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nur noch warten.

      Damit mein Geruch die Tiere des Waldes nicht verschreckt, entferne ich mich von den Fallen und rolle mich in der Grube eines entwurzelten Baumes zusammen. Schon bald bricht die Dunkelheit herein. Zum Glück ist es trocken und die Erde warm.

      Jetzt, da ich nichts mehr zu tun habe, bin ich unendlich müde. Ich gähne laut. Jeder Zentimeter meines Körpers fühlt sich geschunden an. Egal. Mein Magen knurrt. Gleichgültig. Mein Geist ist so erschöpft, dass ich zu denken kaum noch in der Lage bin. Unwesentlich.

      Von irgendwoher ruft eine Eule in die Finsternis. Ein tröstlicher Laut. Ich schließe die Augen und hoffe auf eine erholsame Nacht.

      Plötzlich schrecke ich hoch, stoße mir den Kopf an der Wurzel. Erde löst sich, rieselt in meinen Nacken. Oh Mann. Ich habe irgendetwas furchtbar Wirres geträumt, es hatte mit Jeremy zu tun. Aber die Bilder verflüchtigen sich noch schneller als das Gefühl, dass er in Gefahr ist.

      Ich krieche unter der Wurzel hervor, schüttle die Erde aus meinen Haaren und blinzle. Noch ist es zu dunkel, um die Fallen zu kontrollieren. Die Vögel jedoch zwitschern schon. Vielleicht eine Stunde noch, dann wird die Sonne aufgehen. Bis dahin bin ich mit meinen Gedanken allein.

      Aber ich will nicht über Jeremy nachdenken, über dieses verdammt blöde Gefühl, das ich eben hatte. Es ist besser, wenn meine Gedanken klar und analytisch bleiben, wie bisher. Emotionen darf ich mir nicht erlauben. Noch nicht.

      Um irgendetwas Sinnvolles zu tun, beginne ich, meine Muskeln zu lockern, strecke mich weit zur Seite, dann nach vorn, bis ich das trockene Moos rieche, dehne alle Glieder, auch wenn ich schreien könnte vor Schmerz. Wahrscheinlich bin ich von blauen Flecken übersät.

      Die Zeit bis zum Sonnenaufgang zieht sich quälend langsam dahin, und je entschlossener ich versuche, nicht über Jeremy nachzudenken, desto mulmiger wird mir, und als die ersten Sonnenstrahlen durch die Blätter brechen, kommt mir mein Plan vollkommen idiotisch vor.

      Die Ports werden mir meinen Selbstmord nicht einfach so abnehmen. Sie werden nach einer Bestätigung suchen, vielleicht eine DNA-Probe von dem Blut vor Ort nehmen. Oder sie werden nach einem Leichnam suchen. Meinem Leichnam. Erst dann wird meine Familie in Sicherheit sein und auch Kay.

      Während ich zurück zu den Fallen gehe, bin ich beinahe überzeugt zu scheitern. Wenn die Ports mich bisher noch nicht getötet haben, weil ihnen die reine Mannkraft fehlt, um alle Realitäten zu jeder Zeit zu überwachen, wie Sam Oscar meinte – würde mein plötzlicher Selbstmord sie nicht erst recht misstrauisch machen? Sie auf meine Fährte lenken? Oder gehen sie methodisch vor? Töten nach und nach alle Alisons aller Realitäten, die einen Marker tragen?

      Allein bei dem Gedanken daran ziehen sich meine Eingeweide zusammen.

      Ich bücke mich unter einem tief hängenden Tannenast hindurch und verlangsame meine Schritte. Gleich müsste ich am Bach sein.

      Ich schließe alle Zweifel tief in meinem Herzen weg und schleiche auf Zehenspitzen zu der ersten Falle: der Grube. Gestern habe ich sie genau dort ausgehoben, wo abgeknickte Äste und kahler Waldboden auf eine Wildbahn hinweisen. Aber kurz darauf erkenne ich, die Gräser liegen nach wie vor ordentlich geschichtet über dem Loch. Ich muss nicht nachsehen. Kein Tier wird darin sein, außer ein paar Ameisen vielleicht.

      Knapp 100 Schritte weiter zeigt die Steinfalle am Bach das gleiche Resultat. Ich stöhne. Wenn auch in der Schlinge nichts ist, werde ich in die Zivilisation müssen, in ein Zoogeschäft oder besser gleich zu einem Schlachter, ihn notfalls mit dem Messer bedrohen, damit er mir gibt, was ich brauche: sehniges Fleisch und Blut.

      Aber als ich der Schlinge näher komme, sehe ich bereits, dass sie ausgelöst hat. Ein Tier hängt bewegungslos in der Luft und mein Herz schlägt schneller mit jedem Schritt. Es darf nicht tot sein. Ich brauche frisches Blut.

      Mit wenigen Sprüngen bin ich bei dem Baum, an dem die Schlinge mit einem Hasen hängt.

      Perfekt! Das Seil hat sich fest um seinen Bauch gezogen. Ich packe den Hasen an den Hinterläufen und schneide das Seil durch. Im gleichen Moment zuckt er wild, versucht mit aller Macht, meinem Griff zu entkommen. Vielleicht ahnt er, dass er sterben wird. Doch als ich mein Messer an das weiche graue Fell ansetze, fällt er plötzlich in eine Art Starre.

      »Es tut mir leid«, flüstere ich, was die Wahrheit ist. Das Tier wird leiden, denn ich brauche zunächst seine Blase. Erst dann werde ich den erlösenden Schnitt die Kehle entlang führen, um sein Blut in das Organ laufen zu lassen, bevor es stockt.

      Ich beiße meine Kiefer fest zusammen und versenke mein Messer in seinem Unterleib. Der Hase quiekt und schreit schrecklich, zuckt, strampelt, während seine Gedärme aus der Bauchhöhle platzen. Ich beiße mir in die Wange. Jede Sekunde, die ich ihn quälen muss, leide ich mit.

      Keine Ahnung, wann er seinen letzten Klagelaut ausgestoßen hat, aber seine Schreie klingen in meinen Ohren immer noch nach. Heißer Schweiß rinnt mir den Nacken runter und meine Hände sind blutverschmiert, als ich fertig bin. Auf dem Waldboden liegen Fell, Eingeweide und Knochen verstreut. Ich würge. Meine Speiseröhre brennt von der Galle, und als ich zum Bach gehe, um meine Hände zu waschen, verabscheue ich mich selbst. Nie habe ich etwas Schlimmeres getan.

      Das Wasser des Bachs ist auch am Morgen noch warm. Ich wünschte, es wäre kalt. Eiskalt. So kalt, dass ich nichts mehr spüren muss. Ich weiß, die Zeit drängt. Doch ich kratze das Blut unter meinen Fingernägeln hervor, schrubbe meine Hände mit Moos, bis sie weiß glänzen, aber trotzdem fühle ich mich immer noch schmutzig.

      Ich kann mir jetzt aber keine weitere Verzögerung mehr leisten. Wenn ich noch länger warte, ist der Hase umsonst so qualvoll gestorben. Dann wird das Blut gestockt sein, eine zähe Masse, die nicht mehr das vortäuschen kann, was sie soll: das herausgeschnittene Fleisch meiner linken Hand.

      Es ist überaus wichtig, den richtigen Zeitpunkt zu treffen. Ich muss die letzte, die einzige Alison auf dem Schlachtfeld sein, die ungeteilte Aufmerksamkeit der Ports haben und die von Kay. Dann bleiben mir höchstens 60 Sekunden, um sie zu überzeugen, vielleicht aber auch nur 10.

      Ich klemme die Blutblase zwischen meine Finger und überdecke sie mit einem hellen Stück Fleisch, das ich mit zwei Sehnen um die Finger und mein Handgelenk binde.

      Zweifelnd blicke ich auf das Ergebnis. Aus der Nähe betrachtet wirkt es, als sei meine Hand geschwollen, aber ich habe nicht vor, die Ports so nah an mich herankommen zu lassen. Ich schicke noch einmal ein Stoßgebet zum Himmel, obwohl ich schon lange an nichts mehr glaube, was Gerechtigkeit verspricht, dann schließe ich die Augen. Also los …

      Regentropfen, der Hügel, das Gefühl, auf die Erde zu schlagen, erst der Arm, dann der Kopf, das Messer, das zu Boden fällt, eine Armlänge von mir entfernt, Stiefel, die den Speer in Kays Brust streifen, der Regenbogen …

      Jetzt!

      Ohrenbetäubender Lärm, Trampeln und Schreie stürzen auf mich ein. Der Hügel ist derart von Ports belagert, dass ich kaum noch Gras sehe oder was ihre Stiefel davon übrig gelassen haben. Ich meine, sie müssten sofort auf mich zustürmen, aber immer neue Rufe lenken sie ab. Mit angewinkelten Armen laufen die Männer in verschiedene Richtungen, schlagen Haken, finden sich wieder zusammen, zücken ihre Stäbe, nur um sich von den unzähligen Versionen meiner Selbst wieder ablenken zu lassen.

      Wie ein unendliches Echo hallen meine Rufe wider: »Hey, ihr Arschlöcher! Ich bin hier! Bin hier! Bin hier! Hier! Hier! …«

      Eine Alison prescht den Hügel hinab, direkt an mir vorbei und löst sich in Luft auf. Eine andere erscheint wenige Meter entfernt von mir und taumelt nur noch. Eine spätere Version. Ihr gehen die Kräfte aus.

      Kay! Wo ist Kay?

      Ich drehe mich im Kreis, versuche, mich zu orientieren.

      Jetzt haben die ersten Ports mich bemerkt und beginnen zu rennen. Uns trennen vielleicht 100 Meter, nicht mehr. Panik flammt in mir auf. Ich versuche, mich zu beruhigen, indem ich mich auf meinen keuchenden Atem konzentriere, das wild pumpende Herz, die Welle Adrenalin, die heiß durch meine Venen schießt. Zwecklos. Gegen meinen Willen steigen die Bilder in meinem Kopf auf, die mich

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