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im­mer­fort:

      »Ich will nicht ster­ben … Oh, mein Gott … mein Gott … was wird mit mir? Ich wer­de nichts mehr se­hen? Ich wer­de nichts mehr se­hen … nichts … Nie­mals … Oh, mein Gott …«

      Er starr­te vor sich hin und sah et­was, was für die an­de­ren un­sicht­bar blieb, et­was Furcht­ba­res, denn in sei­nen un­be­weg­li­chen Au­gen spie­gel­te sich das ent­setz­lichs­te Grau­en wie­der. Sei­ne bei­den Hän­de fuh­ren mit ih­rer schreck­li­chen, er­mü­den­den Ge­bär­de fort.

      Plötz­lich über­fiel ihn ein furcht­ba­rer Krampf, der sei­nen Kör­per von Kopf bis zu Fuß er­be­ben ließ. Er stam­mel­te:

      »Der Kirch­hof … mich … mein Gott …«

      Er sprach nichts mehr und blieb un­be­weg­lich, ver­stört und rö­chelnd lie­gen.

      Die Zeit ver­ging; die Uhr ei­nes na­he­ge­le­ge­nen Klos­ters schlug zwölf. Du­roy ver­ließ das Zim­mer, um et­was zu es­sen. Nach ei­ner Stun­de war er wie­der da. Ma­da­me Fo­res­tier woll­te nichts zu sich neh­men. Der Kran­ke hat­te sich nicht ge­rührt. Er fuhr noch im­mer mit sei­nen ma­ge­ren Fin­gern über die Bett­de­cke, als ob er sein Ge­sicht be­rüh­ren woll­te.

      Die jun­ge Frau saß in ei­nem Lehn­stuhl am Fuße des Bet­tes. Du­roy nahm sich einen an­de­ren und setz­te sich ne­ben sie; bei­de war­te­ten schwei­gend.

      Der Arzt hat­te eine Kran­ken­wär­te­rin ge­schickt; sie saß am Fens­ter und schlum­mer­te.

      Du­roy be­gann auch schläf­rig zu wer­den, als er plötz­lich das Ge­fühl hat­te, dass et­was ge­sche­hen müss­te. Er öff­ne­te die Au­gen ge­ra­de noch früh ge­nug, um zu se­hen, wie Fo­res­tier die sei­nen wie zwei er­lö­schen­de Lich­ter schloss, ein kur­z­es Schlu­cken be­weg­te die Keh­le des Ster­ben­den, und in den Mund­win­keln wur­den zwei Blut­fä­den sicht­bar, die dann lang­sam auf das Hemd her­ab­tropf­ten. Die Hän­de hör­ten mit ih­rer schreck­li­chen Be­we­gung auf. Er at­me­te nicht mehr.

      Die Frau be­griff, was ge­sche­hen war; sie stieß einen Schrei aus und warf sich schluch­zend ne­ben dem Bett auf die Knie. Ge­or­ges mach­te vor Schreck und Ent­set­zen me­cha­nisch das Zei­chen des Kreu­zes. Die Wär­te­rin war er­wacht und trat ans Bett her­an.

      »Es ist vor­bei«, sag­te sie.

      Und Du­roy, der sei­ne Kalt­blü­tig­keit wie­der­ge­won­nen hat­te, mur­mel­te mit ei­nem Seuf­zer der Er­leich­te­rung:

      »Das hat nicht so­lan­ge ge­dau­ert, wie ich dach­te.«

      Als die ers­te Be­stür­zung vor­über war und die ers­ten Trä­nen ge­flos­sen wa­ren, be­schäf­tig­te man sich mit all den Schrit­ten, die bei ei­nem To­des­fall er­for­der­lich sind. Du­roy wur­de bis in die Nacht hin­ein in An­spruch ge­nom­men.

      Als er heim­kehr­te, war er sehr hung­rig. Frau Fo­res­tier aß auch ein we­nig. Dann setz­ten sie sich bei­de in das Trau­er­ge­mach, um an der Lei­che zu wa­chen.

      Zwei Ker­zen brann­ten auf dem Nacht­tisch ne­ben ei­ner Scha­le, in der ein Bü­schel Mi­mo­sen schwamm, denn den üb­li­chen Buchs­baum­zweig hat­te man nir­gends auf­trei­ben kön­nen.

      Sie sa­ßen jetzt al­lein, der jun­ge Mann und die jun­ge Frau ne­ben ihm, der nicht mehr auf die­ser Welt war. Sie spra­chen kein Wort und be­trach­te­ten ihn nach­denk­lich.

      Ge­or­ges be­son­ders, den die Fins­ter­nis um die Lei­che be­ängs­tig­te, konn­te den Blick nicht von ihr wen­den. Sei­ne Au­gen und sei­ne Ge­dan­ken wur­den an­ge­zo­gen und fas­zi­niert von die­sem fleisch­lo­sen Ge­sicht, das in dem zit­tern­den Licht­schein der Ker­zen noch hoh­ler er­schi­en. Das war sein Freund Charles Fo­res­tier, der ges­tern noch mit ihm ge­spro­chen hat­te! Wie un­be­greif­lich und grau­en­voll war doch das Ende ei­nes mensch­li­chen We­sens. Oh, jetzt dach­te er an die Wor­te Nor­bert de Va­ren­nes, den die Furcht vor dem Tode so quäl­te: »Nie kehrt ein Mensch wie­der. Mil­lio­nen und Mil­li­ar­den ähn­li­cher We­sen wer­den ge­bo­ren, die auch Au­gen, Nase, Mund und Schä­del mit ei­nem Ge­hirn be­sit­zen, aber nie kehrt der­sel­be Mensch zu­rück, der dort aus­ge­streckt im Bet­te liegt.

      Ein paar Jah­re lang hat­te er ge­lebt, ge­ges­sen, ge­lacht, ge­liebt und ge­hofft, wie je­der an­de­re. Und nun war es mit ihm zu Ende, zu Ende für im­mer. Was ist ein Men­schen­le­ben? Ein paar Tage und wei­ter nichts. Man kommt auf die Welt, man wächst her­an, man wird glück­lich, man war­tet und dann stirbt man. Fahr wohl! Mann oder Weib, du kommst auf die­se Erde nie wie­der! Und doch trägt je­der in sich eine fie­ber­haf­te, un­er­füll­ba­re Sehn­sucht nach Ewig­keit; und je­der ist ein klei­nes Wel­tall im großen Wel­tall, und ver­sinkt doch so schnell in das ewi­ge Nichts, um zum Nähr­bo­den für neu auf­ge­hen­de Kei­me zu wer­den. Pflan­zen, Tie­re, Men­schen, Ster­ne und Wel­ten, al­les lebt auf, dann stirbt es, um sich in et­was Neu­es zu ver­wan­deln, und nie kehrt ein We­sen zu­rück; we­der ein Wurm, noch ein Mensch, noch ein Pla­net!

      Ein dump­fes, un­end­li­ches Grau­en las­te­te ver­nich­tend auf der See­le Du­roys, der Schre­cken vor dem gren­zen­lo­sen, un­ver­meid­li­chen Nichts, das un­auf­hör­lich je­des kurz­le­bi­ge und schwa­che Le­be­we­sen zer­stört. Und er beug­te schon die Stirn vor die­ser ent­setz­li­chen dau­ern­den Dro­hung. Er dach­te an die Flie­gen, die ein paar Stun­den le­ben, an die Tie­re, die Tage, an die Men­schen, die ein paar Jah­re, und an die Wel­ten, die ein paar Jahr­hun­der­te le­ben. Wel­cher Un­ter­schied be­steht zwi­schen ih­nen? Ein paar Mor­gen­rö­ten mehr, wei­ter nichts!

      Er wand­te die Au­gen ab, um die Lei­che nicht mehr se­hen zu müs­sen.

      Ma­da­me Fo­res­tier saß mit ge­senk­tem Kopf da und schi­en eben­falls in schmerz­li­che Ge­dan­ken ver­sun­ken zu sein. Ihre blon­den Haa­re über dem trau­ri­gen Ge­sicht sa­hen so schön und reiz­voll aus, dass eine süße Emp­fin­dung, eine auf­blü­hen­de Hoff­nung das Herz des jun­gen Man­nes be­rühr­te. Wa­rum ver­zwei­feln, wenn man noch so vie­le Jah­re vor sich hat­te?

      Er be­trach­te­te sie auf­merk­sam. Sie war von ih­ren Ge­dan­ken er­füllt und sah ihn nicht. Er sag­te sich: »Das ein­zig Gute und Schö­ne im Le­ben ist: die Lie­be! Ein ge­lieb­tes Weib in sei­nen Ar­men zu hal­ten — das ist das höchs­te Men­schen­glück auf die­ser Erde.«

      Wel­ches Glück hat­te der Tote ge­habt, dass er eine so klu­ge und rei­zen­de Ka­me­ra­din ge­fun­den hat­te. Wie moch­ten sie sich wohl ken­nen­ge­lernt ha­ben? Wie war sie dazu ge­kom­men, einen so mit­tel­mä­ßi­gen und ar­men Bur­schen zu hei­ra­ten? Wie war es ihr ge­lun­gen, et­was aus ihm zu ma­chen?

      Und er dach­te über alle Ge­heim­nis­se nach, die im Men­schen­le­ben ver­bor­gen sind. Er er­in­ner­te sich an alle Gerüch­te über den Gra­fen de Vau­drec, der sie an­geb­lich aus­ge­stat­tet und ver­hei­ra­tet hat­te. Was wür­de sie nun an­fan­gen? Wen wür­de sie hei­ra­ten? Ei­nen Ab­ge­ord­ne­ten, wie Ma­da­me de Ma­rel­le mein­te, oder einen jun­gen Mann mit Zu­kunft, einen neu­en ver­bes­ser­ten Fo­res­tier? Hat­te sie be­stimm­te Hoff­nun­gen, Plä­ne, Ab­sich­ten? Wie gern hät­te er das er­fah­ren! Aber warum zer­brach er sich den Kopf über ihre Zu­kunft? Er dach­te dar­über nach und es wur­de ihm klar, dass sei­ne Beun­ru­hi­gung aus je­nen dunklen, ver­bor­ge­nen Ge­dan­ken kam, die man vor sich selbst ge­heim­hält und dann ent­deckt, wenn man tief ins In­ners­te sei­ner See­le ein­dringt.

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