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      Er wuss­te aber nicht, wo er an­fan­gen soll­te, und so be­gann sie, ihn aus­zu­fra­gen, wie ein Pries­ter sein Beicht­kind. Sie leg­te ihm ganz be­stimm­te Fra­gen vor, durch die ihm eine Men­ge ver­ges­se­ner Ein­drücke, flüch­tig be­kann­te Per­so­nen und ver­schie­de­ne Ein­zel­hei­ten ins Ge­dächt­nis zu­rück­ge­ru­fen wur­den. Als sie ihn etwa eine Vier­tel­stun­de auf sol­che Wei­se aus­ge­fragt hat­te, un­ter­brach sie ihn plötz­lich:

      »Jetzt wol­len wir be­gin­nen. Zu­nächst neh­men wir an, Sie be­rich­ten Ihrem Freun­de Ihre Er­leb­nis­se. Das er­laubt Ih­nen, eine Men­ge Bos­hei­ten zu sa­gen, Be­mer­kun­gen al­ler Art ein­zu­flech­ten, und so na­tür­lich und wit­zig zu sein, wie wir es ir­gend kön­nen. Also los:

      ›Mein lie­ber Hen­ri, Du willst wis­sen, was Al­gier ist, Du sollst es er­fah­ren. Da ich in der klei­nen Hüt­te aus ge­trock­ne­tem Lehm, die mir als Woh­nung dient, nichts Bes­se­res an­zu­fan­gen weiß, will ich Dir eine Art Ta­ge­buch über mein Le­ben schi­cken und Dir schil­dern, wie mein Le­ben sich Tag für Tag, Stun­de für Stun­de ge­stal­tet … Es wird manch­mal et­was toll dar­in zu­ge­hen, ei­ner­lei: Du bist doch nicht ver­pflich­tet, es den Da­men aus Dei­nem Be­kann­ten­krei­se vor­zu­zei­gen.‹«

      Sie mach­te eine Pau­se, um die aus­ge­gan­ge­ne Zi­ga­ret­te wie­der an­zu­zün­den, und so­fort hör­te das krit­zeln­de Geräusch der Gän­se­fe­der auf dem Pa­pier auf.

      »Nun wei­ter!« sag­te sie.

      »Al­gier ist eine aus­ge­dehn­te fran­zö­si­sche Be­sit­zung an der Gren­ze der großen un­be­kann­ten Län­der, die man die Wüs­te, die Sa­ha­ra, Zen­tral­afri­ka und so wei­ter nennt.

      Al­gier ist das Tor, das wei­ße, be­zau­bern­de Ein­gang­stor die­ses selt­sa­men Kon­tin­ents.

      Aber zu­nächst muss man die­ses Land er­rei­chen und das ist nicht für je­der­mann so be­son­ders an­ge­nehm. Du weißt, ich bin ein aus­ge­zeich­ne­ter Rei­ter, denn ich muss ja die Pfer­de des Obers­ten zu­rei­ten. Aber man kann ein gu­ter Rei­ter und da­bei ein schlech­ter See­mann sein. Das ist bei mir der Fall.

      Ent­sinnst Du Dich noch des Ma­jors Sim­bre­ta, den wir den Dok­tor Ipé­ca nann­ten? Wenn wir uns reif für vier­und­zwan­zig Stun­den La­za­rett fühl­ten, so be­such­ten wir ihn.

      Er saß auf sei­nem Stuhl, die di­cken Bei­ne in den ro­ten Ho­sen weit aus­ein­an­der ge­spreizt, die Hän­de auf die Knie ge­stützt, die El­len­bo­gen in der Luft, so­dass die Arme wie eine Brücke aus­sa­hen. Er roll­te sei­ne großen Au­gen und knab­ber­te da­bei an sei­nem wei­ßen Schnurr­bart. Ent­sinnst Du Dich noch sei­ner Ver­ord­nung?

      ›Die­ser Sol­dat hat einen ver­dor­be­nen Ma­gen. Er be­kommt das Brech­mit­tel Num­mer 3 nach mei­nem Re­zept. Dann zwölf Stun­den Ruhe und er ist wie­der ge­sund.‹

      Die­ses Brech­mit­tel war all­mäch­tig und un­wi­der­steh­lich. Man schluck­te es run­ter, weil man es halt muss­te. Hat­te man die Kur des Dok­tor Ipé­ca über­stan­den, dann ge­noss man zwölf Stun­den teu­er er­kauf­ter Ruhe.

      Nun, mein lie­ber Freund, um nach Afri­ka zu ge­lan­gen, muss man ein an­de­res, nicht min­der un­wi­der­steh­li­ches Mit­tel neh­men, und zwar nach dem Re­zept der Trans­at­lan­ti­schen Damp­fer­ge­sell­schaft.«

      Sie rieb sich die Hän­de, höchst zu­frie­den mit ih­rem Ein­fall.

      Dann stand sie auf, ging im Zim­mer auf und ab, steck­te sich eine neue Zi­ga­ret­te an und dik­tier­te wei­ter. Sie blies den Rauch vor sich hin, der zu­erst aus dem klei­nen run­den Loch zwi­schen ih­ren zu­sam­men­ge­press­ten Lip­pen ker­zen­ge­ra­de em­por­stieg, dann wur­den die Rauch­rin­ge im­mer brei­ter und ver­flüch­tig­ten sich in der Luft als graue, durch­sich­ti­ge Ne­bel­strei­fen, ähn­lich ei­nem Spinn­ge­we­be. Bis­wei­len zer­stör­te sie die leich­ten, üb­rig­ge­blie­be­nen Strei­fen mit ei­ner schnel­len Be­we­gung der fla­chen Hand, bis­wei­len durch­schnitt sie die­sel­ben lang­sam mit dem Zei­ge­fin­ger und sah dann nach­denk­lich zu, wie die bei­den Hälf­ten all­mäh­lich ver­schwan­den.

      Du­roy ver­folg­te jede ih­rer Be­we­gun­gen, jede Stel­lung ih­res Kör­pers, jede Ver­än­de­rung in ih­rem Ge­sichts­aus­druck, die dies me­cha­ni­sche, ge­dan­ken­lo­se Spiel bei ihr her­vor­rief.

      Sie er­fand jetzt Rei­se­er­leb­nis­se, schil­der­te selbst er­fun­de­ne Rei­se­ge­fähr­ten und ent­warf eine Lie­bes­ge­schich­te mit der Frau ei­nes In­fan­te­rie­haupt­manns, die ih­rem Man­ne nach­reis­te.

      Dann setz­te sie sich wie­der und frag­te Du­roy über die Bo­den­ver­hält­nis­se von Al­gier aus, von de­nen sie kei­ne Ah­nung hat­te. Und in zehn Mi­nu­ten wuss­te sie ge­nau so viel wie er und mach­te dar­aus ein klei­nes Ka­pi­tel über po­li­ti­sche und ko­lo­nia­le Geo­gra­fie, um den Le­ser ein­zu­füh­ren und auf das Ver­ständ­nis erns­ter Fra­gen vor­zu­be­rei­ten, die im fol­gen­den Ar­ti­kel be­han­delt wür­den.

      Dann flocht sie eine Er­zäh­lung über einen frei er­fun­de­nen Aus­flug nach der Pro­vinz Oran ein, bei dem es sich vor al­lem um Frau­en han­del­te, um Mau­ren­mäd­chen, Jü­din­nen und Spa­nie­rin­nen.

      »Das ist das ein­zi­ge, was wirk­lich die Leu­te in­ter­es­siert«, mein­te sie.

      Sie schloss mit ei­nem Auf­ent­halt in Sai­da, am Fuße der Ho­chebe­ne, und ei­nem hüb­schen klei­nen Lie­bes­aben­teu­er zwi­schen dem Un­ter­of­fi­zier Ge­or­ge Du­roy und ei­ner spa­ni­schen Ar­bei­te­rin, die in ei­ner Spar­to­gras­flech­te­rei in Ain-el-Ha­d­jar be­schäf­tigt war. Frau Fo­res­tier er­zähl­te von dem nächt­li­chen Stell­dich­ein in dem stei­ni­gen, kah­len Ge­bir­ge, wo in­mit­ten von Fels­blö­cken Scha­ka­le, Hyä­nen und ara­bi­sche Hun­de heul­ten, schri­en und bell­ten.

      Und fröh­lich sag­te sie nun:

      »Fort­set­zung folgt!«

      Dann stand sie auf.

      »Se­hen Sie, Lie­ber Herr Du­roy, so schreibt man Ar­ti­kel. Jetzt un­ter­schrei­ben Sie bit­te.«

      Er zö­ger­te.

      »Schrei­ben Sie doch Ihren Na­men.«

      Da be­gann er zu la­chen und schrieb un­ten auf den Rand der letz­ten Sei­te: »Ge­or­ges Du­roy.«

      Sie rauch­te und ging auf und ab; er be­trach­te­te sie im­mer­zu. Er fand kei­ne Wor­te, um ihr zu dan­ken. Er war glück­lich, in ih­rer Nähe zu sein; er­füllt von Dank­bar­keit, ge­noss er das sinn­li­che Glück ih­rer wach­sen­den Ver­trau­lich­keit. Ihm war, als ob al­les, was sie um­gab, ein Teil ih­rer selbst war, al­les bis zu den bü­cher­be­deck­ten Wän­den. Die Stüh­le, die Mö­bel, die von Ta­bak durch­tränk­te Luft. Al­les be­saß et­was Ei­gen­ar­ti­ges, Rei­zen­des, das von ihr kam.

      Plötz­lich frag­te sie ihn:

      »Was hal­ten Sie von mei­ner Freun­din, der Ma­da­me de Ma­rel­le?«

      Er war über­rascht.

      »Nun ja, ich fin­de … ich fin­de sie ent­zückend.«

      »Nicht wahr?«

      »Ja ge­wiss.«

      Er woll­te hin­zu­fü­gen: »Aber doch nicht so ent­zückend wie Sie.« Doch er wag­te

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