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Abgesprungen. Thomas Schaefer Clemens
Читать онлайн.Название Abgesprungen
Год выпуска 0
isbn 9783347077164
Автор произведения Thomas Schaefer Clemens
Жанр Контркультура
Издательство Readbox publishing GmbH
Thomas Clemens
Abgesprungen
Roman
© 2020 Thomas Clemens
Umschlag, Illustration: Steffen Clemens
Umschlagfoto aus Bestand des Autoren
Website: thomasclemens.art
Verlag & Druck: tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359
Hamburg
ISBN | |
Paperback: | 978-3-347-07715-7 |
e-Book: | 978-3-347-07716-4 |
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Alle Rechte der fotomechanischen und elektronischen Wiedergabe vorbehalten.
Namensgleichheiten mit tatsächlich existierenden Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt. Die Handlung ist, abgesehen von den historisch verbürgten Ereignissen und Persönlichkeiten, erfunden.
New York, Pier 86, an Bord der Bremen, 30. August 1939, 01:48 Uhr, nachts
„Ich bin verrückt, vollkommen verrückt!“, durchfährt es Johannes Seibel. Die Mannschaftspromenade des riesigen Schnelldampfers Bremen schimmert im fahlen Licht der nächtlichen Bordbeleuchtung. Eine salzige Brise lässt die Nähe des Atlantiks erahnen. Die Geräusche der Nacht, leise Barmusik von der Normandie, dem französischen Ozeanriesen der am Nachbarpier liegt, das dumpfe Wummern einer Hilfsmaschine tief im Bauch der Bremen, das entfernte Rauschen aus den Straßenschluchten New Yorks.
Seibel beugt sich über die Bordwand. Das schwarze Wasser des Hudson schimmert in der Tiefe. Sein Herz schlägt wie ein Dampfhammer. Er spürt eine leichte Übelkeit. Die offene Seite der Mannschaftspromenade hier auf dem achterlichen C-Deck ist der Wasserlinie am nächsten. Acht bis zehn Meter mögen es trotzdem sein. Außerdem ist es die einzige Stelle, die von den oberen Decks nicht eingesehen werden kann. Schemenhaft heben sich die gemeinsam genutzten Abfertigungsgebäude der HAPAG und des Norddeutschen Lloyd ab vom surreal wirkenden Nachtlicht Manhattens. Einen günstigeren Augenblick wird es nicht geben und dennoch zögert er. Verdammt, er muss das Schiff verlassen und dieses ist vermutlich die allerletzte Gelegenheit und der einzig mögliche Weg.
Spätestens morgen wird die Bremen den New Yorker Hafen verlassen können, ohne Passagiere, lediglich knapp 1000 Mann Besatzung sind auf dem Schiff. Auf der Passage von Bremerhaven hierher waren fast 1800 Passagiere, überwiegend Amerikaner, an Bord. Unter ihnen viele Diplomaten und Geschäftsleute, die offensichtlich in letzter Minute Europa verließen. Europa, wo höchste Kriegsgefahr herrscht, wie er sich aus den mitgehörten Gesprächen zahlreicher Passagiere und der angespannten Atmosphäre an Bord unschwer zusammenreimen konnte. Dass es Krieg geben würde, war auch vorher kein Geheimnis mehr, aber nun stand er offensichtlich unmittelbar bevor. Die Besatzung hatte diesmal keinen Landgang in New York bekommen. Bewaffnete Bord-SS sichert die Gangway rund um die Uhr. Tagsüber waren zusätzlich Beamte der amerikanischen Zollbehörde auf der Pier. Keine Chance das Schiff zu verlassen. Wenn in Europa tatsächlich ein Krieg ausbricht, ist es ohnehin vorbei mit dem Glanz der Atlantikdampfer und er würde zur Kriegsmarine eingezogen werden. Alles sieht danach aus, als ob dies die vorläufig letzte große Fahrt der Bremen sei, denn Kapitän Ahrens wollte lediglich Brennstoff und Proviant bunkern und auf direkten Befehl aus Berlin so schnell wie möglich zurück nach Bremerhaven, hatte man der Mannschaft mitten auf dem Atlantik mitgeteilt. Schon zwei Tage lang wird die Bremen hier festgehalten und auf Waffen durchsucht. Ärgerlich für die Schiffsführung, für ihn aber ausnahmsweise von Vorteil.
Wieder blickt Seibel an der Bordwand herunter, lauscht nach verdächtigen Geräuschen, tastet nach dem wasserdicht verpackten Bündel unter seiner Jacke. Er muss sich jetzt entscheiden: Freiheit gegen Heimat! Ein Scheideweg im Leben, an dem, wie so oft, kein Wegweiser steht. Er steigt über die Bordwand, steht einen Augenblick mit den Schuhspitzen auf der Stahlkante außenbords mit dem Rücken zum Wasser. Das wasserdicht verschnürte Segeltuchpäckchen, das er schwimmfähig gemacht hat, hält er in der linken Hand. Er blickt über die Schulter hinüber zur Pier. 30 Meter müsste er schwimmen, bis zu der stählernen Leiter, die er jetzt in der Dunkelheit nicht erkennen kann, aber bei Tageslicht gesehen hatte. Schritte! Stimmen! Jemand kommt den Niedergang vom B-Deck herunter. Johannes Seibel lässt das Segeltuchpäckchen fallen, stößt sich ab und zieht im Fallen die Beine an den Körper, Kinn auf die Brust – zur Kugel zusammenrollen, so übersteht man einen Sprung aus großer Höhe ins Wasser am besten, hatte er gehört. Der Aufprall auf die Wasseroberfläche ist härter als er gedacht hat. Viel tiefer taucht er ins dunkle Wasser, als er erwartet hat. Er rudert mit den Armen, versucht an die Wasseroberfläche zu kommen, aber seine mit Wasser vollgesogene Kleidung und das schwere Bündel unter seiner Jacke verzögern das Auftauchen. Die Luft wird knapp. Um ihn herum - nur schwarzes Wasser, keine Orientierung. Todesangst und wirre Gedanken durchzucken ihn. Er denkt an Rebecca, vor seinem inneren Auge erscheint ihr Gesicht, ihr trauriger Blick, den sie ihm beim letzten Abschied zugeworfen hatte.
Hamburg, Oktober 1923
Johannes steigt mit Opa Maltus aus der Elektrischen. Er hoppst an Opas Hand, obwohl sie schon den halben Tag auf den Beinen sind. Die große Runde, wie Opa immer sagt. Mit der Hochbahn von der Station Hoheluftbrücke zu den Landungsbrücken, Schiffe gucken im Hafen. Die Albert Ballin, das Flaggschiff der HAPAG, liegt an den Dalben bei den Vorsetzen, ein riesiger Dampfer mit zwei Schornsteinen, der bis nach New York fährt. Opa hatte früher bei der HAPAG Reederei als leitender Angestellter gearbeitet, und sogar den Generaldirektor Albert Ballin persönlich gekannt, weiß Johannes. Aber der war schon lange tot. Ein feiner Mensch sei das gewesen. Richtig, dass sie so ein schönes Schiff nach ihm benennen, hatte Opa beteuert.
Nachdem sie eine Zeit lang beim Bäcker anstehen mussten und dann für hundert Millionen Mark ein Brot gekauft hatten, waren sie wie jeden Tag zum Mittagessen in das Hotel von Papa und Mama am Großen Burstah gelaufen. Es gab dünne Suppe, wie meistens. Schließlich fuhren sie mit der Elektrischen zurück zum Grindelberg. Johannes fährt lieber mit der Elektrischen als mit der Hochbahn. Das dauert zwar viel länger, aber dafür fährt die Straßenbahn nicht durch dunkle Tunnel, in denen sich Johannes immer ein wenig fürchtet, was er Opa aber nicht sagt. Außerdem ist es spannender wenn die Linie 22 quietschend und bimmelnd durch enge Straßenschluchten rumpelt und man aus dem Fenster sehen kann, was auf den Straßen und Plätzen vor sich geht. Viele Geschäfte sind allerdings geschlossen, manche mit Brettern vernagelt. Nur einzelne Fuhrwerke sind unterwegs und noch seltener Automobile. Vor den wenigen Läden, die geöffnet haben, stehen Menschenschlangen nach Lebensmitteln an. Bezahlt wird mit ganzen Bündeln an Papiergeld. Viele Bettler sind unterwegs, oft Männer, die der Krieg gezeichnet hatte, die ein Holzbein haben, wie Papa oder nur einen Arm oder eine Augenklappe tragen oder gar keine Beine mehr haben, wie der arme Bettler am Gänsemarkt, der dort auf einer Holzplatte mit Rädern hockt. Johannes ist zu jung, um andere Zeiten zu kennen und alles zu verstehen was seine Augen sehen, aber allmählich beginnt er zu begreifen, dass es mal bessere Zeiten gegeben haben muss. Opa erzählt ja oft, wie es vor dem Krieg gewesen war, als Deutschland noch einen Kaiser hatte.
Bevor sie nach Hause gehen, wollen sie noch zum Uhrengeschäft Weintraub, ein Grund weshalb Johannes so aufgeregt ist. Bei den Weintraubs gibt es manchmal süßes Gebäck oder ein Glas Brause und er darf mit Rebecca spielen. Rebecca ist etwas größer als er und geht in die erste Klasse der israelitischen Töchterschule an der Carolinenstraße. Darauf ist sie mächtig stolz. Rebecca ist nett, ganz anders als die anderen Mädchen, die er kennt, vor allem Auguste und Wilhelmine, seine großen Schwestern, Auguste ist zehn und Wilhelmine zwölf. Manchmal sind sie ziemliche Ziegen.
Die Weintraubs wohnen auf der Harvesterhuder Seite des Grindelbergs,