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da sei es nicht empfehlenswert, wenn man Nichtschwimmer sei, hatte Opa argumentiert und sich ausnahmsweise gegen Papa durchgesetzt, der es überflüssig findet, dass ein zukünftiger Hoteldirektor schwimmen kann.

      An einem nasskalten Dezembertag peitscht ein ungemütlicher Wind zwischen den Häuserschluchten hindurch, fegt letztes Laub von den Bäumen. Johannes beeilt sich von der Schule nach Hause zu kommen. Inzwischen haben sie eine Wohnung in einem Neubau, einem Wohnblock aus dunklen Klinkern, wie sie überall in den umliegenden Straßen gebaut werden, bezogen. Die neue Wohnung liegt ebenfalls in der Schlankreye und Johannes hat ein eigenes kleines Zimmer für sich. Heute ist wieder Donnerstag und er hat Klavierstunde bei Frau Weintraub. Allerdings ist seine Mutter seit einiger Zeit wieder zuhause in der neuen Wohnung und nicht im Hotel. Papa hatte einen Portier eingestellt und Wilhelmine hilft ebenfalls tüchtig mit, sodass Mama sich mehr um den Haushalt und um Opa kümmern kann, der in diesem Winter besonders schlimm unter seinem Rheuma leidet. Jedenfalls bei dem Schietwetter braucht er eine gute Ausrede, um am Nachmittag nach draußen zu dürfen. Schließlich gelingt es ihm, indem er vorgibt mit einem Schulkameraden dringend für eine Klassenarbeit lernen zu müssen.

      Die Klavierstunden sind eigentlich verdammt anstrengend, da er ja zwischendurch nicht üben kann, weil sie zuhause kein Klavier haben. Trotzdem kommt er langsam aber stetig voran. Beim letzten Mal hatte er mit Rebecca vierhändig gespielt. Sie hatten dicht beieinander auf der Klavierbank gesessen und manchmal hatten sich ihre Schultern und Arme berührt. Ein bisher nicht gekanntes Wohlgefühl hatte ihn durchströmt. Aber das hatte sicher nichts zu bedeuten. Dennoch genießt er die Zeit bei den Weintraubs, wenn sie nach der Klavierstunde in der großen Küche mit den zwei Geschirrschränken zusammensitzen und heiße Schokolade trinken.

      „Mama hat Sufganiyot gemacht“, eröffnet ihm Rebecca freudestrahlend, als er die Treppe vom Uhrengeschäft hinauf kommt. „Ja, aber die gibt es erst zum Chanukkafest“, erklärt Frau Weintraub mit strenger Stimme. Aus der Küche kommt tatsächlich ein verführerischer Duft nach Gebäck, stellt Johannes fest. „Was ist Sufgani…, wie heißt das nochmal?“, flüstert er Rebecca zu. „Sufganiyot, das sind kleine Teigkugeln mit Marmelade drin, lecker!“, schwärmt sie. „Manche nennen sie auch Ochsenaugen“, ergänzt Frau Weintraub, „aber nun mach dem armen Jungen nicht den Mund wässrig, Rebecca!“, schimpft sie ihre Tochter. Dann lächelt sie milde. „Ausnahmsweise“, flüstert sie verschworen. Sie reicht ihm eine der Teigkugeln. Und als Rebecca sie herzerweichend anblickt, bekommt sie auch eine. „Aber beißt vorsichtig hinein! Die Marmelade ist bestimmt noch sehr heiß und sagt Papa nicht, dass ihr sie heute schon bekommt.“ „Sufganiyot ist übrigens der Plural von Sufganiyah und das ist Hebräisch. Das lerne ich gerade in der Schule“, erklärt sie stolz. „Wann beginnt denn das Chanukkafest?“, fragt er Rebecca. „Morgen“ „Aber, das ist doch so etwas wie Weihnachten und Weihnachten ist erst in drei Wochen“, stellt er fest. „Nein, Chanukka ist unser Tempelfest und hat nichts mit dem Weihnachtsfest zu tun. Das Datum richtet sich nach dem jüdischen Kalender und ist manchmal schon im November in anderen Jahren erst, wenn ihr Christen Weihnachten feiert. Chanukka dauert acht Tage. Jeden Tag zünden wir eine weitere Kerze an.“ Sie weist auf einen achtarmigen Leuchter, den Chanukkia, der im Fenster der guten Stube steht. „Und da esst ihr jeden Tag die leckeren Kugeln?“ Rebecca lacht. „Nein, auch andere Sachen, zum Beispiel Latkes, das sind Kartoffelpuffer und am achten Tag, wenn alle acht Kerzen brennen, gibt es Gänsebraten, dann kommen Freunde und Verwandte zu Besuch und wir spielen Glocke und Hammer.“ „Gibt es auch Geschenke?“ „Ja, die Kinder bekommen Süßigkeiten, aber die meisten Süßigkeiten gewinne ich beim Dreidelspiel mit den anderen Kindern“, verrät sie. „Das Spiel kenne ich nicht“, gibt er zu. „Warte!“ Sie läuft in ihr Zimmer und kommt kurz darauf mit einem hölzernen Spielstein wieder. „Das ist ein Dreidel“, erklärt sie. Es handelt sich um ein vierseitiges Holzklötzchen mit einem eingesteckten Stäbchen, auf dem man den Dreidel wie einen Kreisel drehen kann. Auf den vier Seiten des Dreidels befinden sich hebräische Buchstaben. Der Buchstabe, der oben liegt, wenn der Dreidel ausgetrudelt ist, entscheidet darüber, ob etwas gewonnen oder verloren geht. Rebecca erklärt ihm die einzelnen Spielzüge ausführlich. Er zögert einen Augenblick. „Geht ihr eigentlich oft in eine Synagoge?“ „Eigentlich gehen wir nur an den Feiertagen in die große Synagoge am Bornplatz. Jüdische Feiertage gibt es allerdings eine ganze Menge: Rosch ha Schana, Jom Kippur, Sukkot…“ „Rebecca, verschone den armen Johannes“, spricht ihr Vater, der soeben die gute Stube betreten hat, „sonst will er noch konvertieren und ich weiß nicht, was seine Eltern dazu sagen würden. Außerdem, meine Tochter, hast du noch Marmelade in den Mundwinkeln, von der ich nicht hoffen will, dass sie von einem Sufganiyah stammt.“ Sie wischt sich schnell den Mund und errötet leicht. Aaron Weintraub sieht Johannes nachdenklich an. Dann fragt er, wie es seinem Großvater geht und lässt beste Genesungswünsche ausrichten.

      Später als Johannes gegangen ist und Rebecca mit ihren Eltern beim Abendessen sitzt, fragt sie ihren Vater, ob Johannes nicht auch am Sonntag zum Dreidelspielen kommen kann, wenn ihre Tante Judith und Onkel Elias mit Mirjam, Samuel und Levi zu Besuch kommen. „Rebecca, das geht nicht.“ „Papa, bitte!“ „Ich habe nein gesagt!“, macht ihr Vater unmissverständlich klar. Aber seine Tochter gibt noch nicht auf. „Warum denn nicht?“, quengelt sie. „Ich möchte solche Gespräche nicht während des Abendessens, Rebecca, du gehst sofort in dein Zimmer und schämst dich!“ Rebecca verlässt mit hochrotem Kopf den Raum. Aaron Weintraub legt klirrend das Besteck beiseite, als seine Frau beschwichtigend ihre Hand auf seinen Unterarm legt. „War das notwendig?“, fragt sie einfühlsam. „Ja, und ich möchte auch nicht, dass du den Jungen weiterhin im Klavierspielen unterrichtest!“, bestimmt er. „Aber…“ „Nichts aber, wenn seine Eltern erfahren, dass er in einem jüdischen Haus ein- und ausgeht, hätte der Junge sicher nichts zu lachen.“ Aaron Weintraubs Stimme zittert, als er das sagt. Er ist aufgeregt, wie selten. Mila Weintraub weiß natürlich von Wilhelm Maltus, dass Johannes Eltern etwas gegen den Umgang des Jungen mit ihnen haben, aber eine solche Bedeutung hatte sie dieser Abneigung bisher nicht zugemessen. „Dann rede ich mit seiner Mutter, von Frau zu Frau“, sagt sie bestimmt. „Mila! Sei bitte vernünftig. Ich mag den Jungen genau wie du und Rebecca mag ihn auch, umso schlimmer. Aber ich weiß aus verlässlicher Quelle, dass in dem Hotel von diesem Seibel immer öfter die Nationalen verkehren. Erst waren es wohl nur eine Handvoll Stahlhelmer, offensichtlich alte Kriegskameraden von dem Seibel.

      Inzwischen tauchen da auch Leute von dieser Hitler-Partei auf und schwadronieren über eine neue Zeit, die kommen wird.“ „Na und, das ist doch nichts Neues, dass die Nationalen uns nicht wohlgesonnen sind“, beschwichtigt seine Frau. „Nicht wohlgesonnen? Was die Anhänger von diesem Adolf Hitler vorhaben, ist weit schlimmer, als das Bisherige. Sie sitzen dort vor ihren Biergläsern und hetzen gegen uns Juden, geben uns für jegliches Übel in diesem Land die Schuld, verunglimpfen uns, bezeichnen uns als minderwertige Rasse und würden uns am liebsten vom Erdboden tilgen. Und der Seibel duldet diese primitive Horde nicht nur in seinem Restaurant, sondern er hofiert sie auch noch und pflichtet ihnen bei, jawohl!“ Weintraub hat sich weiter in Rage geredet. „Woher willst du das denn so genau wissen?“ Der Jacob Sternreich hat es mit eigenen Ohren gehört, als er dort einkehrte, er hat ja die Lederwarenhandlung neben dem Hotel Seibel. Er sieht die Kerle fast jeden Abend dort hineingehen. Er selbst ist schon von denen angepöbelt worden“, erklärt er niedergeschlagen. Mila streichelt ihm zärtlich über den Arm. „Aaron, mach dich nicht meschugge wegen einer Handvoll Braunhemden. Die haben doch nichts zu melden. Wir haben eine stabile Regierung. Der Hindenburg wird so etwas nicht zulassen und Reichskanzler Hermann Müller steht ebenfalls für eine ganz andere Politik. Deutschland ist dem Völkerbund beigetreten. Die Zeiten haben sich geändert.“ „Dein Wort in Gottes Ohr!“, seufzt Aaron Weintraub wieder etwas beruhigter. Rebecca schließt leise die Tür ihres Zimmers, wirft sich auf ihr Bett und weint vor bitterer Enttäuschung. Sie hatte alles mit angehört.

      Am folgenden Donnerstag besucht Johannes seinen Opa. Der sitzt in seinem Sessel und quält sich mit seinem Rheuma, das nicht besser werden will. „Bist du heute gar nicht zur Klavierstunde?“, fragt er seinen Enkel. „Nein, Familie Weintraub feiert doch das Chanukkafest, da fällt Klavier aus.“ Opa nickt bedächtig. „Und wie geht es in der Schule?“ „Gut“, antwortet Johannes wortkarg. „Gute Noten?“ „Die meisten schon“ „Na raus mit der Sprache“,

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