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ein, er suchte nicht erst einen Sitzplatz, da er beim zweiten Halt wieder aussteigen wollte.

      Er war er der einzige Reisende, der am Haltepunkt Granitz den Zug verließ.

      Weit und breit sah er kein weiteres Gebäude als das Bahnwärterhäuschen und den Geräteschuppen, etwas weiter ab noch die ehemalige Bedürfnisbude.

      Das Ensemble wollte ihm wie ein Geschenk vorkommen, als ob die verlassene Station ihn seit Jahren erwartete hätte.

      Die Natur war bereits weitgehend im Besitz der Anlage. Doch dagegen ließe sich etwas tun, er konnte und würde etwas dagegen, oder richtiger, dafür tun, dass sein Haus wieder – hier besann er sich und kam auf den Boden der Tatsachen zurück.

      Er versuchte durch die blinden Fensterscheiben den Innenzustand des Hauses zu erkennen. Der Dienstraum zeigte, dass er bis auf einige technische Reste, wahrscheinlich Verankerungen der ehemaligen Bedienanlagen, nur leer sei. Das Wohnzimmer lag hinter dem kleinen Fenster fast ganz im Dunklen, ein Tisch, eine Stuhllehne, das war fast alles, was er ausmachen konnte, eine Ahnung von Kanonenofen, doch keine weiteren Einzelheiten.

      Das erinnerte ihn an die unbedingte Notwendigkeit, noch vor Dienstschluss bei der Bahnhofsverwaltung in Putbus vorzusprechen.

      Er hatte den Ort seiner endgültigen Bestimmung gefunden.

      An die Möglichkeit, dass seinem Vorhaben noch andere als nur zeitliche Schwierigkeiten entgegenstehen könnten, dachte er überhaupt nicht.

      Er schritt Länge und Breite des Häuschens ab und versuchte die Innenaufteilung von drei mal sechs Metern Grundfläche zu erraten. Das Dienstzimmer schien ein vorgezogener Flachbau zu sein.

      Angenommen, es wäre ein Standardtyp von Bahnwärterhäuschen, dann könnte man doch den einfachsten, rationellsten Grundriss erwarten, also innen zwei tragende Wände, was im Prinzip vier Räume ergäbe. Und unabhängig von der bisherigen Nutzung ließen die sich …

      Ein Zugsignal ließ ihn aufhorchen. Wo kamen denn plötzlich diese Leute her?

      Sie standen am Bahngleis und blickten alle in die gleiche Richtung.

      Ah, der Zug, sagte sich Herr Kleinermann. Er müsse hier abbrechen.

      Er stellte sich zu den anderen. Aber blickten nicht alle in die falsche Richtung?

      Als die Dampfwolke über den Bäumen erschien, fragt er den nächststehenden Urlauber nach dem Fahrziel dieses Zuges.

      „Nach Göhren, nehme ich an. Wir wollen aber nur bis Baabe, wir machen dort Urlaub. Wir waren heute oben im Schloss, also vom Turm hat man ja eine fabelhafte Aussicht über ganz Rügen. Sind Sie auch die Wendeltreppe hoch?“

      „Nein, ich bin in der Gegenrichtung unterwegs, ich wollte nach Putbus.“

      „Das ist erst der nächste“ – der Urlauber schaute auf die Uhr – „na, ’ne gute halbe Stunde, würde ich sagen, die verkehr’n hier im Gegentakt, wissen Sie.“

      Herr Kleinermann konnte sich für die Auskunft nicht mehr bedanken, der Zug lief mit Getöse ein und die Leute gerieten in Bewegung.

      Er ging nicht zum Haus zurück; die verbleibende Zeit wollte er zur Erkundung der nächsten Umgebung nutzen, wenn dort auch kaum etwas auf seine Entdeckung zu warten schien. Als er den Weg erreichte, der über die Schienen in den Wald lief, blieb er stehen und schaute sich um. Hier hatten früher gewiss Schranken dem Verkehr Einhalt geboten, wenn ein Zug kam. Der Weg war breit genug zu jeder Versorgung des Schlosses weiter oben. Woher mochte die staubige Straße kommen?

      Sie eilte in Begleitung alter Alleebäume auf die Chaussee Bergen – Thiessow zu. Linker Hand versteckten sich unterhalb „seines“ Häuschens einige Gebäude im Grünen.

      Er ging sehr befriedigt zurück: Alles war geradezu ideal hier.

      Die Verhandlungen mit der Verwaltung der Bäderbahn waren bald abgeschlossen.

      Herr Kleinermann ließ keinen Zweifel an seiner Entschlossenheit aufkommen, er nahm die Verwaltung im Sturm, nämlich mit der Andeutung, dass Geld hier keine Rolle spiele. Ein Kauf war allerdings nicht möglich; man einigte sich auf eine unbefristete Nutzung unter Auflagen zum denkmalgerechten Erhalt. Der Innenzustand war auf eigene Kosten wieder bewohnbar zu machen.

      Fünftausend Euro Zuwendung „für die Bediensteten“ hatten die Angelegenheit wirksam beschleunigt.

      Schon nach einem viertel Jahr konnte er einziehen.

      Er schaute aus dem Fenster, ob der 11.58 aus Göhren heute pünktlich sei. Über der Bahnstrecke im Wald stand ein weißes Wölkchen und er hörte das ferne Rattern des Zuges. Er sah auf die Uhr: Zwei Minuten Verspätung. Vor der Kurve zum letzten Anstieg stieß die Lok ihren Pfiff aus. Jetzt musste der Heizer Kohle schaufeln. Die weiße Dampfspur über den Bäumen verwandelte sich in dicken grauen Qualm, unter dem das Bähnlein als ein Spielzeug sichtbar wurde. Die Maschine keuchte mühsam die leichte Steigung heran und hielt schwer atmend vor Kleinermanns Fenster.

      Drei Personen stiegen aus, eine Familie, die offensichtlich zum Schloss wollte. Sie gingen die Wagenreihe entlang, der Mann fotografierte die Frau und den Jungen vor der verschwitzten Lok. Dann überstiegen sie das Gleis und entschwanden.

      Der Zugbegleiter blickte sich um, hob den Arm, bestieg mit elegantem Schwung die letzte Wagenstufe, der Zug setzte sich unter Dampf und Qualm mühsam wieder in Bewegung. Als das Ende vorüber rollte, grüßte der Schaffner mit einer leichten Handbewegung zum Fenster, Herr Kleinermann deutete eine leichte Verbeugung an.

      Dieses Szenario wiederholte sich in mehr oder weniger abgewandelter Form mehrmals täglich. Oft stiegen ganze Scharen von Feriengästen aus oder ein, es kam auf die Tageszeit an. Alle wollten zum Schloss hoch oder waren von dort zurückgekehrt.

      Er wandte sich wieder seiner Beschäftigung zu.

      Natur und Mensch, oder Mensch und Natur, das war doch wohl das wirkliche Thema. Konkreter hätte er es nicht formulieren können. Stand dabei nicht schon im Voraus fest, dass damit nie ein Ende zu erreichen sein würde?

      Aber immer wieder fing jemand damit an. Jeder Pinsel, der an dem Bild vom Menschen im Universum herummalte, meinte, es müsse noch deutlicher werden, es stimme so ja nicht. Und mancher kam und malte einfach was drüber, als müsse auch das so sein. Irrtümer verschwanden unter neuen Farbschichten. Manchmal hielten sie sich lange, weil ihr Anblick schon zur Selbstverständlichkeit geworden war. Das Bild konnte stimmen, aber auch ganz anders sein. So geriet das Gemälde immer verworrener. Bald malte jeder, der auf sich hielt, auch an einer eigenen Version von der kosmischen Vielfalt.

      Herr Kleinermann hielt erschrocken inne – hatte er etwa sich selbst gemeint? Er wollte kein neues Bild, er wollte nur wissen, ob die letzte Fassung, die wissenschaftliche, die überwiegend aus Formeln und Zeichen bestand, wirklich zuträfe.

      Waren mathematische Modelle wirklich geeignet, die Realität abzubilden?

      Die Forschung konnte ohne die beschwerliche Realität im Abstrakten größere Schritte machen, also war Mathematik zur ersten und besten Stütze Wissenschaft aufgestiegen.

      Aber auch Beobachtungen mit immer besseren Geräten förderten spektakuläre Ergebnisse zu Tage. Alles schien zum Beispiel doch darauf hinzudeuten, dass man bei kosmischen Dingen mit der Urknalltheorie auf dem richtigen Weg sei.

      Das Universum sollte nun doch aus dem Nichts hervorgegangen sein. Nicht ganz so wie im Schöpfungsbericht der Bibel, aber fast so. Es war ja möglich oder fast sicher, dass unbekannte Teilchen und seltsame Energieformen das Universum erfüllten. Warum sollten sie sich nicht „irgendwie“ zu stofflicher Materie verdichtet haben? Auf dem Papier ging es doch auch.

      Schon möglich, aber überprüfbar war das nicht. Es war im Grunde so viel Glauben an die wissenschaftliche Weltanschauung erforderlich wie zuvor an die metaphysische.

      Herr Kleinermann war mit seinen Gedanken allein.

      Nicht dass beim Urknall etwas geknallt hätte, sinnierte er, das sei nur so ein Wort für die erste denkbare physikalische Erscheinung des Universums, ein

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