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die MutterspracheMuttersprache/mother tongueund eine andere Sprache.Aber der Menschist derselbe.2.Es gibt das Lebenund die Dichtung.Jeder Dichter ist ein Mensch,nicht andersherum.3.Man kann eine andereSprache beherrschenim Leben oder in der Dichtung,von Geburt anoder danach.Dennoch wird diese Sprachefür ihn eine ewig andere bleiben.(KotjuhKotjuh, Igor 2007: 31–33.)Versuch einer SelbstbestimmungSich den Esten zurechnen — mit RussischRusslandRussisch/Russian als MutterspracheMuttersprache/mother tongue.Sich den Russen zurechnen — das Temperament stimmt nicht.Sich einen Europäer nennen — ein Vorrecht Auserwählter.Oder einen Weltbürger — zu abstrakt.Man muss schlicht und einfach ein Mensch sein.Wird das wohl verstanden?(KotjuhKotjuh, Igor 2007: 30.2)Seltener gibt es AutorInnen mit estnischenEstland/Estoniaestnisch Wurzeln, die angefangen haben, auf RussischRusslandRussisch/Russian zu schreiben. Einer von ihnen ist Priit ParmaksonParmakson, Priit, dessen literarisches Werk im Grenzgebiet von Sprachen (RussischRusslandRussisch/Russian, EstnischEstland/EstoniaEstnisch/Estonian, EnglischEnglisch/English) und Kunstsprachen (Literatur, visuelle Künste, z.B. Graphik) entsteht. Seine MutterspracheMuttersprache/mother tongue ist EstnischEstland/EstoniaEstnisch/Estonian, aber auf RussischRusslandRussisch/Russian zu schreiben hat er angefangen als ideologischeIdeologieideologisch Geste nach den Ereignissen um den Bronzenen Soldaten (das umstrittene Denkmal für die im Zweiten WeltkriegWeltkriegZweiter Weltkrieg gefallenen Soldaten der roten Armee in Tallinn, das von der estnischenEstland/Estoniaestnisch Seite als Symbol der Annektierung EstlandsEstland/Estonia, von der russischenRusslandrussisch Seite als das Symbol der Befreiung angesehen wird) im Jahre 2007.

      3 Drittens kann das Phänomen der ExophonieExophonie im Zusammenhang mit der sogenannten Mundartenliteratur (vor allem auf Werroestnisch, Setukesisch) behandelt werden. EstnischEstland/EstoniaEstnisch/Estonian ist für die meisten estnischenEstland/Estoniaestnisch SchriftstellerInnen heutzutage zwar die erste SchriftspracheSchriftSchriftsprache, eine MundartDialekt/Mundart hingegen (bzw. eine lokale Sprache) lernt man in der Funktion einer SchriftspracheSchriftSchriftsprache erst nach dem Erwerb der normierten estnischenEstland/Estoniaestnisch Sprache kennen und danach gegebenenfalls auch als LiteraturspracheLiteratursprache zu verwenden, da die einheitliche Schulbildung in EstlandEstland/Estonia (seit etwa 100 Jahren überall) nur auf Schriftestnisch stattfindet. Die Zahl der AutorInnen, die nur auf Werroestnisch und Setukesisch und nicht in estnischer StandardspracheStandard schreiben, ist heute dennoch relativ groß (Kauksi ÜlleÜlle, Kauksi, Merca, Andreas KalkunKalkun, Andreas u.a.).

      4 Dass ein Nichtmuttersprachler sich des EstnischenEstland/EstoniaEstnisch/Estonian als dichterischer Sprache bedient, kommt selten vor. Eine Ausnahme ist die Lyrik des schon erwähnten Øyvind RangøyRangøy, Øyvind, in der er auch seine exophoneExophonieexophon/exophonic Situation reflektiert:Außerhalb der SpracheWurzeln schlagen in einer anderen Sprache ist ein In-die-Ehe-Treten in umgekehrter Richtung: man wird zwei Fleisch, zwei Seelen. Der Gang der Dinge ist unter Umständen schmerzhaft, wunderbar und unvermeidlich. Innerlich sich zweiteilen ist ein erstaunlich schneller Prozess.Wer bin ich außerhalb der Sprache? Einer jener Steine, die die Eltern meiner Eltern zum Schutz der Beerensträucher aufeinandergestapelt haben? Der Lichteinfallswinkel auf der Meeresoberfläche? Überhaupt irgend etwas?Vielleicht bloß ein Träumender? 3

      Das wohl interessanteste Beispiel für alle diese Fälle aus der estnischenEstland/Estoniaestnisch Literatur bietet die Lyrik des 1941 geborenen Jaan KaplinskiKaplinski, Jaan, der als der exophonste Autor EstlandsEstland/Estonia gelten dürfte. Schon in seinem Buch Öölinnud. Öömõtted (1998; dt. Nachtvögel. Nachtgedanken) publizierte Kaplinski neben estnischsprachigen Gedichten eine Reihe von Texten in finnischer und englischerEnglisch/English Sprache. Sein Band Sõnad sõnatusse (2005; dt. Worte ins Wortlose) enthält auch russischeRusslandrussisch Gedichte.

      Mit seinem zu Ende des Jahres 2010 gemachen Blogeintrag „Goodbye my EstonianEstland/EstoniaEstnisch/Estonian“ löste KaplinskiKaplinski, Jaan seine bisherige Schaffenssprache ab und erklärte zugleich, warum er nicht mehr auf EstnischEstland/EstoniaEstnisch/Estonian schreiben könne. Kaplinski entschloss sich, seine MutterspracheMuttersprache/mother tongue gewissermaßen aufzugeben, denn seinem Eindruck nach seien es heute bestimmte Gruppen von Fachleuten, mit dem damaligen Präsidenten (Toomas Hendrik Ilves) an der Spitze, die den SprecherInnen des EstnischenEstland/EstoniaEstnisch/Estonian Worte, Normen und Ausdrucksweisen aufzwingen. Kaplinski wettert gegen die estnischeEstland/Estoniaestnisch IT-Terminologie, die er nicht für erlernenswert hält, denn sie sei nur scheinbar EstnischEstland/EstoniaEstnisch/Estonian, und er schließt: „Niemand hat das Recht, den Leuten EstlandsEstland/Estonia zu sagen, welche Worte sie benutzen sollten und welche nicht.“

      KaplinskiKaplinski, Jaan schreibt:

      Erstens habe ich Gedichte, Essays und Aufsätze in estnischer Sprache seit etwa 50 Jahren, das ist ein halbes Jahrhundert, geschrieben. Genügt es nicht? […] Ich habe versucht, mein Bestes zu tun, um diese Sprache intelligent und kreativ zu verwenden. Ich habe versucht, sie vor Normativen und Neologismen in Schutz zu nehmen. Jetzt habe ich das Gefühl, dass meine Bemühungen folgenlos geblieben sind. Ich habe meine Schlacht verloren. Es bleibt mir nichts anderes übrig, als mich zu ergeben. Ich will keine estnischenEstland/Estoniaestnisch MedienMedien mehr lesen, weder mir unsere Radiosendungen anhören noch unsere Fernsehprogramme angucken. Eine modernisierte Sprache tut mir weh. Ich muss das Schreiben in estnischer Sprache aufgeben und versuchen, fortan auf Werroestnisch, EnglischEnglisch/English oder RussischRusslandRussisch/Russian zu schreiben.4

      Und das tut er auch, von diesem Zeitpunkt ab dichtet er auf EnglischEnglisch/English, Werroestnisch und RussischRusslandRussisch/Russian.

      FATHERLAND

      homeland

      words become meaningless

      in the Western world

      in modern poetry

      Words losing their

      (eco)logical niche as fish

      as suffocating fish from some

      used up lake

      some waterless body of water

      I am a fish too

      a fish from a lake called

       EstoniaEstland/Estonia

      […]

      They asked me

      do I feel myself

      at least a bit PolishPolenPolnisch/Polish

      what could I answer them

      what did I answer them

      an EstonianEstland/EstoniaEstnisch/Estonian non-Catholic

      non-Protestant

      a fish from a far-off lake

      looking upon them

      through these multicoloured

      reefs and waves

      what words have they

      heard from my mouth

      grown up in another language

      in another world […]

      (KaplinskiKaplinski, Jaan 2000: 883–886.)

      Anfang November 2019 erschien das bisher letzte Werk von Jaan KaplinskiKaplinski, Jaan, seine Kindheits- und Jugenderinnerungen Latsepõlve suve (Võru, 2019), verfasst auf Werroestnisch – in der Sprache seiner Kindheit und Jugend.

      Im Jahre 2014 gab er als Ян Каплинский einen Band von Gedichten in russischerRusslandrussisch Sprache heraus Белые бабочки ночи/Бѣлыя бабочки ночи (Nachwort von Sergei Zawjalow, Kite, 2014; d.h. Weißer Nachtfalter auf RussischRusslandRussisch/Russian und Altrussisch). Der Band wurde von der russischenRusslandrussisch Kritik positiv aufgenommen: „Nach RilkeRilke, Rainer Maria ist das der zweite Versuch, dass ein europäischerEuropaeuropäisch Dichter von diesem Rang sich dem russischenRusslandrussisch Vers zuwendet. Im Unterschied zu Rilke dichtet KaplinskiKaplinski, Jaan glänzend in russischerRusslandrussisch Sprache.” (Каневский 2014)

      Dieser SprachwechselSprachwechsel erregte in der estnischenEstland/Estoniaestnisch

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