Скачать книгу

      In diesem Moment löst sich eine Gruppe Ports voneinander, ich entdecke Kay und die Bilder zerfallen. Sein Kopf ist von mir abgewendet, der Speer steckt schräg in seiner Brust, wenige Meter weiter bricht eine Alison zusammen, gleich darauf eine zweite. Die Schreie werden weniger, das Echo verhallt. Oh Gott! Gleich ist es so weit!

      Ich sprinte los, rase zwischen zwei Ports hindurch und bin bei Kay. Es bleibt keine Zeit, ihn anzusprechen, aber ich weiß, dass er mich wahrnimmt. Er erinnert sich an diesen Moment.

      »Hey, ihr Arschlöch–«, höre ich meine Stimme von weit her und auf einmal ist es ganz still. Selbst das Trampeln der Stiefel hat aufgehört. Die Ports stehen einen Moment wie versteinert auf der Stelle. Ich reiße meinen Arm hoch, schreie: »Neeeiiiin!«

      Ihre Köpfe wenden sich alle im selben Augenblick zu mir, als wären sie geistig miteinander verbunden. Irre! Wahrscheinlich sind sie das sogar, über ihren Marker. Der Gedanke erschreckt mich, aber jetzt ist nicht der Zeitpunkt, um darüber nachzugrübeln, was das für mich bedeutet. Ich darf nur an meinen Plan denken.

      Ohne Hast steuern die Männer auf mich zu. Sie wissen, wie sehr sie mir überlegen sind. Ich gehe in die Knie, um Kays Wange zu berühren. Er ist furchtbar blass. Wahrscheinlich wegen des vielen Blutes, das er verloren hat. Kay bewegt sich nicht, aber seine Lider flattern. Mein Gott! Was habe ich nur vor? Ein dicker Klumpen ballt sich in meinem Magen, wo eben nichts als Leere war. Meinetwegen wird Kay 2 Jahre leiden, so sehr, dass er irgendwann nur noch den Wunsch haben wird zu vergessen, dass es mich je gab. Und das nur, weil ich ihn glauben lasse, ich sei tot. Der Klumpen wiegt schwer wie ein Felsbrocken, der mich niederzwingt.

      »Verzeih mir«, flüstere ich und balle meine Hand zur Faust, als könnte ich den Felsbrocken damit zerquetschen. Ich wende meinen Blick von Kay ab, ziehe das Messer aus der Schlaufe meiner Hose und hole tief Luft.

      »Er stirbt! Er stirbt!« Ich kreische, meine Stimme überschlägt sich und hört sich unecht in meinen Ohren an. Wie aus einer billigen Seifenoper. »Ich kann das nicht mehr …« Ich wimmere. Zu leise. »Ich kann das nicht mehr!«, schreie ich und springe auf.

      Die Ports haben eine Wand gebildet. Ach was, vier Wände, die sich dunkel und drohend von allen Seiten immer näher schieben. Noch 20, vielleicht 30 Schritte sind sie entfernt und keiner von ihnen reagiert auf mein Schauspiel.

      Verdammt! Es wird nicht gelingen. Es interessiert sie nicht einmal. Doch es ist zu spät, meinen Plan zu ändern. Ich sehe einem von ihnen fest in die Augen. Er erwidert meinen Blick ohne Emotion und geht einfach weiter.

      »Ich kann das nicht mehr. Nicht ohne ihn!«, kreische ich und setze das Messer an.

      Kay krächzt etwas. Unwillkürlich sehe ich zu ihm. Blutblasen kommen statt Worten aus seinem Mund.

      Ich setze das Messer an meine Hand, strecke sie den Ports theatralisch entgegen und steche durch das Fleisch in die mit Blut gefüllte Blase. Nur wenig dunkelrote Flüssigkeit sickert hervor.

      Das Blut ist gestockt. Scheiße, verdammt!

      Die Männer sind jetzt so nah, dass ich nichts außer ihren schwarz gekleideten Körpern sehen kann.

      »Ihr kriegt mich nicht!«, schleudere ich ihnen entgegen.

      Keine Antwort, keine Emotion. Plötzlich ist mein Gehirn nur noch davon besetzt, wie lächerlich ich wirken muss. Meine Bewegungen werden fahrig, und als ich die Sehne durchtrenne, fallen der Fleischlappen und die Blase auf die Erde. So ein verfluchter Mist! Das war anders geplant. Das Stück Fleisch sollte nur blutend herabhängen, als hätte ich einen Teil meiner Hand fast abgetrennt.

      Ich starre auf das Requisit am Boden, dann wieder auf die Männer. Keiner der Ports verzieht eine Miene. Sie heben ihre Stäbe. Ich kann bereits ihren Schweiß riechen und lasse mich fallen.

      Viel zu spät. Noch bevor ich auf die Erde schlage, ist mir klar, dass mein Plan misslungen ist. Mein Schauspiel war erbärmlich. Niemand wird glauben, dass ich mir den Marker herausgeschnitten habe und mein toter Körper in seine Zeit zurückgekehrt ist.

      Niemand außer Kay.

       2.

      Sommer 1999, Nähe Mill Valley

      Meine Erinnerung trägt mich an meinen Zufluchtsort. Vielleicht bin ich in diesem Moment sicher, aber genauso sicher kann ich mir sein, die Ports erst recht auf mich aufmerksam gemacht zu haben. Falls sie wirklich systematisch alle Alisons ausschalten, die einen Marker tragen, habe ich mir mit meiner Aktion eben ein Leuchtschild umgehängt. Hallo, ich bin die richtige!, blinkt darauf. Obwohl, kann das überhaupt sein? Wieso ist Oscar derart überzeugt davon, dass ich die richtige bin, wenn es doch unzählige Alisons gibt?

      Ich blicke zum Strand und meine, jemanden gesehen zu haben. Aber die Gestalt ist schon wieder weg, bevor ich sie erfassen kann. Vielleicht war ich es. Vielleicht bin ich nicht zum letzten Mal hier.

      Plötzlich heult das Kind am Strand und bricht in Tränen aus. Wieso auch immer. Meine Mutter steht auf und geht mit schnellen Schritten hin.

      Eigenartig. Ich entsinne mich nicht daran. Ich zucke mit den Achseln. Wahrscheinlich weil es unbedeutend ist oder zu lange her oder … Vielleicht hat mich auch meine Verzweiflung, meine Hilflosigkeit zu diesem Moment getragen wie ein weiterer Parameter zu den Bildern meiner Erinnerung. Womöglich spürte ich als Kind ähnliche Gefühle, weil … weil … meine Sandburg nicht gelang, so wie jetzt mein Plan nicht aufging.

      Puh! Wie es aussieht, treffe ich nicht immer genau denselben Moment bei meinen Sprüngen, was gut ist, sonst würde ich unweigerlich auf noch mehr Versionen meiner Selbst stoßen und alles wäre noch komplizierter.

      Auf der anderen Seite könnte diese Ungenauigkeit ein Risiko bedeuten. Im Augenblick jedoch ist nichts davon wichtig. Ich wüsste sowieso nicht, wohin oder in welche Zeit ich springen sollte oder warum überhaupt.

      Einen Moment beobachte ich Mum dabei, wie sie das Kind hochnimmt. Mein Gott! Wie gelöst, wie jung sie aussieht. Nicht viel älter als ich. Ich kann sie kaum mit der Frau in Einklang bringen, deren Falten sich kummervoll verziehen, wenn sie sich wieder zur Nachtschicht schleppen muss. Und sosehr ich Mum vermisse, spüre ich jetzt, dass der Zauber dieses Ortes mit jedem meiner Besuche abnimmt. Wie bei einem Film, den man zu oft gesehen hat.

      Ich gehe auf den Strand zu, jedoch weg von meinen Eltern. Ich weiß nicht, ob sie mir nachsehen, was sie über die magere Frau mit den verfilzten Haaren in verdreckter Kleidung denken, ob sie mich überhaupt registrieren. Ich weiß nur, dass mein Leben ein Trümmerhaufen ist. Voller zerstörter Möglichkeiten.

      Meine Füße tragen mich ohne Ziel immer am Wasser entlang. Was habe ich nur getan? Ich habe alles nur noch schlimmer gemacht. Kay hat den Speer in seiner Brust zwar überlebt, jedoch nur, um wieder Teil der Show zu werden. Der 31. Staffel von Top The Realities, die an Perversität nicht zu überbieten ist. Anscheinend reichte es den Zuschauern nicht mehr, Menschen um ihre Existenz kämpfen zu sehen, für Kay geht es einzig ums nackte Überleben. Während ich in der warmen Sonne Kaliforniens über den Strand laufe, ist er irgendwo, irgendwann mit zig anderen Kandidaten zusammen, denen nur ein Ziel vorgegeben wurde: Töte deine Mitspieler!

      Kay wird gezwungen sein zu morden, um leben zu können. 2 Jahre wird diese Odyssee andauern und in jedem Moment davon ist er der Überzeugung, ich sei tot. Und warum? Weil ich ihn zum Teil meiner Inszenierung gemacht habe, die Ports glauben lassen wollte, ich könnte ohne Kay nicht weiterleben. Und jetzt liegt ein Stück Hasenfleisch auf dem Erdboden des 19. Jahrhunderts, über das sich irgendein Tier hermachen wird. Sie benötigen noch nicht mal eine DNA-Analyse, um zu wissen, dass es nicht meins ist. Ein Blick genügt, dann werden sie feststellen, dass kein Marker mit dem Fleischlappen verwebt ist. Alles umsonst.

      Der Strand wird immer schmaler. Felsen ziehen sich bis zum Wasser und steigen nach und nach zu einer Steilküste an. Ich gehe weiter, über die vom Meer überspülten Steine, immer weiter bergauf, nur weil ich nicht stehen bleiben will, weil das Gefühl des Stillstands unerträglich wäre. Nichts tun zu können, ist fast so schrecklich, wie zu wissen, das Falsche getan zu haben. Vielleicht bin ich freier als jedes andere Individuum

Скачать книгу