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blieb. Der Inhaber saß in ein Buch vertieft unterm Sonnenschirm im Gärtchen. Niemand wunderte sich darüber, den Anblick kannte man seit Jahren.

      Er hatte aber, was niemand wissen konnte, seit einiger Zeit ein besonderes Buch in Händen. Studienrat Arpen bestellte immer etwas Ausgefallenes. Diesmal war es „Einsteins Relativitätstheorie ohne Mathematik“. Wie gewohnt, hatte Herr Kleinermann die Ausgabe zunächst selbst überflogen, um dann zu entscheiden, ob er den Titel seiner eigenen Bibliothek einverleiben könnte. Für den Kunden bestellte er dann ein neues Exemplar.

      Er hatte nicht gleich alles verstanden, was er da las, war aber so fasziniert von den ungewöhnlichen Gedanken einer allgemeinen Relativität, dass er das Ganze unbedingt ein zweites Mal lesen wollte.

      Die behauptete Massenzunahme bei Lichtgeschwindigkeit bis gegen unendlich war das Verrückteste, von dem er je gehört hatte, folgte aber wahrscheinlich nur aus einer Formel und hatte keine Bedeutung für den Normalfall. Auch die weiteren Schlussfolgerungen waren nicht von Pappe, fand er. Doch an ein Zwillingsparadoxon mochte glauben, wer wollte; das war Unsinn, meinte er, ein dummes Beispiel. Die Dinge passten überhaupt nicht zusammen; Menschen konnten keinesfalls zum Nachweis extremer physikalischer Effekte dienen, auch wenn es nur der Veranschaulichung dienen sollte.

      Dass die Zeit ganz aufhören konnte, bedurfte für ihn keines Beweises. Solche Einsichten gehörten ohnehin zu den ältesten Erkenntnissen der Menschheit. Auch dass Masse eine Form von Energie sein müsse, gefrorene Energie sozusagen, fand er einleuchtend. Außerdem sei es bewiesen – irgendwie, ihm war der Hergang nicht mehr erinnerlich.

      Wieso aber überall diese Lichtgeschwindigkeit.? Sollte ihre Multiplikation mit der Masse tatsächlich Energie ergeben? Ging so etwas überhaupt? Die berühmteste Formel der Welt. Naja, musste wohl irgendwie stimmen, war nichts zu machen, die Bombe hatte es gezeigt.

      Egal, das Buch gehörte in seine Bibliothek. Die war in letzter Zeit fast nur noch durch wissenschaftliche Literatur gewachsen, er war fast süchtig nach neuen Ansichten über die Natur. Er stellte das Relativitätsbüchlein ganz vorne ins Regal, um darin demnächst weiter zu studieren.

      Als Arpen seine Bestellung abholte, fragte Herr Kleinermann:

      „Behandelt man den Stoff heute bereits in der Schule?“

      „Ich bin von Hause aus ja Philologe“, erklärte Arpen, „ich erteile keinen Unterricht im Fach Physik. Insofern entzieht sich das Problem etwas meiner Kenntnis.“

      „Dann sind Sie privat an dem Thema interessiert? Ich habe nämlich ebenfalls …“

      „Nicht ganz“, sagte der Philologe. „Man hat mir für nächstes Jahr einen Kurs in der Zwölften angetragen, philosophische Aspekte der Naturwissenschaften.“

      „Ah, interessant. Ein großes Thema, nehme ich an. Aber müssten da die Fakten nicht schon bekannt sein?“

      „Das wäre wünschenswert.“

      „Sie haben natürlich keinen Einfluss darauf, ich verstehe.“

      „Was die Kollegen des naturwissenschaftlichen Unterrichts behandeln, ist deren Sache.“

      „Selbstverständlich. Die Wissenschaften, sagen Sie. Dieses Buch behandelt aber nur eine einzige physikalische Theorie. Benötigen Sie eventuell weiteres Material? Ich stehe Ihnen da gern zur Verfügung.“

      „Vielen Dank, ich werde bei Bedarf darauf zurückkommen. Eine einzige Theorie, gewiss. Aber sagen wir getrost: eine einzigartige. Es gibt keine vergleichbare Entwicklung in den anderen Disziplinen, weder von der Methodik noch von den weltanschaulichen Aspekten her – ich sollte wohl richtiger von der Erweiterung unseres Weltbildes sprechen, das durch Bewusstmachen der Relativität unserer Kenntnisse den Ereignishorizont bis in die kosmischen Dimensionen ausgedehnt hat.“

      „So hatte ich das noch gar nicht erfasst. Ich habe nämlich ebenfalls etwas in dem …“

      Arpen sprach ungerührt weiter: „Nur durch die Gewissheit der Ungewissheit ist es uns möglich, das Wesen der Realität zu erfassen. Die Schule meint ja, ausschließlich Gesetzmäßigkeiten vermitteln zu sollen, doch ist das zu einseitig.“

      „Aber sind die Wissenschaften nicht berufen, die Gesetzmäßigkeiten der Naturvorgänge aufzuzeigen? Die Relativitätstheorie liefert ihre Einsichten ebenfalls in dieser Art, wie sollte es anders gehen?“

      „Sie haben Recht mit der Konstanz der Naturprozesse. Diese Sicht befriedigt die elementaren Bedürfnisse. Doch ein tieferes Eindringen in die Wirklichkeit wird dadurch eher verhindert als befördert.

      Wir beide stehen hier. Warum? Wegen der Erdanziehung oder Gravitation, sagt die Wissenschaft, und liefert gemäß ihrem Auftrag eine Formel zur Berechnung der Wirkung zwischen zwei Körpern, wohlgemerkt: nur zwischen zwei Körpern. Mehr erfährt man nicht.“ Der Lehrer machte eine Kunstpause und hob die Augenbrauen. Dann fuhr er fort: „Über das Wesen der Gravitation kein Wort, man hat davon keine Ahnung, verschweigt es aber. Hier zeigt Einstein uns eine neue Sichtweise.“

      „Nicht nur hier, wenn mir erlaubt ist; ich habe nämlich …“ Er kam wieder nicht dazu, den Satz zu beenden, Arpen redete einfach weiter.

      „Auch die Verformung der Raumzeit kann nur eine historisch bedingte Erkenntnis sein. – Dabei fällt mir ein: die Zeit! Wir müssen unsere Diskussion hier leider unterbrechen und ihre Weiterführung auf einen anderen Termin verlegen.“

      „Sehr gerne, Herr Studienrat, jederzeit. Wir könnten gegenüber bei Lorentzen ja einen Kaffee …“

      „Kaffee verträgt mein Magen nicht.“

      „Oder Tee. Schauen Sie einfach rein, ich kann mir immer Zeit nehmen.“

      Er lebte allein, schon immer. In jungen Jahren hatte er sich zwar für Frauen interessiert, konnte das aber nie recht zum Ausdruck bringen. Im Grunde hielt er das sexuelle Verlangen für einen Rückfall in die animalische Vergangenheit.

      Die Schönheit einer Frau vermochte ihn durchaus zu begeistern, er hatte jedoch immer die Gefahr gespürt, dass er hoffnungslos verloren wäre, wenn er den kleinsten Schritt ins Reich des Verlangens wagte.

      Er verstand das alles nicht, es war einfach zu kompliziert. Irgendwann hatte er die ganze Angelegenheit auf sich beruhen lassen. In späteren Jahren war er froh darüber, denn er wäre ganz gewiss untergegangen, das sah man doch an genügend anderen Beispielen. Brauchte es weiteres Unglück in der Welt? Plötzlich Frau und Kinder im Haus und alle unzufrieden, er vor allem mit sich selbst beschäftigt und seiner Unfähigkeit, ein gewisses bürgerliches Behagen um sich zu verbreiten.

      Nein, es war besser so.

      Er warf er einige restliche Frühstücksbrocken ins Wasser, ohne sich darum zu kümmern, ob sie dem Schwan oder den Fischen von Nutzen wären, dann machte er sich auf zum sonntäglichen Spaziergang. Er nahm gewöhnlich einen Weg, der ihn bald aus der Stadt führte, am einfachsten gleich durch den Probstengang und dann nach links, an der Kirche vorbei zur Brücke über den Bach, der inzwischen durch allerlei angesiedeltes Gestrüpp ganz unkenntlich geworden war. Früher hatten hier die Tuchfabriken begonnen.

      Vor der Kirche blieb er stehen; bekannte Gesichter strebten dem Eingang zu, es war unmöglich, sie zu ignorieren. Er grüßte mit ernstem Kopfnicken während sie an ihm vorübergingen. Er selbst verspürte keinerlei Neigung mit ihnen einzutreten. Seit seiner Konfirmation durch Pastor Möbius hatte er die Kirche kaum noch besucht, und wenn, war es nicht mehr in religiöser Absicht geschehen. Mit einer Ausnahme allerdings.

      Die Konfirmation, also die „Aufnahme in die Gemeinschaft der Gläubigen“ war damals noch eine Selbstverständlichkeit. Man konnte sich seinerzeit nichts anderes vorstellen; wenn die Kinder vierzehn wurden, gab es die Konfirmation, und sie galten fortan als erwachsen. Die meisten begannen dann eine dreijährige Lehre. Nur wenige besuchten eine „höhere Schule“ um das Abitur zu erwerben.

      Erst später war ihm der Unsinn einer „Konfirmation“ aufgegangen, die ihn ungefragt an einen Glauben binden wollte, der ihm zunehmend unglaubhaft erschien.

      Geraume

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