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den man sicherlich bald überführen werde, schon mal furchtbare Strafen androhte, fahndet die übrige Lehrerschaft aber nur verhalten nach dem Missetäter.

      An einem stürmischen Märztag lässt Hackbart einmal mehr Ernst Jüngers heroisch verklärende Texte aus dem Weltkrieg vorlesen. Wie das unbesiegte deutsche Feldheer Stahlhelm an Stahlhelm, Gewehr an Gewehr, Bajonett an Bajonett seine vaterländische Pflicht gegen einen übermächtigen Feind erfüllt hat. Kurz vor dem Sieg, aber von den Roten und den Juden ein unverzeihlicher Verrat am Vaterland begangen, eine Revolution angezettelt und in Versailles der Totenschein der deutschen Nation ausgestellt wurde. Schlussendlich habe der Jude in seiner Niedertracht dem tapfer kämpfenden deutschen Landser den Dolch in den Rücken gerammt. Johannes ist verunsichert. Wenn das stimmt … er könnte seinen Vater fragen, der war schließlich im Krieg, aber der sprach nicht über seine Erlebnisse. Er könnte Opa fragen, dessen Urteil er mehr schätzt, aber Opa war nicht im Krieg. Herr Weintraub, der war im Krieg, aber den konnte er sowas unmöglich fragen.

      In der letzten Stunde schreibt Mathematiklehrer Doktor Scharnagel, ein strenger aber bisweilen zu kluger Ironie neigender Zeitgenosse, Bruchrechnung an die Tafel, nachdem er die ideologischen Ergüsse seines Kollegen Hackbart hat von der Tafel wischen lassen, und zwar von Willi Hamester, der wie er ihm in seiner ironischen Art mitteilt, über die geeigneten körperlichen Eigenschaften zum Tafelwischen verfügt, an den geistigen müsse man noch arbeiten. Allerdings wagt niemand in der Klasse über solche Kommentare zu lachen, aus Angst, Hamester würde sich grausam rächen. Johannes kniet sich in der Mathematikstunde mächtig rein, um die zu erwartende schlechte Note in Deutsch wieder auszugleichen. Scharnagel spricht in seinem singenden Tonfall: „Man dividiert einen Bruch durch einen Bruch, indem man … Wolter?“ Zusammenzucken, ratloser Blick. „Weiterschlafen, Wolter! Seibel?“ Johannes springt auf. „Indem man den Zählerbruch mit dem Kehrwert des Nennerbruchs multipliziert.“ „Gut! An die Tafel! Vorrechnen!“ Johannes gelingt die Rechnung und bekommt eine Zwei.

      Als sie nach Unterrichtsende endlich auf den Schulhof laufen, berichtet einer der älteren Schüler, dass im Hafen seit letzter Nacht ein Großfeuer tobt. Der fast fertige Schnelldampfer Europa stehe lichterloh in Flammen. Wahrscheinlich müsse man das Schiff auf Grund setzen, weil man der Flammen nicht Herr werde bei dem Wind. Johannes und einige seiner Mitschüler beschließen spontan mit der Hochbahn zu den Landungsbrücken zu fahren und sich das Ereignis anzusehen, obwohl es zuhause, wegen der Verspätung mächtig Ärger geben wird. Am Hafen, gegenüber der Werft Blohm & Voss stehen tausende Menschen, die gebannt die Löscharbeiten an dem Ozeanriesen verfolgen. Viele blicken entsetzt, einige haben feuchte Augen, andere schwadronieren sensationslüstern. Dichter Qualm quillt aus den schwarzgrau verrußten Aufbauten. Mehrere Löschboote spritzen hohe Fontänen Wasser in das Schiff. „Den Dampfer können die man glix verschrotten, dat kreegen die nie nich wedder hin“, kommentiert ein Hafenarbeiter.

      Auch Wilhelm Maltus, der inzwischen die Europa als ein Hamburger Schiff akzeptiert, wenngleich es einer Bremer Reederei gehören wird, hatte am Vormittag von dem Unglück erfahren. Trotz seiner Schmerzen hatte er sich auf die Straße begeben und versucht sein Automobil anzuwerfen. Aber der Opel hatte den ganzen Winter am Straßenrand gestanden und springt nicht an. „So ein Schiet!“, schnauzt Maltus. Hauswart Pagel ruft aus dem Fenster seiner Wohnung im Hochparterre: „Da müssen Sie wohl erstmal Zündkerzen und Vergaser gründlich reinigen, Herr Maltus! Fleiß und Sauberkeit zahlt sich eben aus.“ „Weet ick selber, Kloogscheeter!“, gibt Maltus zurück. „Dann eben nicht, steht morgen sicher alles in der Zeitung. Ist ‘n Jammer um den schönen Dampfer“, brummt er und humpelt zurück in seine Wohnung.

      Als Wilhelmine sich am nächsten Tag mit einem Einkaufsnetz auf den Weg zum Grünhöker machen will, fragt Johannes, ob er mitkommen kann. „Klar“, antwortet sie, „kannst mir tragen helfen mit den Kartoffeln, kriegst ordentlich Muskeln von.“ Als sie draußen sind, fragt er sie: „Glaubst du, dass die Juden unseren Soldaten im Krieg einen Dolch in den Rücken gerammt haben und wir deshalb den Krieg verloren haben?“ Sie bleibt stehen und sieht ihn entgeistert an. „Woher hast du den Blödsinn denn?“ „Von Kackbart, meinem Deutschlehrer.“ „Wie heißt der?“ „Eigentlich Hackbart.“ Sie schüttelt den Kopf. „Du glaubst es also nicht?“, fragt er nochmal nach. „Nein, ich glaube es nicht“, erklärt sie grimmig und geht weiter. „Und Papa? Ob der etwas weiß? Hat der nichts erzählt, als er damals aus dem Krieg kam?“ „Papa wurde 1915 verwundet, danach war er im Lazarett. Wegen seinem Bein kam er dann nach Hause. Da war ich fünf Jahre alt. Aus dem Weltkrieg hat er nie etwas erzählt.“

      Die Ferien im Sommer 1929 sind zu Ende, Ernüchterung in der Quinta, der Oberrealschule an der Bogenstraße, und dann noch Deutsch bei Hackbart in der Frühstunde. Die 30 Jungen springen auf und nehmen militärisch stramme Haltung an, wie Hackbart es ihnen eingebläut hatte, als Peter Wolter, der Schmiere steht, von der Tür die Annäherung einer Lehrkraft meldet. Aber es erscheint nicht Hackbart sondern ein neues Gesicht. „Morgen, Jungs, ich bin Herr Zeckmann, euer neuer Deutschlehrer. Setzen! Herr Hackbart hat sich an eine andere Lehranstalt versetzen lassen“, verkündet er knapp. Einige von Johannes’ Klassenkameraden atmen auf, andere schauen enttäuscht, unter ihnen Kurt Krahn, der nicht mehr Johannes’ Freund ist. Zeckmann öffnet seine Aktentasche und entnimmt einen Stapel abgegriffener grauer Leseheftchen und verteilt sie. „Theodor Storm, der Schimmelreiter“, verkündet er. „Einer liest laut vor, alle anderen lesen den Text in ihren Heften leise mit, nach fünf Minuten, auf mein Kommando, ist der nächste mit Vorlesen dran.“ Johannes rechnet aus, dass er in dieser Stunde nicht mehr drankommen wird und geht seinen eigenen Gedanken nach, lässt die Ferien Revue passieren. Zwei Wochen lang war er mit Mutter und seinen beiden Schwestern an der Nordsee gewesen. Mit dem Dampfer Jan Molsen von den Landungsbrücken nach Cuxhaven waren sie gereist. Papa war natürlich nicht mitgekommen, der hatte zu viel im Hotel zu erledigen. An der Nordsee waren sie in einer kleinen Pension untergekommen, hatten in den Wellen getobt, lange Wattwanderungen unternommen und tolle Sonnenuntergänge gesehen. „Du bist ja braun wie `n Neger!“, hatte Kolonialwarenhändler Steincke gelacht und ein paar Dauerlutscher aus dem großen Bonbonglas spendiert, als Johannes zurück in Hamburg war. Aber die Sommerferien setzten sich scheinbar endlos fort. Von morgens bis abends war er mit den Jungen aus der Nachbarschaft am Isebekkanal und in den umliegenden Gärten und Grünanlagen unterwegs gewesen. Sie hatten versucht ein Floß zu bauen, um auf dem Isebekkanal zu fahren, wie Huckleberry Finn auf dem Mississippi. Johannes hatte seinen Freunden einiges aus dem Roman von Marc Twain berichtet, welchen er inzwischen durchgelesen hatte. Leider geriet das Floß aus Mangel an geeigneten Baumstämmen zu klein und war nach wenigen Metern zerbrochen und gekentert. An anderen Tagen hatten sie stundenlang Murmeln gespielt, um leere Manoli-Zigarettenschachteln, jene begehrten Sammelobjekte. Er hatte neue Freunde gefunden. Zu Rebecca hatte er keinen Kontakt mehr, was ihn immer noch mit Wehmut erfüllt. Opa verfolgt die Schiffbauaktivitäten der großen Reedereien. Inzwischen war der Schnelldampfer Bremen in Dienst gestellt und hatte auf seiner Jungfernfahrt nach New York erwartungsgemäß das Blaue Band gewonnen. Das ausgebrannte Schwesterschiff Europa liegt im Schwimmdock bei Blohm & Voss und wird repariert. Wilhelm Maltus ist hochzufrieden mit dieser Entwicklung, obwohl es Bremer Schiffe sind. Johannes wird aus seinen Gedanken gerissen, als die schrille Pausenglocke schellt.

      In den folgenden Tagen kursieren Gerüchte auf dem Schulhof, dass Hackbart die Lehranstalt wohl nicht ganz freiwillig verlassen hatte. Einflussreiche Eltern sollen bei der Schulbehörde angefragt haben, ob die pädagogischen Fehltritte und politischen Anwandlungen des Herrn Hackbart tatsächlich dem Geist einer höheren Lehranstalt entsprechen, zudem hatte es wohl eine Beschwerde wegen der übermäßig harten Züchtigungen eines Schülers in der Turnstunde gegeben. „Welche Weichlinge wohl gepetzt haben?“, tönt Willi Hamester, alias Hammer. Kurt Krahn glaubt zu wissen, dass es die Eltern von Max Heylbrink waren, dem Hackbart in der Turnstunde den Arm ausgekugelt hatte. „Max ist doch selbst ein halber Jude!“, hatte Kurt durch den Klassenraum posaunt.

       New York, September 1939

      Zwei weitere Nächte hatte Johannes Seibel in der Massenunterkunft für obdachlose Immigranten verbracht und in beiden Nächten hatte man versucht ihn zu bestehlen. Hätte er seine letzten Dollarnoten und seine Uhr nicht dicht am Körper getragen, wäre er jetzt wirklich völlig

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