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hatte ausgerechnet das kleine und unbedeutende Faldera zum Ziel einer Erweckungsoffensive erwählt.

      Der Mann aus Amerika war gewohnt, Tausende auf einen Streich zu evangelisieren, ganze Fußballstadien waren keine Seltenheit. Was den großen Prediger bewogen haben mochte, auf diesem kleinen Feld Gottes Wort zu säen, blieb einer höheren Weisheit oder der Deutung jedes Einzelnen überlassen.

      Die Kirche fasste jedoch die Besucher kaum.

      Graham war ein faszinierender Redner, ein Magier und Prophet, ein Führer zum endgültigen Heil, beziehungsweise auch Verführer des Willens bis hin zur religiösen Verzückung – anders konnte man es nicht nennen, wenn am Ende des rednerischen Feuerwerks mindestens drei Viertel aller Besucher seiner Aufforderung folgten, am Altar öffentlich ihre religiöse Ergriffenheit zu bekennen.

      Er, der Jüngling Kleinermann, konnte sich davon zurückhalten; vielleicht hatte er zu weit hinten gestanden und die das Bewusstsein lähmenden Salven waren überwiegend nur um ihn herum eingeschlagen. Das Ereignis war jedoch entscheidend, dass er sich fortan nicht mehr mit diesen Problemen befasste. Möglicherweise war er der Einzige, der durch Billy Graham zum Atheisten verkehrt wurde.

      Sogar der Kirchenbau war ihm seitdem verhasst. Von der im Jahre 1125 erfolgten Gründung war natürlich nichts mehr vorhanden, und den Neubau von 1830 im klassizistischen Stil fand er ganz unerträglich.

      Als die Glocken den Beginn der Zeremonien ankündigten, setzte er seinen Weg fort, ohne auch nur einen Blick auf Fassade oder Turm zu werfen.

      Er erinnerte sich nur ungern an jene Zeit. Die Abkehr vom Kinderglauben hatte ihn in die Arme einer anderen Heilslehre getrieben, dem Marxismus. Auch er empfand damals die Grundsäuberung der gesellschaftlichen Verhältnisse als höchst notwendig. Bis gegen Ende der Schulzeit äußerte sich das eher im üblichen oppositionellen Verhalten zur Situation im Elternhaus, doch mit Beginn des Studiums erkannte er den gesellschaftlichen Charakter seines Aufbegehrens. Er kam Gleichgesinnten nahe, und unter Führung eines jungen Dozenten der Philosophie bildete sich bald ein studentischer Kreis von „Revolutionären“. Man erfuhr dort, dass es auch ein anderes Modell zur Gestaltung der Verhältnisse gäbe, eines auf der Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse ruhendes. Sie studierten und diskutierten intensiv dessen umfangreiche, miteinander verwobene Voraussetzungen, blieben jedoch uneins, ob oder wie das alles zu einem atmenden Organismus zusammengesetzt werden könnte. Er war besonders beeindruckt vom philosophischen Aspekt dieser Lehre, die ihm ein umfassendes Bild vom unlösbar mit den sozialen Verhältnissen verbundenen Menschen zu bieten schien.

      Da er das Ganze lediglich von der theoretischen Seite her kennenlernte, konnte er dem Ideal einer neuen Gesellschaft ziemlich lange anhängen. Vom Versuch der praktischen Umsetzung in der anderen Welt blieb er praktisch unberührt.

      Das Scheitern auch dieser Heilsbotschaft traf ihn jedoch tief.

      Aber das war eine andere Geschichte.

      Es gab noch den alten Pfad über die Brücke, den sie als Schüler häufiger nahmen, an der ungeheuer großen Backsteinwand von Bartrams Fabrik entlang, deren schwach glimmende Fenster ihnen in der dunklen Jahreszeit etwas wie Trost und Sicherheit bedeutet hatten, denn an eine Beleuchtung war in dieser Gegend nicht zu denken. Alleine ging hier bei Dunkelheit niemand entlang.

      Sie waren immer erleichtert, wenn sie die Schule erreichten, obwohl keiner von ihnen sie wirklich liebte.

      Nun stand er wieder vor dem Klinkerbau.

      Erbaut von 1901 bis 1903, das sah man. Kraft und Vaterland, es fehlte nur noch die Pickelhaube. Merkwürdig, wie rasch doch der Zeitgeschmack wechselte. Die modernen Anbauten im Hofbereich waren vollkommen indiskutabel. Erinnerungswert besaß eigentlich nur der Spruch über dem Eingang: „NATURAE ET LITERIS“ Es hatte fast die ganze Schulzeit gedauert, bis sich ihm der Sinn dieser Buchstaben erschloss; schon das erste Wort schien ihm rätselhaft, es musste doch heißen NATURA, also „die“ Natur und nicht NATURAE, Genitiv, also „der“ Natur, oder? Er fragte jedoch niemanden, denn das hätte bedeutet, sich lächerlich zu machen.

      Dann LITERIS – also „Den Büchern“, warum nicht „Die Bücher“? Oder bedeutete das Wort vielleicht etwas anderes, etwa Wissenschaften? Auch dann blieb ihm unklar, weshalb hier nicht LITERAE stand, wie es seiner Meinung nach richtig gewesen wäre, weil doch Mehrzahl.

      Unter diesen unverständlichen Buchstaben war er täglich angetreten, die Ferienzeiten natürlich ausgenommen.

      Wahrscheinlich meinte der Spruch nur DER NATUR UND DEN WISSENSCHAFTEN. Aber dann fehlte ja ein Verb!

      Unverständlich war ihm auch ein Großteil des Unterrichts geblieben. Er hätte eigentlich ein ganz miserabler Schüler sein müssen, aber er hielt sich bis zum Schluss als ein nur mäßig schlechter. Immerhin hatte er dort eine recht ordentliche Ausbildung in den Naturwissenschaften erhalten.

      NON SCOLAE SED VITAE DISCIMUS, das war auch so ein Gedicht. Nicht für die Schule, sondern fürs Leben lernen wir. Das übersetzten sie im Lateinunterricht, und er verstand endlich, dass die Wörter noch nicht der Sinn waren, manchmal musste man in der Übersetzung etwas ergänzen, damit ein fremder Ausspruch Sinn machte. Also hätte das Motto über dem Eingang wohl auch „Der Natur und den Büchern (gewidmet)“, oder auch kurz „Für Natur und Literatur“ oder irgendwie so heißen können. Am besten, man hätte gleich geschrieben: „Gymnasium für Natur- und Geisteswissenschaften“. Aber man liebte damals die heroisierende Verkürzung in Latein.

      Herr Kleinermann fragte sich, ob er diese Rätseleien aus der Schulzeit vermissen würde, fand aber, wenn er sie bisher im Kopf behalten hatte, würden sie ihn wohl auch weiter begleiten.

      Diese Erinnerungen waren wenig erfreulich, die ganze Schulzeit hatte er kaum ein Gefühl der Begeisterung verspürt, außer in Musik bei Schorschi Pavel. Aber da brauchte man auch keine Fakten lernen, und Arbeiten schreiben gab’s da auch nicht.

      Er setzte seinen Weg in Richtung Goodeland fort, einem kleinen Dorf zwei oder drei Kilometer vor der Stadt, wo er einen guten Gasthof kannte, „Harmsens Ausspann“. Außerdem belebte ihn der Gedanke an gewisse Kindereien, denn mit dreizehn hätte er dort gern eine Freundschaft mit der Tochter des Gärtners gehabt. Es war aber bei einigen Fahrradtouren und gelegentlichen Treffen geblieben.

      Sie saßen dann bei beginnender Dunkelheit auf den Gittern über den warmen Abluftschächten von Kösters Lederfabrik und schwiegen, während die Ventilatoren in der Tiefe gleichmäßig summten. Sie beide ganz allein auf der Welt.

      Schön war’s. Er kannte sogar ihren Namen noch. Sigrid.

      Die Lederfabrik stand seit Langem leer, die Gärtnerei existierte nicht mehr. Alles kam ihm fremd vor, er war hier sehr lange nicht mehr gewesen.

      Er durchwanderte den Ort, fand aber Harmsens Ausspann nicht. War es möglicherweise die kleine Kneipe, die sich jetzt „Dalmatiner Stuben“ nannte?

      Er trat ein um das zu erkunden.

      Nein, hier wurden keine Erinnerungen wach.

      Ein Gericht Grünkohl, auf das er eigentlich gehofft hatte, war in Dalmatien unbekannt, stattdessen ging er auf die Empfehlung „Kroatischer Grillteller“ ein, Steak, Leber und Cevapcici an Reis mit Tsatsiki und Salat, recht ungewohnt, aber wohlschmeckend. Dazu passte auch der kräftige Rote vom Balkan, obwohl er sonst lieber Weißwein trank.

      Auf dem Rückweg wollte er noch kurz ins Café „Old Huus“ auf einen Pharisäer reinschauen, den er sonntags gern nahm. Man traf hier fast immer alte Bekannte. Beim Eintreten sah er auch gleich Lehrer Arpen beim Tee. Sie begrüßten sich.

      „Herr Studienrat, wie erfreulich. Darf ich wohl für einen Augenblick bei Ihnen Platz nehmen?“

      „Keine Frage, lieber Kleinermann, ich freue mich, Sie zu sehen. Kleinen Sonntagsspaziergang gemacht?“

      „War mal draußen bis Goodeland. Alles recht verändert.“

      „Gewiss. Man sieht es erst, wenn man es sieht – hahaha …“ Er lachte über seinen eigenen Witz.

      „So ist es, Herr Studienrat,

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