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jungen Jahren hatte er, wie jeder Naturschwärmer, sogar von Griechenland geträumt, vom einfachen Leben und Nichtstun, von Knoblauch und Wein und langen, warmen Sommerabenden, doch hatte er nach einem dortigen Ferienaufenthalt von solchen Plänen Abstand genommen. Er brauchte eine vertrautere Umgebung.

      Also dann doch das Land zwischen den Meeren.

      Ost- wie Westküste waren ihm von Besuchen her mehr oder weniger bekannt, aber eine Entscheidung zu treffen, wo man sich denn nun niederlassen solle, war doch etwas anderes. Ein spontaner Wunsch wollte angesichts der vermutlichen Endgültigkeit nicht aufkommen. Die Sachlage war aber nun mal entschieden, jetzt ging es um konkrete Schritte.

      See wäre schön.

      Ost oder West?

      Also gut: West. Eine von den Inseln nach Möglichkeit.

      Spiekeroog hatte ihm gefallen. Ausgedehnte, mit dunkler Vegetation bedeckte Dünenlandschaft, trotzdem übersichtlich, alles zu Fuß erreichbar. Eines der dort verstreut liegenden Häuschen wäre vielleicht denkbar.

      Auch war ihm das Dorf interessant erschienen, die gemütlichen Häuser, die einfachen Wege. Er erinnerte sich an eine alte Kate mit breit ausladendem Dach. Im Gasthof gegenüber war zu erfahren, dass früher alle Häuser so gebaut wurden, um bei Sturmfluten Bewohner und Haustiere aufnehmen zu können. Falls das Wasser bis zum Giebel anstieg und die Lehmwände darunter einfielen, ließ sich der schwimmfähige Oberbau aus der Verkeilung lösen und trieb mit dem Wind auf das Festland zu. Ob die schwimmenden Dächer das rettende Ufer wirklich erreichten, ist nicht überliefert; man möchte eher befürchten, dass die wütende Brandung sie zerschlagen hat, wie es auch weit seetüchtigeren Fahrzeugen erging, die im Toben des Meeres vor der Küste scheiterten. So sei vor hundertfünfzig Jahren im Sturm ein Auswandererschiff bei Spiekeroog gesunken, wobei 8o Menschen den Tod fanden. Sie seien damals in den Dünen außerhalb des Dorfes beigesetzt worden, die Stelle hieße heute noch Drinkendodenkarkhoff, Friedhof der Ertrunkenen.

      Könne man sich ansehen, hatte der Kneiper gesagt, solche Katastrophen wären früher keine seltenen Ereignisse gewesen. Inzwischen verfüge man aber über ausreichende Schutzmaßnahmen.

      Doch, dort zu bleiben konnte er sich vorstellen.

      Wie stand es mit den Immobilien? Er fand kein Angebot nach seinem Geschmack, doch unglaubliche Preisvorstellungen. Man müsste wieder hinfahren um Näheres zu erkunden. Erst mal weiter.

      Zu den Halligen im Wattenmeer?

      Das nun doch nicht. Dann schon lieber Sylt, wo ebenfalls Landschaft war.

      Mode-Insel, überlaufen, nichts für ihn.

      Die Nordseeküste zog ihn nicht wirklich an, die Küste im Osten kannte er besser, sie lag näher und wurde fast als Naherholungsgebiet betrachtet. In jungen Jahren war er beiderseits der Schlei mit dem Fahrrad unterwegs gewesen. An die kleinen Dörfer erinnerte er sich gerne. Sie waren aber nach und nach „modernisiert“ worden, und dabei hatten sie ihren ursprünglichen Charakter weitgehend verloren. Arnis zum Beispiel kannte man nach den Eingriffen kaum wieder.

      Vielleicht war Kappeln an der Mündung der Förde davon verschont geblieben.

      Auch Eckernförde wäre möglicherweise etwas, der Ort erinnerte an das abwechslungsreiche Stadtbild von Bergen auf Rügen.

      Doch Städte waren nicht, was er eigentlich suchte.

      Rügen! Wieso war er nicht gleich darauf gekommen? Auf Rügen kannte er sich doch aus. Dort schien alles so selbstverständlich wie zu Hause, vielleicht hatte er gerade deshalb nicht daran gedacht. Wenn man Urlaub machte, fuhr man nach Rügen.

      Er erinnerte sich noch deutlich an den ersten Besuch, in einem Winter voller Verzweiflung; eine ernst gemeinte Beziehung hatte sich als nicht genügend belastbar erwiesen und war gerade zerbrochen. Er hatte seine Anstellung beim „Holsteiner Courier“ aufgegeben und einfach den Nachtzug nach Lauterbach bestiegen. Was er dort wollte, wusste er auch nicht. Lauterbach war wenigstens die Endstation von irgendwas.

      Aus der Reiseerinnerung erwuchs Gewissheit – er musste nach Rügen, dort könnte er vielleicht am ehesten etwas finden. Und war es jetzt nicht eine ähnliche Situation wie damals, auf der Suche nach einem Neubeginn?

      Er ging zum Bahnhof und stieg kurz entschlossen in einen Zug der gerade nach Stralsund wollte. Von dort war es einfach, einen beliebigen Ort auf der Insel zu erreichen.

      In Binz nahm er die Bäderbahn. Er hoffte, so einem Ziel am ehesten näher zu kommen, denn das Bähnlein zuckelte gemächlich durch die interessanteste Gegend der Insel und berührte die wichtigsten Ferien- und Badeorte.

      Der Traditionszug, von den Urlaubern „Rasender Roland“ genannt, war die Schmalspurausgabe einer wirklichen Eisenbahn. Der ganze Betrieb wurde von Enthusiasten in Bewegung gehalten, die fortgesetzt mit der längst überholten Technik zu kämpfen hatten. Die nostalgischen Dampfesel behaupteten dennoch den ersten Beliebtheitsplatz; kein Fotoapparat kam ohne Aufnahme an den dampfenden, schwitzenden, gusseisernen Veteranen vorbei.

      Herr Kleinermann erstieg einen der hochbeinigen Waggons, dessen Abteil sich als fast leer erwies. Er wählte einen Fensterplatz, um Gegend und Treiben im Blick zu halten, doch ereignete sich so gut wie nichts vor ihm. Dass ein Bahnhof derart tief in Schlaf gesunken sein konnte, kam ihm fast unwirklich vor. Auch die weitere Umgebung schien erstarrt zu sein, nichts regte sich, kein Laut zeugte von einer nahen oder fernen Tätigkeit, selbst im Abteil stand die Zeit still. Man schreckte auf, wenn ein neuer Fahrgast zustieg, aber schon nach wenigen Augenblicken schien auch der eingeschlafen zu sein.

      Herr Kleinermann war erleichtert, als der Gegenzug einfuhr und die Reise losging. Die betagte Lok schleppte sich mühsam, aber immerhin erfolgreich durch das ausgedehnte Waldgebiet der Granitz und hielt erst am Haltepunkt gleichen Namens, wo die wenigen Fahrgäste das Abteil und Herrn Kleinermann verließen, um wie er wusste, das ehemalige Jagdschloss der Putbuser Herrschaft auf dem Tempelberg zu besichtigen. Der Bau war eine der Inselattraktionen.

      Er blieb sitzen und wandte sich wieder der Betrachtung aus dem Fenster zu. Das Gebäude für den Bahnwärter schien unbewohnt, daneben träumte ein Holzschuppen im Unkraut vor sich hin. Aber Moment mal, – hier war doch etwas …, er wollte schon aussteigen, aber in dem Augenblick stieß die Lok ihren kurzen Pfiff aus und setzte sich in Bewegung. Sie hielt erst zwei Stationen weiter. Sellin.

      Er stieg aus, denn er sah auch hier, was ihn schon beim Halt zuvor so angesprochen hatte: Die nostalgischen, einfachen Bahnbauten im Stil der Jahre um 1900 aus dunkelgrün gestrichenem Balkenwerk und Füllungen von unverputzten roten Klinkern im Kleinformat.

      Das war möglicherweise, was er suchte, ohne davon zu wissen: Ein gut erhaltenes kleines Bahnwärterhäuschen. Der Aufenthalt weckte Erinnerungen aus Kinderjahren. Er ging umher wie auf Wolken. Alles stand da: Das Hauptgebäude mit dem Aufenthaltsraum für die gewöhnlichen Reisenden, der Fahrkartenschalter, dessen kleines Fenster immer mit einem bunten Tuch verhängt war, daneben der Eingang zur Bahnhofsgaststätte für die Anspruchsvolleren unter den Wartenden.

      Der früher übliche schmale Anbau für Stückgut und Gepäck diente hier anderen Zecken; die Laderampe hatte sich in ein großes Blumenbeet verwandelt und die schwarzen Schiebetore in blanke Fenster und einen weiteren Eingang; die frühere kleine Bahnhofsgaststätte erglänzte nun als attraktives Restaurant im nostalgischen Rahmen. Überall standen, saßen, bewegten sich ferienfrohe Menschen im weichen Licht des Sommernachmittags.

      Herr Kleinermann war von der Entdeckung sehr beeindruckt, doch herrschte ihm hier eindeutig zu viel Gewusel.

      Er musste auf weitere Erkundungen verzichten, der Gegenzug kündigte sich bereits an und fuhr bald mit reichlich Qualm und Gebimmel ein. Die Menge ordnete sich und sah dem Ereignis gebannt entgegen. Die kleine Lok schleppte die lange Wagenreihe unter ständigem Bimmeln langsam heran und pustete dabei Dampf nach allen Seiten. Einige Urlauber missdeuteten den offenbar betont vorsichtigen Einzug und wagten sich mit ihren Kameras bis dicht ans Gleis, sie ignorierten sogar den Versuch des Lokführers, der sich aus dem Fenster des Führerstands beugte und sie mit energischen Handbewegungen versuchte aus dem Weg zu scheuchen. Endlich stoppte der Einzug und die

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