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mit jedem Millimeter stärker, den die Erde unter der weißen Decke verschwindet. Der Anblick bringt eine vage Erinnerung zurück. Es ist mehr ein Gefühl. Das Gefühl, nicht zu Ende gedacht zu haben. Ich beiße auf meinem Fingerknöchel herum, während ich zu ergründen versuche, was zum Teufel ich übersehen habe.

      Gut, also: Schneeflocken, Schneedecke, Waldboden … Es begann zu schneien, als ich Kay vor 2 Jahren verließ. Kurz darauf fiel mein Marker plötzlich aus. Richtig, damals konnte ich mir nicht erklären, warum. Jetzt weiß ich, der Reif an meinem Oberarm war schuld daran. Denn in dem Moment, da ich mich hierherportierte, um den Bären zu töten, setzte der Störsender den Marker meines jüngeren Ichs außer Kraft. Zumindest solange ich in ihrer Nähe war.

      Ich blicke zu dem toten Tier. Die Schneeflocken färben sich rot, wo sie auf Blut treffen. Es kann also nicht lange her sein, dass die jüngste Version meines Selbst gegangen ist. Das Blut am Bärenschädel ist noch frisch.

      Mein Gott! Sie muss sich noch im Umkreis von etwa 100 Metern befinden! Deswegen stand auf meinem Marker damals nach wie vor Technischer Ausfall.

      Nicht weil die Wirkung des Störsenders eine Zeit lang anhielt, nachdem ich den Tomahawk nach dem Bären geschleudert hatte und wieder zurück zu Kay in die Hütte gesprungen war, sondern weil ich kurz darauf erneut hier aufgetaucht bin. Nämlich genau jetzt.

      Linear gesehen müsste meine 17-jährige Version in wenigen Sekunden die Reichweite des Störsenders erreicht haben und dann wird man ihr Schmerzen zufügen. Rasende Schmerzen, die sich anfühlen, als würde ihr Kopf in Flammen aufgehen.

      Damit wollten diese Mistkerle aus der Zukunft mich zwingen, ihnen zu verraten, wieso mein Marker ausgefallen war. Richtig! Jetzt erinnere ich mich an die Worte, die damals über den Marker meiner linken Hand liefen: Welche Kenntnis haben Sie über die technische Manipulation?

      Sie wussten, ahnten zumindest, dass es sich nicht um einen Ausfall, sondern um eine Manipulation handelte, besser handelt, denn es geschieht jetzt. Wahrscheinlich in diesem Moment! Die Gedanken rasen förmlich durch meinen Kopf, versuchen, die Zusammenhänge logisch zu erfassen, spinnen alle möglichen Szenarien, stoßen auf Paradoxe, kehren zurück, schlagen neue Wege ein, überkreuzen sich, stoßen auf Mögliches, Unmögliches, Wahrscheinliches, getrieben von der Angst, jede Sekunde fliehen zu müssen und Kay nicht mit mir ziehen zu können. Werden die Ports doch plötzlich hier einfallen? Falls sie das vorhaben, wieso sind sie dann nicht schon hier? Oder waren sie bereits hier? Der Stiefelabdruck! Mein Kopf schnellt zu Kays Füßen. Er trägt feste Schuhe. Hatte er die schon immer? Ich erinnere mich nicht.

      Plötzlich meine ich, brechende Äste zu hören. Ich lausche angespannt, aber das Blut pumpt so wild durch meine Adern, dass das Dröhnen jeden anderen Laut übertönt. Vielleicht bin ich inzwischen paranoid oder nur übervorsichtig oder total übergeschnappt, aber ich werde nicht hierbleiben, um es herauszufinden. Es muss mir gelingen, Kay mit mir zu ziehen. Es muss!

      Noch immer umfasst meine Hand seine. Ich prüfe, ob unsere Marker genau aufeinanderliegen, womöglich spielt das eine Rolle. Dann schließe ich die Augen. In diesem Augenblick knackt es irgendwo und ein eiskalter Schauer überzieht meinen Rücken. Verworrene Bilder rasen durch meinen Kopf. Mein Elternhaus, Jeremy, der Strand, die Stylistin Ivana Jass, die Apfelplantage, mein erster Schultag … Kein Detail ist intensiv genug, um uns zu tragen. Verdammt!

      Von irgendwo dringt ein markerschütternder Schrei zu mir, fast unmenschlich, der das Blut in meinen Adern gefrieren lässt. Er klingt grauenvoll. Unwillkürlich öffne ich die Augen und starre in die Richtung, aus der der Laut kam. Wieder ein lang gezogener, gequälter Schrei! Ich versteife mich, denn ich weiß, wer da schreit, und vor allen Dingen, wieso. Es ist mein 17-jähriges Ich, das die Reichweite meines Störsenders nun überschritten haben muss und jetzt über ihren Marker gefoltert wird.

      Die Schreie brechen ab, branden wieder auf und werden immer leiser, je weiter sie sich von mir entfernt.

      Bedeutet das, die Ports werden jeden Moment hier sein?

      Hinter mir spüre ich die schützende Felswand, vor mir jedoch sehe ich durch das immer dichtere Schneegestöber nichts als undefinierbare dunkle Schatten.

      Noch immer verharre ich reglos, meine Sinne aufs Äußerste geschärft, aber mein Gehirn scheint ausgeschaltet. Keine Bilder, keine rettenden Details, nur von Angst getriebene Wachsamkeit, und doch bin ich unfähig, mein Messer aus der Schlinge zu ziehen.

      Meine Hand umkrampft Kays so stark, dass es wehtut. Doch er reagiert nicht einmal darauf. Egal. Ich darf nicht aufgeben.

      Gerade als ich wieder die Augen schließen will, kommt ohne Vorzeichen heftiger Wind auf. Der Schnee wird zu harschem Graupel, der über mein Gesicht gepeitscht wird.

      Das sind sie! Sie steuern das Wetter. Sie wissen, dass ich hier bin! Bestimmt sind die ersten Ports schon hier, höchstens 100 Meter entfernt, die maximale Reichweite des Störsenders, und das dichte Schneegestöber soll ihre Körper verschleiern, das Pfeifen und Rauschen des Windes ihre Schritte übertönen. Gleich werden sie aus dem Wald stürmen. Selbst durch das Tosen des Windes meine ich, wieder Äste knacken zu hören. Kein Tier verursacht dieses Geräusch, sondern Menschen, die kein Busch, kein tief hängender Ast aufhalten kann.

      Vor lauter Angst, die Ports nicht kommen zu sehen, traue ich mich nicht mehr, die Augen zu schließen. Ein erbärmlicher Hilferuf kriecht aus meiner Kehle. »Hilfe. Hilfe. Hilfe …«

      Noch nie hatte ich solch furchtbare, lähmende Angst. Nicht auf dem Schlachtfeld zwischen den unzähligen Ports, nicht als ich Kay sterben sah, nicht einmal, als sie mich das erste Mal in die Zukunft entführten. Und ich kenne den Grund für diese Angst: Ich bin mir sicher, schon verloren zu haben, weil es kein Glück für Kay und mich geben kann. Weil nichts von dem, was ich bisher getan habe, gut endete.

      Niemals.

      Ich hefte meinen Blick auf Kays regloses Gesicht und kann nur noch daran denken, dass unsere Zukunft nur wenige Minuten gedauert hat, von denen er nicht eine miterlebt hat. Wenn es gleich vorbei ist, wird er noch nicht einmal wissen, dass ich hier war, dass es mir endlich gelungen ist, zu ihm zu kommen.

      Plötzlich spüre ich, wie Kay meinen Händedruck erwidert. Seine Lider zucken. Er wacht auf.

      Er wacht auf! Ein Ruck geht durch meinen Körper.

      Bist du wahnsinnig?, schreie ich mich in Gedanken an. Nach allem, was du durchgemacht hast, kampflos aufzugeben? Alison! Konzentriere dich! Los, such dir ein anderes Bild. Dein Zuhause meinetwegen. Etwas, das stark genug ist, euch beide zu tragen! Hauptsache weg. Gleich werden sie hier sein!

      Mein Bedürfnis nach Sicherheit ist übermächtig und vor meinem geistigen Auge tauchen unwillkürlich Erinnerungen voller Geborgenheit auf: Dad in seinem Schuppen, der Geruch von Sägemehl, das Geräusch eines Hobels, die Wärme des Sommers, zwitschernde Vögel, der Apfelbaum vor meinem Zimmer.

      Ich gebe mich dem Sog hin und umklammere Kays Hand noch fester. Nichts darf uns trennen.

      Nichts!

      Und endlich … Ein Kribbeln durchläuft meinen Körper, von meiner Markerhand in den Nacken, über den Rücken bis zu den Zehenspitzen. Ich meine, Rufe durch den Sturm hindurch zu hören, wage aber nicht, die Augen zu öffnen, damit die Bilder nicht zerfallen. Und als mich der Sog endlich davonträgt, fühlt es sich unendlich kräftezehrend an. Meine Muskeln brennen und Schweiß bricht aus meinen Poren. Ich kann nur beten, dass diese Anstrengung bedeutet, ich habe Kays Körper mit mir gezogen.

       4.

      Irgendwann im Sommer, zu Hause

      Der Sog scheint mich endlos in die Tiefe zu ziehen. Als drücke mich ein Strudel immer weiter nach unten. Ich spüre meinen Körper nicht mehr. Auch Kays Hand nicht! Nie zuvor hat es so lange gedauert, die Zeit zu wechseln, und das erste Mal nehme ich bewusst wahr, wie ich körperlos zu sein scheine und trotzdem eine enorme physische Anstrengung verspüre.

      Doch dann lässt der Druck nach, der Wirbelstrom wird langsamer und ich spüre meine Glieder wieder und … Kays Hand.

      Er ist bei mir!

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