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Avus – knorke! Durch das zarte Grün der Kastanienbäume scheint die Morgensonne. „Unser Feld …?“ ruft Opa. „Ist die Welt!“, ergänzt Johannes. Ein Ritual zwischen den beiden. „Trotzdem, zu keinem ein Wort, verstanden? Deine Mutter reißt mir den Kopf ab, wenn das rauskommt!“, ermahnt Opa ihn ein weiteres Mal, während er in die Dammtorstraße einbiegt und kurz vor dem Stephansplatz rasant eine Straßenbahn überholt. Johannes fühlt sich wie in einer Gangstergeschichte. Zehn Minuten später erreichen sie die Landungsbrücken, wo schon Dutzende Barkassen und Hafendampfer mit qualmenden Schornsteinen bereitliegen. Eine große Menschenmenge drängt von den Pontons auf die Schiffe. Opa und Johannes müssen einen Augenblick suchen, bevor sie die richtige Barkasse finden. „Man tau, Wilhelm, geiht los!“, mahnt der Barkassenführer. Endlich sind sie an Bord. Opa wird freudig von einigen Pensionären der Reederei begrüßt. Johannes darf oben beim Schiffsführer stehen.

      Wenig später liegen sie mit zahlreichen anderen Schiffen voller Schaulustiger an Bord in gebührendem Abstand vor den Helgen der Werft. Von dort weht Marschmusik herüber. Der riesige Schiffsrumpf ragt empor, dahinter die gigantischen Helgenkrane. Gebanntes Warten. Johannes wagt nicht den Blick abzuwenden, um bloß keinen Augenblick des großen Ereignisses zu verpassen. Dann endlich scheint der Koloss sich zu bewegen, wird immer schneller und gleitet mit einer mächtigen Bugwelle ins Wasser. Vielstimmiges Dampfertuten begleitet den Stapellauf. Johannes darf die Dampfpfeife der Barkasse betätigen. Die Männer stoßen mit Bierflaschen an, auch wenn gerade das Flaggschiff der Konkurrenz vom Stapel lief. Opa reicht Johannes eine Fassbrause. „Unser Feld ist die Welt!“, ruft er ihm begeistert zu. Sie schauen noch eine Zeit lang zu, wie mehrere Schlepper die Cap Arcona an den Ausrüstungskai bugsieren, bevor die Barkasse sie zurück zu den Landungsbrücken bringt. Opa und Johannes essen dort ein Rundstück mit rotem Heringssalat. Dann zupft Opa Johannes Jacke zurecht. „Anständige Kledage ist die halbe Miete, mien Jung“, ein weiteres Lebensmotto von Wilhelm Maltus. „Opa muss nun los. Du darfst heute ausnahmsweise mal trödeln, bis die Schule aus ist. Wir sehen uns nachher im Hotel.“ Er zwinkert seinem Enkel zu und steigt in sein Automobil.

      Johannes schlendert an den Vorsetzen entlang. An den Dalben liegen mehrere große Dampfer. Ganz vorn an der Überseebrücke die etwas betagte aber sehr elegante Cap Polonio mit ihren drei hohen Schornsteinen, dahinter der brandneue HAPAG Dampfer New York, ein Stückchen weiter zwei weiße Afrikadampfer der Woermann Linie mit ihren bunten Schornsteinen. Ein imposanter Anblick. Johannes ist begeistert. Er erkennt die meisten großen Passagierdampfer schon von weitem, kann Schiffsnamen, Reederei und Tonnage der Schiffe auswendig aufsagen. Er überquert die Niederbaumbrücke und erreicht die Kehrwiederspitze. Von dort hat er einen guten Blick auf den Uhrenturm am Kaiserhöft. Auf dessen Spitze befindet sich ein Zeitball. Jeden Tag um Punkt zwölf Uhr mittags wird der Ball fallen gelassen, damit die Seeleute ihre Schiffschronometer synchronisieren können. Uhrmacher Weintraub hatte einmal erklärt, wie so eine Schiffsuhr funktionierte, aber Johannes hatte nicht alles verstanden, außerdem erhielten die meisten Schiffe das genaue Zeitsignal inzwischen per Funk, hatte Opa erklärt. Johannes wartet einige Minuten bis er den Zeitball fallen sieht. Bei den Werften heulen Sirenen zur Mittagspause. Johannes blickt sich noch einmal um. Er kann sich kaum von der imposanten Hafenszenerie losreißen, aber schließlich ist es Zeit, wie jeden Tag nach der Schule in Papas Hotel zu Mittag zu essen und anschließend unter Wilhelmines Aufsicht seine Hausaufgaben zu erledigen. Danach muss er meistens im Hotel helfen.

      Bald darauf überquert er den Rödingsmarkt und erreicht den Großen Burstah. Dort stauen sich wie üblich Fuhrwerke, Automobile, Kraftdroschken und Straßenbahnen. Opas Opel parkt direkt vor dem Hotel hinter einem riesigen Horch, der wohl einem der Gäste gehört. Über dem Eingangsportal thront ein eleganter weinroter Baldachin mit goldenem Schriftzug – Hotel Seibel. Im großzügigen Foyer weist ein roter Teppich direkt auf den Rezeptionstresen aus dunklem Mahagoni, wo Mama in ihrem hübschen Kleid die Gäste empfängt. Das Geschäft brummt. Alle 24 Zimmer sind vermietet. Nach rechts geht es zum Restaurant. Dort herrscht um diese Zeit Hochbetrieb. Viele Mittagsgäste, Beamte und Angestellte aus dem nahen Rathaus, den Banken und Kontorhäusern, schätzen die reichhaltigen, schmackhaften Gerichte im Restaurant des Hotel Seibel. Einige der Stammgäste kennt Johannes schon. Die drei lustigen Herren, die immer am Ecktisch zu Mittag essen, sind noch dort. Als sie Johannes erblicken, rufen sie ihn an ihren Tisch. „Na, mien Jung, kannste noch jonglieren?“ „Klar!“, antwortet er. Darauf hat er nur gewartet. Schnell holt er seine Bälle, läuft zurück an den Tisch und zeigt was er kann. Jonglieren mit drei Bällen hatte er sich selbst beigebracht und es war ihm leicht gefallen. Der eigentliche Trick ist, hatte er schnell herausgefunden, nicht zu versuchen einen einzelnen Ball im Blick zu behalten, sondern einfach konzentriert im konstanten Rhythmus mit eher unscharfem Blick aber hoher Konzentration die Bälle zu werfen. Inzwischen übt er mit vier Bällen, aber es den Gästen vorzuführen wagt er nicht, bevor er es richtig beherrscht. Die Herren klatschen Beifall. Sie stecken ihm ein paar Pfennige zu, auf Dauer ein einträgliches Geschäft für Johannes. Im Foyer trifft er Wilhelmine. „Haste wieder den Pausenclown gemacht?“, neckt sie ihn. Wilhelmine ist sechszehn und besucht die Hotelfachschule. „In der Küche steht dein Essen“, teilt sie ihm mit und wuschelt ihm durchs Haar, was Johannes nicht mag. Sonst versteht er sich mit seiner ältesten Schwester sehr gut. Wilhelmine ist eine plietsche Deern, meint Opa. Auguste hingegen ist mitten im schlimmsten Backfischalter, hatte er neulich aufgeschnappt, als die Erwachsenen sich nach dem Essen unterhielten. Mit Auguste hat er öfter Streit. Zuhause tritt sie mit Absicht auf die Schienen seiner Märklin Bahn und lässt ihre Sachen überall liegen. Weil sie in der Schule nicht fleißig war, arbeitet sie nun in der Hotelküche. Allerdings hatte sie sich in den letzten Monaten zu einem ziemlich hübschen Ding entwickelt und begonnen damit zu kokettieren. Die rothaarige, etwas pummelige Wilhelmine, und auch das hatte Johannes von den Erwachsenen aufgeschnappt, ist eher zu den Mauerblümchen zu zählen. Was damit gemeint war, weiß er schon. Er findet es nicht nett von seinen Eltern, so über Wilhelmine zu reden.

      Paul Seibel, ganz Hoteldirektor im eleganten Stresemann mit Weste, goldener Uhrkette und Weltkriegsorden am Revers bespricht sich mit zwei Männern in Zimmermannskluft. Sie begutachten das Treppenhaus des Hotels. Einer der Handwerker führt Messungen mit seinem Zollstock durch und trägt Maße in sein Notizbuch ein. Das Hotel soll einen Fahrstuhl für die Gäste bekommen. „Das wird bannig aufwändig, Herr Seibel. Wee möten ‘ne Menge Stahlträgers intrecken und auf ‘n Dachboden ‘n Fundament für den Maschinenraum gießen“, erklärt der Handwerker. „Weil das Treppenhaus dann enger wird, muss auf der Gebäuderückseite eine Treppe aus Eisen hin. Feuerpolizeilich vorgeschrieben!“ ergänzt der andere. „Gut, wie lange benötigen Sie für den kompletten Umbau?“, fragt Seibel und bietet den Männern Manoli Zigaretten an. Die leere, kunstvoll kolorierte Manolipackung, ein begehrtes Sammelobjekt seines Sohnes, drückt er achtlos zusammen und wirft sie in einen Papierkorb. „Bummelig, acht bis zehn Wochen, wenn allens glatt geiht, Herr Seibel.“ „Dann kalkulieren Sie mal alles durch und schicken mir einen Kostenvoranschlag!“ „Mookt wi, Herr Seibel! Die Herren verabschieden sich mit Handschlag. Paul Seibel zündet sich eine dicke Zigarre an und blickt nachdenklich nach oben, als er die Stimme seines Sohnes hört. „Kriegen wir einen Fahrstuhl, Papa?“ „Hast du etwa gelauscht?“ „Nein Papa, ich kam gerade hier vorbei, soll die Sachen nach oben bringen.“ Er trägt einen Stapel Handtücher. „Ja, wir bauen einen Fahrstuhl für die Gäste ein“, antwortet er. „Kann ich dann Liftboy werden?“ Papa blickt ihn streng an. „Mal sehen, jetzt bring erstmal die Tücher nach oben!“ Johannes steigt die Treppe hoch. Er hatte in Mamas Illustrierter gesehen, wie in einem vornehmen Hotel in Amerika die Fahrstühle von Jungen in schicker Uniform bedient werden. Da gibt es bestimmt eine Menge Trinkgeld zu verdienen.

      Wenn er nur das angrenzende Gebäude in seinen Besitz bringen könnte, denkt Paul Seibel. Dort befinden sich ein Lederwarengeschäft im Erdgeschoss und eine Werkstatt, Büros und Wohnungen in den oberen Stockwerken. Er könnte das Restaurant fast auf das Doppelte vergrößern, zwölf weitere Gästezimmer und eine geräumige Wohnung für seine Familie einbauen. Dann könnte man die Wohnung im Stadtteil Hoheluft aufgeben und hier einziehen. Aber jetzt, wo die Krise vorbei ist, würde niemand eine solche Immobilie hergeben. Außer? Ihm muss etwas einfallen, überlegt er.

      Als Johannes die Treppe herunter kommt, sieht er seinen Vater ruhelos vor den Treppen auf und ab gehen, mit grimmiger Miene. Warum

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