vielstimmige Gesang der Waldbewohner, die jetzt erwachten.

      Für

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