Скачать книгу

sonst ist alles friedlich. Gut. Sehr gut.

      Kurz darauf sitzen wir gegen die Wand gelehnt und verdrücken die Chips. Sie schmecken pappig und süßlich und trotzdem wie der Himmel.

      »Weißt du, wann ich das letzte Mal Chips gegessen habe?« Ich lecke mir über die Lippen.

      »Wann?«

      »Kurz vor dem ersten Portieren. Ich meine vor dem ersten Portieren ohne Hilfe. Allein.«

      Kay greift nach meiner linken Hand und dreht sie behutsam um. »Ich sehe ihn nicht.«

      »Der Marker erscheint, wenn ich ihn ansteuere.«

      »Tatsächlich?«

      »Ich zeig’s dir«, schiebe ich nach, da Kay zweifelnd die Stirn krauszieht.

      Schon lange muss ich mir nicht mehr den Weg vorstellen, den die elektrischen Impulse von meinem Gehirn durch die Nervenbahnen zu dem Marker nehmen. Inzwischen ist es ebenso einfach, wie den Arm zu heben. Gleich darauf treten die feinen silbernen Linien hervor. Immer deutlicher, bis ein klar umrissenes Rechteck erscheint.

      »Das ist unfassbar.« Mit dem Finger zeichnet Kay das Rechteck nach. »Haben sie uns deswegen angegriffen? Weil sie die Kontrolle über dich verloren haben?«

      »Ich weiß es nicht. Sam Oscar meinte vor ein paar Tagen –«

      »Du warst bei ihm?«

      Ich schiebe die Chips zur Seite und greife nach dem Wasser, um meinen Durst zu löschen. »Möchtest du?«

      »Trink du zuerst«, antwortet er und sieht mich erwartungsvoll an, während ich das warme Wasser die Kehle hinunterlaufen lasse. »Was hat Sam Oscar zu dir gesagt?« Kay nimmt den Kanister, ohne daraus zu trinken.

      »Oh Gott! Das ist alles so kompliziert. Ich komme selbst schon durcheinander. Allein wenn ich versuche, über die ganzen Zeiten und Realitäten und Sichtweisen nachzudenken, streikt mein Gehirn.«

      Kay stellt den Kanister zur Seite, legt den Arm um mich und ich lehne meinen Kopf an seine Schulter.

      »Erinnerst du dich daran, dass du Bäume für unseren Unterschlupf schlagen wolltest, damals im Wald?«, beginne ich.

      »Für mich ist das erst wenige Stunden her«, antwortet Kay.

      »Wahnsinn!«, schweife ich ab.

      »Was?«

      »Ich kann es kaum fassen! Vorhin warst du noch mit mir zusammen, als ich 17 war.«

      »Erzählst du mir jetzt, was seitdem geschehen ist?«

      Ich vermeide es, die Augen zu schließen, aus Sorge, mich wieder ungewollt zu portieren, und richte sie stattdessen auf die Fugen der Holztür, während Erinnerungen in mir aufsteigen.

      »Es begann zu schneien. Ich bin Richtung Fluss gegangen und habe Holz gesammelt. Es dauerte nicht lang. Als ich zurück zur Feuerstelle kam, lag da plötzlich ein Zettel mit einem Stein darauf. Mitten in der Wildnis! Mir war sofort klar, dass jemand uns eine Botschaft zukommen lassen wollte. Aber zuerst habe ich geglaubt, sie käme aus der Zukunft, von Wum Randy oder so.«

      »Und von wem war sie?«, fragt Kay nüchtern. Typisch. Es ist sein Wesen geworden, die Dinge erst zu analysieren und dann seine Schlussfolgerungen zu ziehen.

      »Von mir selbst«, antworte ich und nun lese ich leichtes Erstaunen in Kays Gesicht. »Auf dem Zettel stand, du würdest sterben«, beginne ich, ihm den Teil unserer Geschichte zu erzählen, den er nicht kennen kann. Angefangen bei dem Fläschchen mit dem Kräutersud, von dem ich nicht verstand, wo es herkam, über den Bären, der plötzlich aus dem Wald brach, meinem 19-jährigen Selbst, das im richtigen Moment auftauchte, den Bären tötete und mir sagte, ich müsse Kay verlassen, wenn ich sein Leben retten wolle. Ich fasse kurz die Momente zusammen, als ich den Jungen mit dem Goldklumpen sah und wie versucht ich war, den späteren Mörder meiner Urgroßtante zu töten. Dann berichte ich Kay von der Mojave-Klapperschlange, die ich mit mir in die Zukunft riss, um Wum Randy zu zwingen, uns in unsere Realitäten zu portieren.

      Kay presst seine Lippen auf mein Haar und ich ahne, wie stolz er auf mich ist, doch mit keinem Wort unterbricht er mich.

      »Tja, und dann habe ich dich wiedergesehen. Genau an dem Ort, an dem ich dich zurückgelassen hatte.«

      »Im Wald beim Bären? Ich erinnere mich nicht.«

      »Weil diese Realität für dich nicht lebendig geworden ist. Nur für mich. Wenn du so willst, habe ich die Kette der Ereignisse unterbrochen. Aber das kommt später.«

      »In Ordnung. Erzähl weiter.« Kay rückt ein Stück von mir ab und legt seine Zungenspitze an seine Oberlippe. Er wirkt vollkommen konzentriert.

      »Okay, also, nachdem Randy mich tatsächlich in meine Realität zurückportiert hatte, bekamen wir einen Brief. Mum, Dad, Jeremy, wir alle. Eine Einladung von einem Francis K. Raymond.« Ich beobachte, wie sich Verwirrung in Kays Gesicht abzeichnet, und schiebe die Erklärung schnell hinterher. »Ich kannte deinen vollen Namen ja nicht und hatte keine Ahnung, dass die Einladung von dir stammte. Na ja, du hast uns zu deinem 104. Geburtstag eingeladen.«

      »Zu meinem 104. Geburtstag? Wie ist das … Du meine Güte.«

      Ich schmunzle, als ich Kays Verblüffung sehe. »Ja, du bist 104 Jahre alt geworden. Aus meiner Sicht war das vor 2 Jahren, im September 2013, genau genommen. Deine Worte waren, glaube ich: Ich habe nur so lange durchhalten können, da ich wusste, dass es ein gemeinsames Leben für uns geben kann.«

      Kay schüttelt stumm den Kopf.

      Ich sage: »Ob du’s glaubst oder nicht, aber es war dir gelungen, deinen Marker anzusteuern und in die Zukunft zu springen. Immer nur für kurze Zeit, aber du warst überzeugt, dass auch ich das schaffen würde.«

      »Und das hast du«, schlussfolgert Kay.

      »Zunächst nicht. Ich wusste ja von dir, dass mir ziemlich exakt 2 Jahre bleiben würden, bis sie mich wieder holen würden – als dein Scout. Ich habe begonnen zu trainieren. Jede freie Sekunde …«

      Ich erzähle Kay von den endlosen Stunden im Wald, wie unbeholfen ich zunächst mit dem Messer war, wie frustriert darüber, noch nicht einmal den Stamm eines Mammutbaums zu treffen, und wie viele Fähigkeiten ich mir noch aneignen wollte, um in der Wildnis überleben zu können. Kays Mienenspiel verrät sein Erstaunen und seine Verwirrung gleichermaßen, insbesondere als ich ihm von der Dr-Pepper-Dose erzähle, die Jeremy mir quasi an den Kopf warf, wieder und wieder, bis ich verstand, dass mir die ersten Zeitsprünge gelungen waren.

      Irgendwann wird es furchtbar warm in Dads Schuppen. Es muss bereits Mittag sein, als sich unsere Erinnerungen das erste Mal kreuzen. Wir rufen uns beide den Moment ins Gedächtnis, da Kay Jill für seinen Scout hielt und mich fragte, ob ich wenigstens Socken stopfen könne.

      »Ich wusste ja, dass du mich nicht kennen wirst, und ich war wahrscheinlich auf so ziemlich alles vorbereitet, aber ehrlich gesagt nicht darauf, was für ein, für ein vollkommen …«

      »Arroganter Idiot ich war.«

      »Stimmt.«

      Plötzlich lacht Kay laut, so laut, dass ich befürchte, Mum könnte davon aufwachen und jeden Moment in den Schuppen stürmen.

      »Pst. Sei leiser«, ermahne ich ihn, doch Kay wirft den Kopf in den Nacken und lacht noch lauter.

      »Du hast … du …«, prustet er, »… hast meinen Ärmel mit einem Kuchenmesser an die Stuhllehne genagelt, so wütend warst du. Weißt du noch?« Kay holt schnaufend Luft. Tränen laufen über seine Wangen.

      »Du hättest dein Gesicht sehen sollen und erst Jills.« Jetzt lache ich auch. Ich presse mir die Hand vor den Mund und mein Körper zuckt unter meinem albernen Gegacker, und immer wenn wir versuchen, ernst zu sein, lacht einer von uns wieder los, bis wir uns die Seite halten und nicht mehr können. Es ist so unfassbar befreiend.

      Eine ganze Weile tauschen wir unsere Erinnerungen aus, lachen, weinen und jeder berichtet von sich.

Скачать книгу