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Mehrsprachigkeit und das Politische. Группа авторов
Читать онлайн.Название Mehrsprachigkeit und das Politische
Год выпуска 0
isbn 9783772001406
Автор произведения Группа авторов
Жанр Документальная литература
Издательство Bookwire
2 MehrsprachigkeitMehrsprachigkeit in der Literatur
BaltischeBaltikumBaltisch Literaten waren bis zum Ende des 19. Jahrhunderts fast immer mindestens zweisprachigZweisprachigkeitzweisprachig, ungachtet ihrer nationalenNationnational oder ethnischenEthnieethnisch Herkunft. Ihre BildungsspracheBildungssprache war in der Regel DeutschDeutschlandDeutsch, außerdem verstanden bzw. sprachen sie, lebten sie im nördlichen Teil LivlandsLivland oder in EstlandEstland/Estonia, meistens mehr oder weniger gut Süd- oder Nordestnisch, im lettischsprachigen Teil des BaltikumsBaltikum LettischLettland/LatviaLettisch/Latvian oder LettgallischLettgallisch, mitunter konnten sie sich auch einer dieser Sprachen schriftlichSchriftschriftlich bedienen. Ihr lokales, tägliches DeutschDeutschlandDeutsch stand unter dem Einfluss dieser Sprachen bzw. deren MundartenDialekt/Mundart. MehrsprachigkeitMehrsprachigkeit, die Fähigkeit, sich sowohl schriftlichSchriftschriftlich als auch mündlichMündlichkeitmündlich verschiedener Sprachen zu bedienen, war ein wichtiger Charakterzug dieses Kulturraumes. Selbstverständlich kommt dies auch in der Literatur zum Ausdruck.
Im Folgenden werde ich einige Beispiele für den Gebrauch der MehrsprachigkeitMehrsprachigkeit in der Literatur des BaltikumsBaltikum anführen. Ich gehe dabei von der von Jaan Undusk im Jahre 1992 entworfenen, immer noch durchaus aktuellen Typologie des estnisch-deutschenDeutschlanddeutsch LiteraturtransfersLiteraturtransfer (Undusk 1992) aus, die zwischen Formen verschiedenster Kontakte literarischer Art unterscheidet. Mich interessieren an dieser Stelle jedoch lediglich die Kontakte, die sich mit dem Phänomen der ExophonieExophonie (oder ZweisprachigkeitZweisprachigkeit im weiteren Sinne) in Verbindung bringen lassen. Es lässt sich zwischen einer sprachinternen, textinternen und autorinternen Zweisprachigkeit unterscheiden.
2.1 Mit sprachinterner Zweiprachigkeit meine ich Texte, die in einer MischspracheMischsprache entstanden sind. Der deutschbaltischeDeutschbaltendeutschbaltisch DialektDialekt/Mundart ist selbst schon gewissermassen eine solche Mischsprache, in die estnischeEstland/Estoniaestnisch bzw. lettischeLettland/Latvialettisch, russischeRusslandrussisch oder französische Wörter eingebettet sind.
Ein frühes Beispiel ist ein kleines Fragment aus dem Gedicht „Lieffländische Schneegräfin“ (FlemingFleming, Paul 1638) von Paul Fleming (1609–1640), wo HochdeutschDeutschlandHochdeutsch, NiederdeutschDeutschlandNiederdeutsch und EstnischEstland/EstoniaEstnisch/Estonian sich mischen
Die Braut/bald rot/bald blaß, fing endlich an zu reden:
„Wat schal ich arme Kind? Gott weht, wat sy my theden!“
Das ander/Ycks /Kacks /Koll1 hub sie auff Undeutsch an,
Das ich noch nicht versteh’, und auch kein Gott nicht kan.
Literarische Texte im deutschbaltischenDeutschbaltendeutschbaltisch DialektDialekt/Mundart wurden jedoch selten verfasst, in der Regel geschah dies nur in ‚niedrigen‘ Literaturgattungen, wobei das DeutschbaltischeDeutschbaltenDeutschbaltisch die Funktion von Parodie, Ironie oder Witz innehatte. Das DeutschbaltischeDeutschbaltenDeutschbaltisch (mit all seinen Jargons) wurde dem Bereich des Komischen zugeordnet und kam am systematischsten zum Einsatz in der sogenannten halbdeutschDeutschlandHalbdeutschsprachigen Dichtung — in der makkaronischenmakkaronisch Dichtung2 des BaltikumsBaltikum vor allem des 19. Jahrhunderts. In dieser Gattung werden zwei Sprachen zur Erzielung eines komischen oder parodistischen Effektes vermischt, indem Morphologie und Syntax der deutschenDeutschlanddeutsch Sprache auf den Wortschatz des EstnischenEstland/EstoniaEstnisch/Estonian bzw. des LettischenLettland/LatviaLettisch/Latvian übertragen werden, wobei die Phonologie dem EstnischenEstland/EstoniaEstnisch/Estonian angepasst wird, z.B. werden die stimmhaften Konsonanten durch die stimmlosen und Doppelkonsonanten durch einen Konsonant ersetzt, das h weggelassen usw. (Über die Merkmale des HalbdeutschenDeutschlandHalbdeutsch siehe Ariste 1981).
Die Oberpahlsche Freundschaft (1818/1857) des Tallinners Jacob Johann MalmMalm, Jacob Johann (1796–1762) ist das erste und bekannteste, geradezu wegweisende Gedicht dieser Gattung gewesen (siehe dazu Lehiste 1965).
Vart’, tenkt’ ich mal in meine Sinn,
Willst wahren toch heinmal
Su Wreind nach Oberpalen in!
Und ging nu in tas Tall3
Und nehmt tas Wuchs mit lange Wanz
Und pannt tas wor tas Saan4;
Tann nehmt’ ich meine Mütz und Ans
Und wangt’ su jagen an;
Und nu katsait turch Tuchk und Tolm’5
Ich tuhhat neljad6 wort.
Und wie tas Wind war üks, kaks, kolm7
Ich an tas Tell und Ort.
Vart’, tenkt ich, willst toch machen Paß
Mit oberpalse Wreind!
Tu willst ihm trehen lange Nas’;
Laß sehn, was tas toch meint!
(MalmMalm, Jacob Johann 1861: 3)
Auch in der estnischenEstland/Estoniaestnisch Literatur ist dieser Typus bekannt. Ein DialogDialog aus der Erzählung Veli Henn (1901) von August KitzbergKitzberg, August (1863–1955, Kitzberg 2002: 271) klingt wie folgt:
Kniks-Mariihen: „Bitte,“ ütles Mariihen. „Astuge aita, sääl on toolisid, ja võite ennast natuke erhoolida.“
„Herr Lehepuu, üks väga peenike kawalier, – herr Birkenbaum, minu Freundini Bräutigam, – herr Sissa, minu Tänzer, kui Vereinis ball oli, – herr Enilane, ka üks hää Tänzer…“
Anders als bei MalmMalm, Jacob Johann ist hier die syntaktische und grammatikalischeGrammatikgrammatikalisch Basissprache EstnischEstland/EstoniaEstnisch/Estonian, in das deutscheDeutschlanddeutsch Wörter oder Ausdrücke eingebettet und grammatischGrammatikgrammatisch angepasst sind. Jedes zweite Wort in der Rede von Kniks-Mariihen ist deutschDeutschlanddeutsch: Bitte, erhoolida (erholen), Herr, Kawalier, Freundin, Bräutigam, Tänzer, Verein, Ball.
Ungeachtet der Basissprache wird in dieser Dichtung ein bestimmter sozialer Typus dargestellt, ein ‚Emporkömmling‘ meistens estnischer bzw. lettischerLettland/Latvialettisch Abstammung oder aber auch ein sozial heruntergekommener DeutscherDeutschlandDeutsche (ein sogenannter Klein-DeutscherDeutschlandDeutsche), der seine IdentitätIdentität/identity aufgegeben hat oder seine Position in der Gesellschaft ändern möchte und seine (vermeintliche) Bildung gern hervorkehrt. Dabei kann er z.B. ‚gehobene‘ deutschDeutschlanddeutsch- oder französischsprachige Sätze verwenden. Vahur Aabrams (Aabrams 2007) hat die halbdeutschsprachigeDeutschlandHalbdeutsch Dichtung als Erscheinung einer karnevalesken Kultur im Sinne von Michail BachtinBachtin, Michail interpretiert.
2.2 Unter textinterner ZweisprachigkeitZweisprachigkeit verstehe ich die Verwendung zweier Sprachen in einem Text, ohne Morphologie und Syntax einer Sprache an die Ziel- oder Basissprache anzupassen. Abrupt wird von einer Sprache in die andere übergegangen, wobei die Sprachen eine bestimmte kulturelle Funktion im Text haben. Diese Art von MehrsprachigkeitMehrsprachigkeit nahm ihren Anfang mit kirchlichen Texten im 16. Jahrhundert und war noch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts im BaltikumBaltikum gebräuchlich. Ein früheres, charakteristisches Beispiel sind die hauptsächlich estnischsprachigen Predigten (1600–1608) des Tallinner Pastors Georg MüllerMüller, Georg (1570–1608), in denen deutscheDeutschlanddeutsch und lateinischeLateinLateinisch Passagen verwendet werden. Aus späterer Zeit könnte man das Stück Die väterliche Erwartung, eine ländliche Familien Scene in Esthland, mit Untermischten Gesängen (1789) von August von KotzebueKotzebue, August von (1761–1819) hervorheben, das auf der Bühne des Revaler Liebhabertheaters uraufgeführt wurde. Der dritte Akt des Stückes beginnt mit einem estnischsprachigen DialogDialog und die ganze Parallelhandlung findet auf EstnischEstland/EstoniaEstnisch/Estonian statt.