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wenn dir was passiert, das würde ich mir nie verzeihen.«

      »Aber mich monatelang allein lassen, das kannst du?«

      »Was soll passieren? Außer, dass du jemand anderen kennenlernst, in dieser unüberschaubaren ’Metropole Angadoor’?«

      »Und wenn ich trotzdem jemand anderen kennenlernen würde? Vielleicht aus einem anderen Dorf? Oder einen wandernden Handwerksburschen?«

      Munuel überhörte die Warnzeichen in ihrer Stimme, als er sagte:

      »Dann wäre das ebenso, daran kann ich kaum etwas ändern, oder?

      »Doch. Könntest du«, sagte sie leise.

      ooOoo

      Munuel stieg zum Flussufer hinab und suchte Lohtsé um seine erste Lektion zu beginnen. Seine Gedanken konzentrierten sich auf das Gespräch mit Islin, und er wusste, dass es töricht gewesen wäre, mit einem so abgelenkten Geist Magie zu wirken. Dennoch konnte er aufhören, an sie zu denken. Es war jetzt klar, was sie wollte. Ganz einfach. Die Nebenflüsse flossen neben ihm durch die Wiese, unaufhörlich, immer auf der Suche nach der Vereinigung mit der Iser, um ihr Schicksal zu erfüllen. Er beneidete sie um diese Einfachheit. Lohtsé würde ihm sicherlich helfen, Klarheit zu gewinnen.

      Munuel näherte sich dem Felsen des alten Magiers, der zu seinem behelfsmäßigen Zuhause geworden war, und fand ihn leer vor. Einige Meter unterhalb des sanften Hügels lag Lohtsé mit dem Gesicht nach unten im Sand, still und leise.

      "Lohtsé!" rief Munuel, als er an die Seite des Mannes eilte. Er drehte ihn um und sah das schwache Leuchten der Linien, die über seinen Körper zogen. Sein Atem war langsam und schmerzhaft, und seine Augen kämpften darum, offen zu bleiben.

      "Junge, du bist gekommen", hustete er, und die Magie flackerte in einem dumpfen Schein auf. "Zu spät, zu spät."

      "Warten Sie, ich kann den Medicus holen, sicher hat Limlora einen im Gefolge. Ich bin gleich wieder da", sagte Munuel und wollte aufstehen.

      "Nein", antwortete Lohtsé mit einer Kraft, die seiner Erscheinung trotzte. "Keine Zeit", sagte er. Hier, komm her." Munuel beugte sich vor und zog Lohtsé in eine sitzende Position, wobei er seinen Rücken abstützte, aus Angst, er könnte wieder fallen.

      "Sag mir, was ich tun soll", flehte Munuel. Lohtsé grinste und zuckte zusammen.

      "Die Wolkeninseln", sagte er, hob einen knorrigen Finger und deutete über die Wasser der Iser. Dann deutete er mit dem Finger auf Munuels Brust. "Nimm … Buch", hustete er. "Lerne." Die Magie begann, schneller am Körper entlang zu pulsieren. "Besiege Crus…", hustete er wieder. Er zeigte wieder auf ihn. "Schicksal."

      "Lohtsé, du kannst noch nicht gehen. Ich bin noch nicht so weit."

      "Es … tut mir leid, mein Junge. Es tut mir leid."

      Er hustete tief und die magischen Linien pulsierten mit solcher Geschwindigkeit, dass Munuel es nicht ertragen konnte, sie anzuschauen. Die Intensität nahm zu, und Lohtsé packte Munuels Schulter mit der Kraft einer Drachenkralle.

      "Geh", flüsterte er.

      Die magischen Linien brachen in einer Quelle aus Licht hervor, sein Griff wurde noch fester. Munuel dachte, der alte Mann könnte seinen Arm zerquetschen. Munuel fühlte ein scharfes Brennen in seinem Arm, schon wollte er sich gewaltsam losreißen, da wichen Licht und Griff zurück, und Lohtsé wurde in Munuels Armen schlaff. Die Linien waren verschwunden, und sein Husten brach ab. Das Wasser leuchtete hell am Ufer der Iser, als der Sonnenaufgang den Hang erklomm. Das Licht floss neben den Männern und wanderte durch den mächtigen Fluss zum Meer, ahnungslos und gefühllos.

      Die Zeit verging, und Munuel hielt den Mann weiter fest und blickte auf das Wasser neben ihnen. Die Augen des alten Magiers hatten ihren Glanz verloren und starrten stumpf über den Fluss hinaus, seine Seele ein Nebenfluss der Iser. Lohtsé war tot.

      Munuel legte ihn sanft hin, verschränkte ihm die Arme und schloss ihm die Augen. Seltsamerweise fühlte er Trauer. Er trauerte um einen Mann, den er kaum gekannt hatte. Er fühlte in sich hinein und wusste, dass es kein egoistisches Empfinden einer verlorenen Gelegenheit war, sondern ein echtes Gefühl des Verlusts, das ihn zutiefst verwirrte. Seine Schulter schmerzte und er hörte leise Worte hinter sich.

      "So geht der große Lohtsé", sagte Gelmard mit Respekt.

      Er näherte sich langsam, kniete nieder und legte eine Hand auf die Arme des Mannes. Munuel hörte Gelmard flüstern und wunderte sich darüber. Der ältere Magier stand auf und wandte sich an Munuel. "Es liegt an Dir, seine Lehren auf eigene Faust zu erforschen. Es ist ein Geschenk, mein Junge."

      Munuel fragte sich, ob Gelmard von den Büchern wusste. "Ehre ihn und dich selbst, indem du deine Energie darauf verwendest."

      »Das werde ich tun, Onkel«, erwiderte Munuel. »Hilfst du mir bitte?«

      Gemeinsam trugen sie den Toten ins Dorf. Schnell bildete sich eine Prozession von Begleitern, die ihnen folgten. Einer brachte von irgendwoher eine Karre, auf den sie den Leichnam betten konnten. Damit zogen sie weiter zum Leichenplatz des Dorfes. Hier bahrte Munuel ihn auf eine Feuerstelle, die nun mit Holzscheiten aufgefüllt wurden. Die Dorfpriesterin erschien in Begleitung der Bürgermeisterfamilie. Als Munuel dann Islins Hand in seiner fühlte, sah er sie dankbar an. Sie lächelte. Dann wandte er sich an die Dorfgemeinde.

      »Ich danke euch«, begann er, »dass ihr gekommen seid, um einem völlig Fremden das letzte Geleit zu geben. Ihr fragt euch alle bestimmt schon, wer er war, habe ich recht?«

      Zustimmendes Gemurmel von allen Seiten. Bernuel, der Schmied, war sogar so keck, und rief: »Ja, genau! Wer war der alte Zausel eigentlich?« Dafür erntete er einen missbilligenden Blick von seiner Frau.

      Munuel lächelte traurig. »Ich kann eure Neugierde verstehen. Ich sage euch, wer er war: Er war der große Lohtsé von Hegmafor.«

      Munuel blickte in unbeeindruckte Gesichter. Er seufzte. Natürlich, von diesen kreuzbraven Dorfgesellen wusste keiner, wer das war. Sie wussten wahrscheinlich nicht mal etwas mit Hegmafor anzufangen.

      »Ich weiß«, fuhr er fort. »Das sagt euch wenig. Also formuliere ich es mal anders. Dieser Mann war einer der größten Magier, die jemals über akranischen Boden wandelten. Und glaubt mir, das ist keine Übertreibung.«

      »Dann sollten wir ihn sehr gründlich verbrennen!«, rief irgendwer aus den hinteren Reihen. »Damit uns sein Geist nicht heimsuchen kann!«

      Die Menge murmelte zustimmend.

      »Geister zu bannen, ist Aufgabe der Priesterin«, erwiderte Munuel ungerührt. »Soll sie jetzt ihre rituelle Ansprache halten.« Amerilde, die Dorfpriesterin trat vor und hob die Arme.

      »Bei den Kräften … », begann sie. In diesem Moment intonierte Munuel einen Feuerzauber, der den Holzstapel in Brand setzte. Und weil es ein magisches Feuer war, schossen die Flammen meterhoch empor. Die Anwesenden machten einen respektvollen Schritt rückwärts. Die Worte der Priesterin gingen im Knistern der Holzscheite unter.

      Munuel wartete, bis das Feuer gänzlich heruntergebrannt war. Und weil das nicht reichte, um die Leiche vollständig zu verbrennen, entfachte er noch ein zweites und ein drittes Feuer. Die Menge hatte sich längst zerstreut, nur noch Islin verharrte mit ihm auf dem Platz. Ein seltsamer Nebel hatte sich um den Totenplatz gebildet, der ölig über den Boden kroch. Munuel blickte kurz in die Baumkronen und sprach: »Ruhe in Frieden«.

      »Ruhe in Frieden«, murmelte Islin.

      Dann lenkten sie ihre Schritte zurück ins Dorf. Als sie am unteren Ende des Pfades angekommen waren, verabschiedete sich Islin von Munuel – sie müsse nach den Tieren sehen. Als Munuel dann wieder in seinem kleinen Häuschen war, konnte er sich endlich seiner schmerzenden Schulter zuwenden. Als er das Hemd auszog hätte er eine Druckstelle erwartet, dort, wo des Magiers knorrige Hand ihn gepackt hatte. Stattdessen erblickte er dort ein Mal – fast so tief wie eine Tätowierung. Er glaubte, drei Finger zu erkennen, aber es ähnelte mehr einer Art Rune, ein Zeichen stygischer Magiekunst, dessen Bedeutung ihm fremd war. Er würde Gelmard danach fragen

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