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ein­ge­nom­men sei.

      Aber plötz­lich rief Ma­da­me de Ma­rel­le ohne jede Ver­an­las­sung: »Lau­ri­ne!« Das klei­ne Mäd­chen kam. »Setz’ dich hier­her, mein Kind, du er­käl­test dich am Fens­ter!«

      Und Du­roy emp­fand ein tol­les Ver­lan­gen, das Kind zu küs­sen, als soll­te auch die Mut­ter von die­sem Kus­se et­was ver­spü­ren. Er frag­te in ei­nem ga­lan­ten, vä­ter­li­chen Ton:

      »Darf ich Sie küs­sen, klei­nes Fräu­lein?«

      Das Kind sah ihn er­staunt an. Ma­da­me de Ma­rel­le sag­te la­chend: »Ant­wor­te: heu­te möch­te ich es schon, denn im­mer geht das nicht.«

      Du­roy setz­te sich so­fort hin, zog Lau­ri­ne auf sein Knie und streif­te die zar­ten, wol­li­gen Haa­re des Kin­des mit den Lip­pen.

      Die Mut­ter war er­staunt: »Wie, sie ist nicht da­von­ge­lau­fen? Das ist ja son­der­bar. Sonst lässt sie sich nur von Frau­en küs­sen. Sie müs­sen un­wi­der­steh­lich sein, Herr Du­roy.«

      Er wur­de rot, ant­wor­te­te nichts und schau­kel­te mit ei­ner leich­ten Be­we­gung das klei­ne Mäd­chen auf den Kni­en.

      Ma­da­me Fo­res­tier trat zu ihm und stieß einen Ruf des Er­stau­nens aus: »Schau, ein Wun­der, Lau­ri­ne ist ge­zähmt.«

      Jaques Ri­val trat mit der Zi­gar­re im Mun­de her­an und Du­roy ver­ab­schie­de­te sich, um durch ir­gend­ein un­ge­schick­tes Wort den gu­ten Ein­druck, den er ge­macht hat­te, nicht wie­der zu zer­stö­ren und das be­gon­ne­ne Erobe­rungs­werk in Fra­ge zu stel­len.

      Er ver­beug­te sich, drück­te leicht die klei­nen Frau­en­hän­de, die sich ihm ent­ge­gen­streck­ten, und schüt­tel­te kräf­tig den Her­ren die Hand. Es fiel ihm da­bei auf, dass Jaques Ri­vals Hand heiß und tro­cken war und sei­nen Druck herz­lich er­wi­der­te, wäh­rend die Hand Nor­bert de Va­ren­nes feucht und kalt war und sich kaum fas­sen ließ. Va­ter Wal­ters Hand war kühl und weich, ohne Ener­gie und Aus­druck, die Fo­res­tiers fett und warm. Sein Freund flüs­ter­te ihm zu:

      »Mor­gen um drei. Ver­giss nicht!«

      »O nein, sei un­be­sorgt!«

      Als er sich wie­der auf der Trep­pe be­fand, war sei­ne Freu­de so groß, dass er am liebs­ten hin­ab­ge­lau­fen wäre. Er nahm im­mer zwei Stu­fen auf ein­mal.

      Plötz­lich er­blick­te er in dem großen Spie­gel des zwei­ten Stockes einen über­ei­li­gen Herrn, der auf ihn zu­ge­sprun­gen kam. Be­schämt blieb er ste­hen, als hät­te man ihn auf ei­ner Dumm­heit er­tappt. Dann be­trach­te­te er sich lan­ge Zeit aufs höchs­te ver­wun­dert, dass er wirk­lich ein so hüb­scher Kerl war. Freund­lich lä­chel­te er sich zu und ver­ab­schie­de­te sich dann von sei­nem Eben­bild mit ei­nem tie­fen, fei­er­li­chen Gruß, wie man eine hoch­ge­stell­te Per­sön­lich­keit grüßt.

      III.

      Ge­or­ges Du­roy be­fand sich wie­der auf der Stra­ße und über­leg­te, was er tun soll­te. Er hat­te Lust zu lau­fen, zu träu­men, im­mer­fort zu ge­hen, an sei­ne Zu­kunft zu den­ken und die mil­de Nacht­luft ein­zuat­men; doch der Ge­dan­ke an die Ar­ti­kel­se­rie, die Va­ter Wal­ter be­stellt hat­te, gab ihm kei­ne Ruhe, und er be­schloss, so­fort nach Hau­se zu ge­hen und sich an die Ar­beit zu set­zen. Mit ei­li­gen Schrit­ten ging er wei­ter, er­reich­te den äu­ße­ren Bou­le­vard und ge­lang­te end­lich in die Rue Boursault, wo er wohn­te. Sei­ne Woh­nung be­fand sich in ei­nem sechs­stö­cki­gen Haus, das von etwa zwan­zig Ar­bei­ter- und Klein­bür­ger­fa­mi­li­en be­völ­kert war. Er stieg die Trep­pe hin­auf und be­leuch­te­te mit Wachss­treich­höl­zern die schmut­zi­gen Stu­fen, auf de­nen Pa­pier­fet­zen, Zi­gar­ren­stum­mel und Kü­chen­ab­fäl­le her­um­la­gen. Er emp­fand ein wi­der­wär­ti­ges Ge­fühl und einen Drang, so rasch als mög­lich von hier fort­zu­kom­men und so zu woh­nen, wie es die rei­chen Leu­te tun, in sau­be­ren Woh­nun­gen mit schö­nen Tep­pi­chen. Ein schwe­rer Ge­ruch von Spei­se­res­ten, Un­rat und un­sau­be­rer Men­sch­lich­keit, ein sta­gnie­ren­der Duft von Fett und Mau­ern, den kein fri­scher Luft­zug ver­trei­ben konn­te, er­füll­te das Haus von oben bis un­ten.

      Das Zim­mer des jun­gen Man­nes lag im fünf­ten Stock und ging wie auf einen tie­fen Ab­grund, auf den wei­ten Ein­schnitt der West­bahn, ge­ra­de ober­halb der Tun­ne­lein­fahrt, vor dem Bahn­hof Ba­ti­gnol­les, hin­aus. Du­roy öff­ne­te das Fens­ter und lehn­te sich auf das ver­ros­te­te, ei­ser­ne Fens­ter­brett.

      Un­ter ihm glüh­ten in der Tie­fe der fins­te­ren Wöl­bung drei rote, un­be­weg­li­che Si­gnal­la­ter­nen wie große, feu­ri­ge Raub­tierau­gen, und wei­ter, im­mer wei­ter, sah er im­mer noch an­de­re Lich­ter. Fort­wäh­rend gell­ten lan­ge und kur­ze Pfif­fe durch die Nacht, die einen nahe, die an­de­ren kaum hör­bar in der Rich­tung nach As­nie­res. Sie klan­gen wie mensch­li­che, ru­fen­de Stim­men. Ei­ner kam nä­her und nä­her, sein kla­gen­der Ton klang von Se­kun­de zu Se­kun­de lau­ter; plötz­lich blitz­te ein großes gel­bes Licht auf, das lär­mend da­hin­roll­te, und Du­roy sah die lan­ge Wa­gen­rei­he in der Tun­nel­mün­dung ver­schwin­den.

      Dann sag­te er zu sich: »Also an die Ar­beit«, und stell­te das Licht auf den Tisch. Doch wie er sich hin­set­zen woll­te, um zu schrei­ben, be­merk­te er erst, dass er nur eine Schach­tel Brief­pa­pier hat­te.

      »Das ist kein Un­glück«; er half sich, in­dem er die Bo­gen aus­ein­an­der­fal­te­te und sie in ih­rer gan­zen Grö­ße be­nutz­te. Er tauch­te die Fe­der in die Tin­te und schrieb mit sei­ner schö­nen Hand­schrift auf den Kopf des ers­ten Bo­gens die Wor­te:

      »Erin­ne­run­gen ei­nes afri­ka­ni­schen Jä­gers.«

      Dann such­te er nach dem An­fang des ers­ten Sat­zes. Er saß, den Kopf auf die Hän­de ge­stützt, die Au­gen auf das wei­ße Pa­pier ge­rich­tet, das sich vor ihm aus­brei­te­te. Was soll­te er schrei­ben? Er fand ab­so­lut nichts von dem wie­der, was er kurz vor­her er­zählt hat­te, kei­ne An­ek­do­te, kei­ne ein­zi­ge Tat­sa­che, nichts. Plötz­lich fiel ihm ein: »Ich muss mit mei­ner Abrei­se aus der Hei­mat be­gin­nen.« Und er schrieb: »Es war un­ge­fähr am 15. Mai des Jah­res 1874, als das er­schöpf­te Frank­reich sich von den Schick­sals­schlä­gen der schreck­li­chen Kriegs­jah­re er­hol­te.«

      Dann stock­te er wie­der, er wuss­te nicht, wie er nun das Fol­gen­de schil­dern soll­te, sei­ne Ein­schif­fung, die Rei­se, sei­ne ers­ten Ein­drücke … Nach­dem er zehn Mi­nu­ten ge­grü­belt hat­te, be­schloss er, die­sen ein­lei­ten­den Teil auf den nächs­ten Mor­gen zu ver­schie­ben und einst­wei­len mit der Be­schrei­bung von Al­gier zu be­gin­nen.

      Und er schrieb auf sein Pa­pier:

      »Al­gier ist eine ganz wei­ße Stadt…«, da blieb er wie­der ste­cken. Er sah in Ge­dan­ken die hüb­sche, hel­le Stadt vor sich, die sich von der Höhe des Ge­bir­ges bis zum Meer hin­un­ter­zog, wie eine Kas­ka­de von nied­ri­gen Häu­sern mit fla­chen Dä­chern. Aber er fand kei­nen Aus­druck für das, was er ge­se­hen und emp­fun­den hat­te.

      Mit vie­ler Mühe und An­stren­gung schrieb er wei­ter: »Sie ist zum Teil von Ara­bern be­wohnt…« Dann warf er sei­ne Fe­der auf den Tisch und stand auf. Auf sei­nem schma­len, ei­ser­nen Bett, in das sein Kör­per ein Loch ein­ge­drückt hat­te, sah er sei­ne Werk­tags­klei­der her­um­lie­gen, schä­big, ab­ge­ris­sen,

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