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greife ich nach den Wurzeln nur noch vereinzelt wachsender Büsche, um mich hochzuziehen, spüre den scharfkantigen Fels unter meinen Knien. Schweiß rinnt zwischen meinen Brüsten hindurch. Der raue Stoff der Kleidung, die ich seit Wochen trage, kratzt unangenehm und meine Haut fühlt sich wund an. Die Wahrheit ist: Ich bin so weit entfernt von einem freien Leben, wie ich es nur sein kann.

      Als ich die höchste Stelle der Felsen erreicht habe, setze ich mich auf die Kante und blicke auf das Wasser. Der Himmel über mir ist wolkenlos und von einem derart intensiven Blau, dass er ohne Horizont mit dem Meer verschmilzt. Nur die glitzernde Wasseroberfläche verrät die Grenze zwischen Himmel und Ozean. Links von mir liegt eine Bucht, ein kleines Boot ankert davor, darüber kreisen Möwen, seichter Wind streift meine Haut.

      Ich hasse es! Ich hasse Top The Realities! Ich hasse Wum Randy, der für mich die Verkörperung des Bösen ist, auch wenn ich weiß, dass Sam Oscar mindestens genauso viel Schuld an meinem Unglück trägt. Er hat dieser Show zugestimmt, um die Auswirkungen der Zeitreisen durch Kay und mich erproben zu lassen. Wir sind nicht mehr und nicht weniger als seine Versuchskaninchen.

      Voller Bitterkeit verziehe ich den Mund. Plötzlich laufen Tränen über mein Gesicht. Ich lasse sie laufen. Wer sollte sie auch sehen? Ich weine und weine und weine. Mit jedem Tropfen weicht mein Hass, bis nur noch Hilflosigkeit bleibt. Was nur soll ich jetzt tun? Zu meiner Familie zurückkehren? Zu Kay? Dass er nur einen Wimpernschlag von mir entfernt ist, ich lediglich an den Moment denken müsste, da ich ihn im Wald des Jahres 1852 zurückgelassen habe, macht alles noch schwerer.

      Doch spätestens jetzt, nachdem mein grandioser Plan gescheitert ist, gebe ich Sam Oscar recht: Die Ports werden auf mich warten. Bei mir zu Hause, überall dort, wo ich Kay finden könnte. Erst recht dort, wo unsere gemeinsame Vergangenheit endete und eine Zukunft möglich wäre. Und zwar als ich ihn betäubt zurückließ, um ihn zu retten. Dort hinzuspringen, wäre wirklich wie Selbstmord.

      Eine Zeit lang stiere ich auf den Ozean, dann werfe ich kleine Felsbröckchen ins Meer, wobei ich die Ringe beobachte, die immer größere Kreise ziehen. Kay hat sie einmal mit Zeitreisen verglichen: Die kleinste Änderung würde immer größere Auswirkungen nach sich ziehen, meinte er, je weiter in der Vergangenheit wir in die Geschichte eingreifen. Inzwischen weiß ich, dass er damit unrecht hatte.

      Ob meine jungen Eltern mich vorhin gesehen haben oder nicht, spielt keine Rolle. Falls sie mich bemerkt haben und sich ihr Leben dadurch verändert, ist das nur eine von unzähligen Varianten, die alle parallel zueinander existieren. Für mich ist es gleichgültig, ob ich die Zukunft durch mein Verhalten verändere. Sollte ich jemals nach Hause zurückkehren, wird die Schwierigkeit sein, das richtige Zuhause, die richtige Realität zu finden. Die Realität, die mit meinen Erinnerungen übereinstimmt. Die, in der keine zweite Alison existiert.

      Die Ringe verschmelzen mit den seichten Wellen des Ozeans und ich schiebe meine Gedanken zur Seite. Stattdessen versuche ich, eine Plastikflasche mit Steinen zu treffen, die sich in einem Strauch verfangen hat, und denke an Mum und Dad und Jeremy, an Zeiten, in denen alles in Ordnung war.

      Irgendwann tue ich gar nichts mehr, außer an Kay zu denken. Ich wäge alle Risiken gegen mögliche Chancen ab. Immer wieder. Und wieder. Und als die Sonne untergeht, ist mir klar, dass ich genau zwei Möglichkeiten habe.

      Erstens, ich kann mich verstecken, irgendwo in den Wäldern unterkriechen, immer wieder die Zeit und den Ort wechseln, weiterziehen, auf der Flucht sein.

      Ich merke, dass dieser Gedanke für mich nicht so erschreckend ist, wie ich es erwartet habe. Die letzten Jahre habe ich mich darauf vorbereitet. Aber wie lange kann ich so existieren? Wann werde ich eine Infektion bekommen, die sich nicht mit Johanniskraut oder sonst einer Pflanze heilen lässt? Werde ich in ein Krankenhaus gehen können? Würden die Ports es wissen, wenn meine Daten in irgendeinem System erfasst werden?

      Himmel! Ich besitze ja noch nicht einmal eine Identität. Keinerlei Papiere, die meine Existenz belegen. Es bliebe, in eine Zeit zurückzukehren, in der solche Formalitäten keine Rolle spielen, aber da kämen einzig die Jahre 1852 und 1853 infrage. Denn bisher kann ich nur zuverlässig an Orte und in Zeiten springen, die ich schon einmal besucht habe. Aber nichts zieht mich mehr in den Wilden Westen. Und trotzdem. Ein Leben in den Wäldern wäre die sicherste und unauffälligste Möglichkeit.

      Die Alternative dazu ist so unfassbar egoistisch und gefährlich, dass ich sie eigentlich nicht mal in Erwägung ziehen dürfte. Aber mein dummes Herz überschlägt sich geradezu bei dem Gedanken, Kay wiederzusehen. Und während sich der Himmel in kitschigem Rosarot färbt, überlege ich, wie es gelingen könnte. Es müsste der Moment sein, da Kay betäubt neben dem Bären liegt, der ältesten Version von ihm. Sollte ich gleich beim ersten Versuch den richtigen Augenblick treffen, könnte ich Kays Hand nehmen und ihn mit mir in eine andere Zeit reißen, so wie Sam Oscar es mit mir getan hat, als er mir die Zukunft zeigte.

      Inzwischen ist es mir unbegreiflich, wie diese Zukunft möglich sein soll. Darüber nachzugrübeln, überfordert mich restlos. Ich habe seit mehreren Tagen nichts gegessen, und mich zu konzentrieren, fällt mir ohnehin verdammt schwer. Entbehrungen bin ich gewohnt, aber inzwischen scheint in meinem Gehirn nur noch Matsch zu sein. Ich brauche jedoch nicht viel Verstand, um zu wissen, wie gefährlich diese Alternative wäre. Kay zu sehen, bedeutet, von den Ports niedergeschlagen zu werden, wahrscheinlich, sehr wahrscheinlich, noch bevor ich Kays Hand greifen kann, denn anders als zuvor werden sie mein Erscheinen erwarten.

      Wieso nur kann ich nicht zu einem Augenblick zurückspringen, da ich mir sicher bin, dass niemand auf mich wartet, um mich zu töten? An den Anfang unserer Geschichte, den ersten Moment unserer Begegnung, oder nur ein paar Tage zurück, als Kay und ich in der Hütte am Feuer saßen und er mich eine Löwin nannte?

      Voller Bitterkeit zerrupfe ich eine einsame Blume, die eben noch gelb neben mir blühte, und zerreibe sie zwischen meinen Fingern zu Brei. Wenn es nur nicht unsere Vergangenheit beeinflussen würde … Kay könnte nicht mein Scout werden, ich nie seiner, wenn ich in die Geschichte vor unserer letzten Begegnung eingreifen würde. Es muss danach sein und das wissen die Drahtzieher der Zukunft. Sam Oscar hatte recht: Die Ports werden ab der Sekunde, da ich Kay neben dem toten Bären zurückließ, jeden Augenblick überwachen. Aber sollte es mir trotzdem gelingen, sollte ich wirklich schneller als die Ports sein und fähig, Kay mit mir zu reißen, könnten wir gemeinsam in der Wildnis leben, zumindest solange der Störsender funktioniert.

      Ich streiche mit der Fingerspitze über die glatte Oberfläche des silbernen Reifs. Bislang hat er mich vor den Unmenschen der Zukunft und ihren kranken Technologien abgeschirmt. Irgendwann wird der Sender womöglich kaputtgehen oder einfach ausfallen. Aber dann bräuchte ich mir ohnehin keine Gedanken mehr über eine Zukunft zu machen. Im selben Augenblick wären die Ports bei uns und sie könnten jedem unserer Sprünge folgen.

      Ich ziehe die Beine dicht an meinen Körper und seufze tief. Ich will die Entscheidung nicht mehr aufschieben. Mir fehlt einfach die Kraft, weiter im Ungewissen zu leben, ohne Ziel und voller Zweifel. Ich muss meine Wahl treffen: ein Leben allein oder Sterben zu zweit. Nicht im schlimmsten, sondern im wahrscheinlichsten Fall ist genau das die Alternative.

      Noch einmal blicke ich auf das Meer. Nur noch ein schmaler rosa Streifen ist am Horizont zu sehen. Gleich ist es dunkel und ich weiß nicht, ob das Mondlicht kraftvoll genug sein wird, mich sicher die Felsen hinunterzugeleiten, zurück in den Kiefernwald, zu dem Schotterparkplatz, über die Straße, zu dem entwurzelten Baum, unter dem ich die Nacht verbringen werde, bevor ich morgen früh mein neues Leben allein in der Wildnis beginne.

      Die Luft scheint mit jedem meiner Schritte kälter zu werden. Und obwohl ich glaube, mit dieser Entscheidung leben zu können, fühle ich mich unendlich einsam. So schrecklich, schrecklich allein. Unwillkürlich male ich mir aus, wie es sein könnte, wenn ich mich doch für die zweite Variante entscheide, nur um ein wenig Wärme im Herzen zu spüren.

      Ich sehe Kay betäubt auf dem Waldboden liegen, gleich neben ihm der tote Bär, dessen blutverschmierter Schädel vom Tomahawk gespalten ist.

      Noch über die Steine und dann bin ich wieder auf dem Strand.

      Kays weiches Haar. Es schimmert wie dunkle Bronze.

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