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dem Wasser heller wurde und die Farbe ins Orange wechselte, kamen immer wieder neue Stimmen hinzu. Sie hörte das langsam ansteigende Gurren der Grünflügeltaube, die melodischen Pfiffe des Dajals, auch die ersten Spechte wurden jetzt aktiv.

      Als der Blaukopf mit seinem markanten Ruf in das Konzert einstimmte, wandte Jaiya sich um und schaute zum Wald, in die der Sonne entgegengesetzte Richtung. Wenn der kleine grüne Vogel mit den blauen Federn am Kopf seinen erstaunlich lauten Gesang begann, dauerte es nicht mehr lange, bis die Sonne sich zeigen würde.

      Täuschte sich Jaiya, oder klang der Blaukopf heute noch fröhlicher als sonst? Spürte er wie sie, dass am Himmel eine besondere Begegnung bevorstand?

      In diesem Moment erschien über den Baumwipfeln der helle Schnellläufer. In einer geraden Linie stieg er in die Höhe und wanderte rasch der Stelle entgegen, wo sich gleich die Sonne übers Wasser erheben wollte. Jaiya ließ ihn keinen Moment aus den Augen, sah ein kurzes Aufblitzen, als er direkt über ihr die höchste Stelle am Himmel erreichte. Je näher er dem Horizont kam, desto schlechter war er zu erkennen. Gegen die Strahlen der dahinter lauernden Sonne kam er nicht an, doch Jaiya verfolgte ihn, so lange es ging. Zuletzt ahnte sie ihn nur noch, schätzte seine Position aufgrund der Geschwindigkeit. Als er auf die Wasserlinie traf, hielt sie unwillkürlich den Atem an. Im gleichen Moment zeigte sich der glühende Rand der Sonne.

      Jaiya wusste nicht, was sie erwartet hatte. Irgendetwas, irgendein Zeichen. Doch die Sonne schob sich aus dem Wasser wie immer, völlig unbeeindruckt von der Begegnung mit dem schnellen Wanderer. Sie war nicht heller als sonst, auch nicht dunkler und strahlte nicht in anderen Farben. Es schien wie der ganz normale Beginn eines ganz normalen Tages. Dennoch war Jaiya nicht enttäuscht. Das himmlische Treffen hatte stattgefunden, genau wie sie es erwartet hatte. Und der Tag hatte gerade erst begonnen.

       3

      Es dauerte ein paar Sekunden, bis der Computer die nötigen Programme für die Steuerung des Roboterarms geladen hatte. Währenddessen schob Nick seine Füße in die Schlaufen unterhalb des Terminals. Um den 17 Meter langen Arm sicher steuern zu können, brauchte er festen Halt.

      Er griff nach den beiden Kontrollhebeln. Links für Bewegungen vor und zurück, seitwärts, rauf und runter. Rechts für die Ausrichtung im Raum – pitch, roll, yaw, wie die Robotikingenieure sagten. Als ehemaligem Hubschrauberpiloten der US Navy war es Nick nicht schwergefallen, sich auf das Interface von Canadarm2 einzustellen. Der wuchtige Manipulator, mit dem er jetzt die Materialproben des Archivexperiments auf der Außenplattform einsammelte, ließ sich tatsächlich ähnlich steuern wie ein Flugzeug.

      Die Dynamik allerdings hatte mehr mit einem Zeppelin zu tun als mit einem Düsenjäger. Ein paar Zentimeter pro Sekunde, schneller konnte Nick den Arm nicht bewegen. Dennoch musste er sich genauso konzentrieren wie im Cockpit eines Kampfjets. Tatsächlich rasten sie hier oben ja auch mit fast acht Kilometern pro Sekunde um die Erde. Am Boden entsprach das mehr als 25-facher Schallgeschwindigkeit, um ein Vielfaches schneller als jedes Flugzeug. Da riskierte man keine Fehlgriffe.

      Dabei lief das Einsammeln der auf der Plattform platzierten Materialproben zu einem großen Teil automatisiert ab. Für mehr als zwei Jahre waren sie hier den Weltraumbedingungen ausgesetzt gewesen, montiert auf Standardgerüsten mit Schnittstellen für den Endeffektor des Roboterarms. Nicks Aufgabe bestand hauptsächlich darin, dem System immer wieder zu bestätigen, dass es fortfahren sollte – und dabei nicht mit der Aufmerksamkeit nachzulassen.

      Endeffektor – Nick hatte sich nie entscheiden können, ob er diesen Begriff blöd oder genial finden sollte. Aber von „Greifer“ oder gar „Hand“ konnte man bei den Dingern an den beiden Enden des Arms nun wirklich nicht reden. In Astronautensprache hießen sie Lee-1 und Lee-2 – nach ihrer offiziellen Abkürzung LEE für „Latching End Effector“. Sie konnten viel weniger als eine menschliche Hand – und zugleich viel mehr.

      Ein Lee fasste und bewegte nicht nur Objekte oder auch Astronauten, sondern konnte ebenso als Basis dienen – also gewissermaßen zum Fuß werden –, wenn er sich mit einer der außen über die Raumstation verteilten Steckdosen verband. Diese Power Data Grapple Fixtures (astronautisch: Peedeegeffies) gaben dem Roboterarm Halt, versorgten ihn mit Energie und ermöglichten Kommunikation und Kontrolle. Auf diese Weise konnte der Arm wie eine Raupe von Steckdose zu Steckdose die Raumstation entlang wandern und dort eingesetzt werden, wo er gerade gebraucht wurde: Lee-2 verband sich mit einer Steckdose, Lee-1 löste sich von seiner, schwang sich hinüber zur nächsten, bis das Ziel erreicht war.

      Seit 27 Jahren war dieser unermüdliche Arbeiter jetzt schon an Bord. Im April 2001 war er hier angekommen, mit der zweiten Crew der permanenten menschlichen Besatzung. Ohne diesen Roboter hätte es die Internationale Raumstation nicht gegeben. Er hatte sie aufgebaut.

      Und jetzt baust du sie bald wieder ab, dachte Nick, während er abwechselnd aus dem Fenster und auf die Monitore schaute. Dies waren die letzten Proben, die er einsammelte. Neue würden nicht mehr kommen.

      Die Aufgabe der kommenden Monate bestand darin, die Raumstation nach und nach in ihre Einzelteile zu zerlegen, um die einzelnen Module dann gezielt zum Absturz zu bringen und möglichst vollständig in der Atmosphäre verglühen zu lassen. Einige größere Teile würden im Ozean versinken. Aber vom Roboterarm und seinen beiden Lees blieb bestimmt nichts übrig.

      Es hatte schon eine gewisse Ironie: Die eigene Vergänglichkeit im Blick, beschäftigte sich der Roboter zum Abschluss ausgerechnet mit Experimenten, bei denen es ums genaue Gegenteil ging: um Dauerhaftigkeit, extreme Dauerhaftigkeit über Millionen Jahre. Welches Speicherverfahren war am besten geeignet, Informationen über sehr lange Zeiträume zuverlässig zu bewahren?

      Die Untersuchung der Proben, die Nick gerade für den Rücktransport zur Erde vorbereitete, sollte helfen, diese Frage zu beantworten.

      Beim Frühstück hatten sie gerade erst über „2001: A Space Odyssey“ gesprochen. Juri hatte natürlich recht, nach einer Hinterlassenschaft von Außerirdischen auf dem Mond, so wie in dem Film, war noch nicht ernsthaft gesucht worden. Die Apollo-Astronauten hatten dafür damals weder die Zeit noch die Ausrüstung gehabt und seitdem war niemand mehr dort gewesen.

      In den letzten Jahren jedoch, als die Frage nach den nächsten Zielen der bemannten Raumfahrt sich zu so einer unerwartet breit und leidenschaftlich geführten Debatte entwickelt hatte, hatte die Idee neue Attraktivität gewonnen – in verwandelter Form: Jetzt ging es nicht mehr um die Suche nach einer Botschaft, sondern darum, selbst eine zu hinterlassen.

      Auf dem Mond sollte ein Archiv der Menschheit entstehen, das einen möglichen Untergang der irdischen Zivilisation überdauern konnte. Zukünftige Besucher sollten von der Geschichte der Bewohner des dritten Planeten im Sonnensystem erfahren, seien es Wesen von fernen Sternsystemen – oder Nachfahren der Menschen, die in einer fernen Zukunft vielleicht erneut die Raumfahrt entwickeln würden.

      Das Archivexperiment war das erste, das aus einer Volksabstimmung hervorgegangen war – betreut von Nick, dem letzten US-Bürger, der die Internationale Raumstation besuchte. Dass er überhaupt hier sein konnte, verdankte er den Europäern.

      Denn eigentlich hätte die Station schon längst in der Atmosphäre verglüht und im Ozean versenkt sein sollen. Doch dann war die europäische Sonde ExoMars auf dem roten Nachbarplaneten gelandet und hatte die Marsproteine entdeckt. Es war erstaunlich schnell gegangen. Bereits die ersten Bodenproben, geborgen aus knapp zwei Metern Tiefe, hatten starke Hinweise enthalten. Nachdem weitere Proben untersucht und die Daten kritisch überprüft worden waren, hatte die ESA im Frühjahr 2021 verkündet, dass ihre Sonde auf dem Mars Moleküle identifiziert habe, die offensichtlich biologischen Ursprungs waren.

      Es lag nahe, eine Probe davon zur Erde zu bringen, um sie gründlich untersuchen zu können. Doch die Marsproteine, so viel hatten schon die ersten Analysen gezeigt, waren für das hiesige Leben eine potenzielle, völlig unkalkulierbare Bedrohung, ein Transport zur Erdoberfläche nicht zu verantworten.

      Die Internationale Raumstation dagegen bot hervorragende Möglichkeiten für genauere Untersuchungen in sicherem Abstand von der irdischen Biosphäre. Nur war deren Stilllegung

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