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Hand das Besucherzimmer lag.

      Hans war irgendwie flau im Magen. Er musste immerfort an Ingrid denken und an das furchtbare Schicksal, das keine Macht der Welt von ihr abwenden konnte. Der kalte Schweiß brach ihm aus. Er spürte, dass seine Hände zitterten und war froh, heute nicht operieren zu müssen.

      Er hatte einen glatten klaren Schnitt machen wollen, um sich von ihr zu trennen. Aber jetzt konnte er es nicht mehr tun. Es wäre in seinen Augen die größte Gemeinheit gewesen, sie nun im Stich zu lassen. Er kam sich schuldig vor und war jetzt fest entschlossen, zu ihr zu halten ... bis zuletzt.

      Die Unterhaltung mit Dr. Gstaad diente der Vorbereitung einer größeren Konferenz, an der die Assistenten Dr. Gstaads, aber auch die Mitarbeiter von Dr. Berring teilnehmen sollten. Obgleich es sehr wichtig war, was es zu besprechen gab, wirkte Dr. Berring zerfahren, unkonzentriert, ja manchmal direkt geistesabwesend. Dr. Gstaad hatte das längst bemerkt. Als er einmal eine Frage stellte und darauf keine Antwort bekam, blickte er Dr. Berring besorgt an und fragte über den Tisch hinweg: „Sagen Sie mal, Herr Berring, ist Ihnen irgendetwas? Sind Sie krank?“

      Hans schrak wie aus den tiefsten Gedanken auf, blickte Dr. Gstaad verwirrt an und meinte: „Wieso? Was soll sein?“

      „Ich hatte Sie eben gefragt, mit wie vielen Personen diese ersten Versuche durchgeführt werden können. Aber Sie haben mir keine Antwort gegeben.“ Hans lächelte verlegen. „Entschuldigen Sie bitte! Ich war wirklich etwas abgelenkt.“

      „Sollten wir diese Besprechung unterbrechen?“, fragte Dr. Gstaad.

      „Nein, nein“, erwiderte Hans. „Ich werde mich zusammennehmen.“

      „Haben Sie irgendein Problem familiärer Natur?“

      Hans nickte. „Meine Frau ist operiert worden. Sieht nicht besonders gut aus.“

      „Krebs?“, fragte Dr. Gstaad.

      Hans nickte. Dr. Gstaad ballte die Hände zu Fäusten, dass die Knöchel weiß wurden. „Das ist wirklich eine Geißel der Menschheit“, sagte er. „Wenn Sie wollen, machen wir am Nachmittag weiter. Möchten Sie zu Ihrer Frau gehen?“

      „Nein, nein, wir können das Wesentliche noch besprechen. Es genügt, wenn ich in einer halben Stunde zu ihr gehe.“ Aber die Besprechung dauerte keine Viertelstunde mehr. Dr. Gstaad nahm Rücksicht auf Hans, und so trennten sie sich mit dem festen Vorhaben, sich am Nachmittag wiederzusehen.

      Hans tat einen schweren Gang. Er wusste mittlerweile, dass die Röntgenaufnahmen, die von Ingrids Leber und Lunge gemacht worden waren, Metastasen gezeigt hatten. Und obgleich der Gebärmutterkrebs sehr spät Tochtergeschwülste bildet, war es hier schon der Fall. Mochten chemotherapeutische Mittel und die Kobaltbestrahlung das Wachstum der Karzinome aufhalten, völlig verhindern konnten sie es nicht. Wenn alles gutging, hatte Ingrid noch ein halbes Jahr. Aber selbst das war eine äußerst optimistische Prognose.

      Als er dann an ihrem Bett saß, sie ansah und ihre Hand hielt, da musste er lächeln, musste so tun, als wäre gar nichts. Und sie lachte auch. Sie empfand keine Schmerzen und wusste nicht einmal, dass sie dies den schmerzstillenden Medikamenten verdankte, die man ihr injiziert hatte. Sie wusste nicht, was eigentlich bei der Operation gemacht worden war. Aber sie wollte es wissen.

      „Hat man mir ... hat man mir etwa die Gebärmutter entfernt?“

      „O nein, so schlimm war es noch nicht. Eine Kleinigkeit nur, ein Polyp. Man hat ihn weggenommen, mehr nicht.“

      „Aber das hätte man doch auch machen können, ohne mir den Bauch aufzuschneiden“, erklärte sie.

      „Dazu war er schon wieder zu groß“, behauptete Hans ganz einfach. Er hatte das mit Dr. Timmel abgesprochen. Diese Ausrede, von der sie beide wussten, dass es eine fromme Lüge war.

      Sie lag in ihrem Bett wie Schneewittchen, von der sie sich nur durch ihr kupferrotes Haar unterschied. Aber sie war so schön und auch so blass wie die Heldin jenes alten Märchens.

      Es ist mir unvorstellbar, dass sie sterben muss. Bei so vielen habe ich das schon gedacht. Aber es ist mir nie bis ins Herz gegangen. Keiner meiner Patienten, jung oder alt, von dem ich wusste, dass er bald sterben müsste, war mir so nahe wie Ingrid.

      Sie ist mir so nahe nicht, dachte er. Im Grunde trennen uns Welten. Aber sie ist meine Frau. Sie ist meine Frau, bis dass der Tod uns scheidet. Er wird uns bald scheiden, dachte er. Aber ich darf es mir nicht anmerken lassen.

      „Wann kann ich hier wieder raus?“, fragte Ingrid. Noch klang ihre Stimme fest. Trotz der Blässe wirkte sie kräftig. Aber er wusste ja, wie es weiterging. Noch war sie schlank, sah sie gut aus, hatte sie volles, lockiges Haar.

      Er hätte aufstehen und weglaufen können, als er daran dachte, wie sich das alles bald ändern würde. Von den Kobaltstrahlen würde sie aufgedunsen wirken. Infolge der Chemotherapie kam es zu Haarausfall, zu Schleimhautschädigungen und vielen anderen Nebenerscheinungen wie Appetitlosigkeit und Durchfall. Trotzdem musste man alles versuchen, wollte man kein Mittel scheuen, um ihr Leben zu verlängern.

      Er war noch nie ein guter Schauspieler gewesen, zumal Ingrid trotz aller Unterschiede, die sie beide trennten, ihn doch lange genug und gut genug kannte, um zu wissen, dass die Fröhlichkeit, die er ihr vorzeigte, gespielt war. Er ging auf das Fenster zu und sagte: „Ich nehme an, dass du in drei Wochen hier herauskannst, vielleicht sogar früher.“

      „So lange?“, fragte sie zweifelnd.

      „Nun ja, ich sage ja, es kann auch früher sein. Ich bin kein Gynäkologe. Das macht ja alles Timmel. Ich kann ihm nicht reinreden. Jedenfalls habe ich mich fest entschlossen, mit dir in Urlaub zu fahren. Ende September ist es besonders in Norditalien schön. Wir können auch nach Portugal fliegen. Was hältst du davon?“

      „Oh, ich hätte daran schon Spaß“, meinte sie fröhlich. Aber dann, als er sich umdrehte und zum Fenster hinaus sah, wurde auch sie sehr ernst. Misstrauisch beobachtete sie ihn. Sie hatte längst Verdacht geschöpft. Aber sie ging auf das Spiel, das er ihr vormachte, ein, tat so, als ahne sie nichts. Und so spielten sie beide ihre Rolle, setzten, wenn sie sich anblickten, ihre Masken auf, und jeder machte dem anderen etwas vor. Doch als er ging, als er sich mit einem zärtlichen Kuss auf die Stirn von ihr verabschiedete wie von einem Kind, da blickte sie ihm nach, und ihre Augen füllten sich mit Tränen. Sie weinte nicht um sich. Sie weinte um die verlorene Zeit, um die Jahre an seiner Seite, da sie nie den Versuch gemacht hatte, ihn zu verstehen, aber auch darum, dass er ihr nie nähergekommen war. Im Grunde, dachte sie, als er die Tür hinter sich schloss, sind wir uns fremd geblieben all die Jahre. Wir haben nebeneinanderher gelebt. So richtig verstehen werde ich ihn wohl nicht mehr. Aber ich möchte ihm näherkommen. Ich hätte mich viel mehr für ihn interessieren müssen. Irgendetwas hat uns immer getrennt. Ich war viel zu oberflächlich. Vielleicht kommt es daher. Er macht mir etwas vor. Er belügt mich. Er heuchelt Fröhlichkeit, und es hängt mit meiner Krankheit zusammen. Es ist niemals im Leben ein harmloser Polyp gewesen. Sie bestrahlen mich. Und er denkt, ich bin so naiv, dass ich nicht begreife, warum sie das tun. Ich bin doch noch so jung, dachte sie. Warum muss ich sterben? Warum nur?

      12

      Heidi saß im Wohnzimmer und notierte etwas, als Dieter kam. Doch er ging vom Flur direkt ins Schlafzimmer. Sie hörte, dass er den Schrank aufschloss, um wohl seine Anzugjacke hineinzuhängen, wie er es immer tat. Nach

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